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Johannes Brantl, Hans-Georg Gradl, Mirijam Schaeidt, Werner Schüßler

Das Gebet

„die Intimität der Transzendenz“

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2014 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Inhalt

Vorwort

WERNER SCHÜSSLER

Das Gebet – zwischen Konkretheit und Unbedingtheit Gottes.
Eine philosophische Annäherung

HANS-GEORG GRADL

Modell und Maßstab.
Das Vaterunser als Gebetsschule

JOHANNES BRANTL

„Aufmerksamkeit in ihrer reinsten Form.“
Systematisch-theologische Überlegungen zum Gebet

MIRIJAM SCHAEIDT

„Dein Sehnen ist dein Gebet.“
Gebet als Ausdruck existentieller Sehnsucht nach dem Ewigen

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Das Gebet ist der Grundakt des Glaubens schlechthin, der Gott gegenwärtig macht und ohne den dieser letztlich leer und abstrakt würde. In diesem Sinne leistet das Gebet, wie Viktor E. Frankl es einmal ausgedrückt hat, „die Intimität der Transzendenz“.

Weshalb aber sollte man das Gebet mit theoretischen Überlegungen belasten? Riskiert man damit nicht, dass die vertrauende Unmittelbarkeit verschwindet? Mit anderen Worten: Ist Reflexion über den Gebetsvollzug überhaupt förderlich für den Glauben?

Dazu ist zu sagen: Reflexion steht nicht in einem grundsätzlichen Gegensatz zur Erfahrung, Beten entbindet nicht davon, sich über das Gebet Gedanken zu machen, denn das Gebet ist immer auch in der Gefahr, magisch verstanden und damit verzerrt zu werden.

Dem vorliegenden Band geht es in diesem Sinne darum, unter einem philosophischen, einem biblischen, einem systematisch-theologischen und einem spirituellen Aspekt sich dem Gebet anzunähern.

Werner Schüßler geht in seinem Beitrag „Gebet – zwischen Konkretheit und Unbedingtheit Gottes“ den philosophischen Implikationen des Gebetsverständnisses nach, die dem Beter oft nicht bewusst sind. Was heißt es, wenn wir von einer Gebetserhörung sprechen? Dass das nicht im Sinne eines einfachen Kausalschemas zu deuten ist, liegt auf der Hand, denn dadurch würde Gott unseren Wünschen und Bitten untergeordnet werden – und dann wäre er nicht mehr Gott. Das, um was es beim Beten letztlich geht, ist eine Veränderung unseres Verhältnisses zu Gott. In diesem Sinne könnte man sagen, dass Beten immer „hilft“.

In seinem Beitrag „Modell und Maßstab. Das Vaterunser als Gebetsschule“ geht Hans-Georg Gradl den verschiedenen Formen und der Bedeutung des Gebets im Neuen Testament nach. Wie keine andere Frömmigkeitsform ist das Gebet im Leben, Wirken und beim Sterben Jesu, aber auch im Leben der ersten Jünger und der jungen Kirche präsent. Die Christen lernen aber nicht nur von Jesus das Gebet, sondern sie lernen auch, zu Jesus zu beten, und das macht einen entscheidenden Paradigmenwechsel aus. Viel von dem, was im Neuen Testament „Gebet“ heißt und meint, lässt sich am „Vaterunser“ verdeutlichen. Insgesamt wird so deutlich, dass es dem Gebet im Neuen Testament letztlich nur um eine „Funktion“ geht, nämlich um das In-Beziehung-Treten mit dem lebendigen Gott.

Johannes Brantl beschäftigt sich in seinem Beitrag „Aufmerksamkeit in ihrer reinsten Form“ mit systematisch-theologischen Überlegungen zum Gebet. Das Gebet wird zu Recht immer wieder mit dem Phänomen der Aufmerksamkeit in Verbindung gebracht. Das macht schon deutlich, dass unsere heutige Kultur das Beten erschwert, denn wir leben in einer Unkultur der Zerstreuung. Mit Simone Weil sucht Johannes Brantl deutlich zu machen, dass der Mensch gerade heute wirklich bestehen und umfassend gelingend nur leben kann, wenn er ein aufmerksam Betender bzw. ein betend Aufmerksamer wird. Beten heißt in diesem Sinne „Gott in allen Dingen finden“, das heißt, auch inmitten der Unscheinbarkeit der Alltagswelt.

In ihrem Beitrag „Dein Sehnen ist dein Gebet“ sucht die Benediktinerin Mirijam Schaeidt das Gebet „als Ausdruck existentieller Sehnsucht nach dem Ewigen“ zu deuten. Hinter aller Sehnsucht, die sich in jedem Gebet kundgibt, steht letztlich der Wunsch, geliebt zu werden und zu lieben. Dieser Wunsch findet aber seine wirkliche Erfüllung allein in der Begegnung mit dem Gott der Liebe, wie ihn das Christentum lehrt. Anhand der Psalmen und der Lectio Divina führt Sr. Mirijam in ein richtig verstandenes Beten ein, das nie als Leistung zu verstehen ist.

Der Band macht deutlich, dass es, wenn man über das Beten spricht, immer auch schon um das „Wie“ des Betens geht. Von daher führen die vorliegenden Überlegungen immer schon per se zu einem vertieften Verständnis des Gebets und damit zu einer tieferen Gebetspraxis selbst.

Trier, im Januar 2014

Johannes Brantl, Hans-Georg Gradl,
Mirijam Schaeidt, Werner Schüßler

WERNER SCHÜSSLER

Das Gebet – zwischen Konkretheit und Unbedingtheit Gottes

Eine philosophische Annäherung

„Man kann Gott nicht nur bloß durch den Geist sehen. Das ist immer noch ein nur erdemonstrierter Gott, mit nur formaler Realität. Gott als substantiale Realität sieht man erst durch die Liebe, die im Gebet beginnt, im Gebet sich steigert und im Gebet sich vollendet.“

Peter Wust1

1. Hilft beten? – Eine Hinführung

„Hilft beten?“ – so lautet der Titel eines Sammelbandes, der jüngst in der Reihe „Theologie Kontrovers“ im Herder-Verlag erschienen ist und in dem fünf Theologen sich zu den „Schwierigkeiten mit dem Bittgebet“ – so der Untertitel – äußern.2 Der Titel „Hilft beten?“ ist wohl bewusst etwas provokant formuliert und spaltet sicherlich die Gemüter, denn der eine wird vielleicht aufgrund einer schrecklichen Leidsituation oder im Angesichts einer tödlichen Krankheit auf diese Frage antworten: „Jetzt habe ich so viel gebetet, und es hat doch nicht geholfen“, während ein anderer vielleicht sagen wird: „Das Beten hat geholfen.“ Votivtafeln an Wallfahrtsorten oder auch Gebetserhörungen im Zusammenhang mit Verfahren von Selig- oder Heiligsprechungen legen hierfür reichlich Zeugnis ab. Das einfach als Volksfrömmigkeit abzutun, wird diesem Phänomen sicherlich nicht gerecht, scheinen sich hier doch authentische religiöse Erfahrungen auszusprechen.

Und doch scheinen diese Antworten – auf der einen Seite ein klares Nein, auf der anderen ein klares Ja – auf den ersten Blick vielleicht doch etwas zu einfach zu sein; und damit sind wir auch schon mitten im Thema. Denn was heißt in diesem Zusammenhang überhaupt „helfen“, oder theologisch ausgedrückt: „erhören“ – im Sinne von: Hat Gott das Gebet erhört bzw. nicht erhört? Daran schließt sich sogleich die weitere Frage an: Lässt sich dieses Helfen bzw. Erhören oder dieses Nicht-Helfen bzw. Nicht-Erhören überhaupt „objektiv“ feststellen? Und wenn ja, was heißt dann in diesem Zusammenhang „objektiv“? Anders formuliert: Geht es in religiösen Dingen überhaupt um „Objektivitäten“? Damit soll nicht gemeint sein, dass religiöse Dinge rein subjektiv, d.h. letztlich eine Projektion oder Illusion wären, sondern dass diese einen ganz anderen Charakter haben wie das, was wir gewöhnlich mit dem Begriff „objektiv“ verbinden.

Gott „gibt“ es eben nicht in dem Sinne, wie es diesen Stein, diese Pflanze oder diesen Menschen „gibt“. Und doch scheint Gott für den religiösen Menschen ohne Zweifel Wirklichkeitscharakter zu haben, ja, er ist die entscheidende Wirklichkeit in seinem Leben. Ludwig Wittgenstein (1889-1951) hat in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hingewiesen, dass Glaubenssätze nicht wie historische oder empirische Sätze zu behandeln sind.3 Das heißt, religiöse Dinge sind nicht einfach einzuordnen in unser Raum-Zeit-Schema; sie liegen vielmehr „quer“ dazu. Und doch kommen sie in diesem Raum-Zeit-Schema „zur Erscheinung“.

Nun könnte man aber mit Hans Schaller fragen: „Weshalb das Gebet, das im eigenen Vertrauen schwingt und davon getragen ist, mit metaphysischen und theologischen Gedanken belasten? Ist das damit gewagte Risiko überdies nicht zu groß, daß mit solchem Hinterfragen die vertrauende Unmittelbarkeit geschmälert wird oder gar verschwindet?“4 Um es mit einem Satz zu sagen: Ist Reflexion für den Gebetsvollzug überhaupt förderlich? Natürlich gibt es immer auch das schlichte Gebet, „das auf eine unreflektierte Weise mit seinen eigenen Gebetserfahrungen zurecht kommt“5 – wie es immer auch den schlichten Glauben gibt. Zum Problem werden Glaube und Gebet erst dann, wenn der naive, ungebrochene Glaube im wahrsten Sinne des Wortes „frag-würdig“ geworden ist. In der Theologie aber müssen Glaube und Gebet hinterfragt werden, denn sonst wäre sie nicht das, was der Name besagt, nämlich logos von theos: „Rede von Gott“.6

Was für den Glauben insgesamt gilt, hat auch sein ungeteiltes Recht für das Gebet, das religiöse Grundereignis schlechthin7: Hier wie dort wäre es falsch, eine einfache Entgegensetzung von Philosophie und Theologie bzw. Religion zu statuieren, Reflexion in Gegensatz zu Erfahrung zu denken. Das käme einer Verkürzung der Wirklichkeit gleich, wenn auch ein solches vereinfachendes Denken in reinen Alternativen durch seine logische Konsequenz einen gewissen Reiz ausübt. Aber am Maßstab der dem Menschen gestellten Aufgabe bedeutete dies ein Ausweichen; immer sind die fixierten Einseitigkeiten ein Versagen.

Rechtes Beten kommt nicht ohne philosophische Einsichten aus, seien sie nun expliziter oder auch bloß impliziter Natur, wobei letzteres zumeist der Fall ist. Alfred de Quervain wehrt sich in diesem Zusammenhang zu Recht gegen eine Entgegensetzung zwischen einer „Laienfrömmigkeit“ auf der einen Seite und dem „Wissen des Theologen“ auf der anderen: „Es ist ein gefährlicher Irrtum, zu meinen, daß das, was der theologisch ungeschulte Christ im Gebet vollzieht und was er über das Gebet denkt, ohne weiteres aus Gott ist, während das Nachdenken des Theologen gott-lose Wissenschaft sei.“8 Der Philosoph bringt dem Beter nicht etwas bei, was diesem unbekannt wäre; „er macht ihm nur etwas bewußt, was im Vollzug seines Betens, vor allem des Bittgebets, immer schon impliziert war“.9

Dass philosophisches und theologisches Denken über das Gebet dem Lebensvollzug gegenüber immer nur eine sekundäre Aufgabe sein kann, steht außer Frage. Und doch entbindet das Beten nicht davon, sich über das Gebet Gedanken zu machen. Denn „das Beten wurde nicht zuletzt deshalb dem Denken fremd und das Denken dem Beten feind“, schreibt Gerhard Ebeling, „weil über das Beten – nicht etwa zu viel, sondern – zu wenig gedacht worden ist.“10

Allerdings ist es heute – entgegen früheren Zeiten – kaum noch üblich, das Gebet zum Thema philosophischer Überlegungen zu machen.11 Dass das so ist, hat mit dem Namen des großen deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) zu tun. Es scheint fast, als ob sich in Bezug auf die Gebetsproblematik – wie im Bereich der klassischen natürlichen Theologie insgesamt – das Kantische Erbe immer noch negativ bemerkbar macht, können wir doch in Kants Religionsphilosophie, der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von 1793 lesen: „Das Beten [...] ist ein abergläubischer Wahn (ein Fetischmachen); denn es ist ein bloßes erklärtes Wünschen, gegen ein Wesen, das keiner Erklärung der inneren Gesinnung des Wünschenden bedarf, wodurch also nichts getan, und also keine von den Pflichten, die uns als Gebote Gottes obliegen, ausgeübt, mithin Gott wirklich nicht gedient wird.“12 „Dieser Satz Immanuel Kants“, schreibt Wilhelm Weischedel, „drückt aufs schroffste die Bedenken aus, die die Philosophen gegen das Gebet erheben.“13 Das abergläubische Wesen des Gebets sieht Kant in dem Versuch des Menschen, „auf Gott zu wirken“. Es ist für ihn „ein ungereimter und zugleich vermessener Wahn, durch die pochende Zudringlichkeit des Bittens zu versuchen, ob Gott nicht von dem Plane seiner Weisheit (zum gegenwärtigen Vorteil für uns) abgebracht werden könne“.14 Verstände sich das Gebet wirklich nur als eine Möglichkeit, auf Gott zu wirken, so hätte Kant recht; in diesem Punkt, also der Einordnung des Gebets in das mechanistisch verstandene Kausalschema, treffen sich sowohl theologische Kritik als auch allgemeine Religionskritik a- oder antitheologischer Art. Doch macht dies gerade nicht das Wesen des Betens aus, es ist dies vielmehr eine Zerrform. Aber hier gilt wie überall: Abusus non tollit usum; der Missbrauch hebt den rechten Gebrauch nicht auf. „Das Faktum einer weit verbreiteten pervertierten Form des Bittgebetes ist noch keine Norm dafür, was das Bittgebet ist und sein kann.“15

Damit ist auch schon der zentrale Rahmen abgesteckt, in dem die Philosophie das Gebet normalerweise behandelt – nämlich kritisch. Mit der „philosophischen Gebetskritik“ ist zumeist ein weiterer Gesichtspunkt verbunden: nämlich die Ausbildung eines „philosophischen Gebetsideals“, sei dies nun ethischer Natur, wie das bei Kant der Fall ist, oder metaphysischer, wie bei dem Existenzphilosophen Karl Jaspers (1883-1969), wenn dieser das Gebet nur noch „als Besinnung in philosophischer Meditation“ gelten lassen möchte.16 Friedrich Heiler schreibt hierzu mit Recht: „Das positive Gebetsideal, das die philosophische Kritik dem lebendigen Beten gegenüberstellt, erscheint dem religiösen Menschen [...] als ein kahles Abstraktionsprodukt, ein kümmerliches Surrogat [...]. Das Gebet des Philosophen ist kein realer, dramatischer Verkehr, kein Umgang mit Gott, kein persönliches Verhältnis, keine lebendige Gemeinschaft mit ihm.“17

Es hat aber letztlich desaströse Konsequenzen, wenn das personale Element ausgeklammert wird, scheint es dem Gebet doch gerade wesentlich um ein Ich-Du-Verhältnis zu gehen, in dem die religiöse Erfahrung sich ausdrückt – und nicht um ein „betendes Denken“18. Doch keine Gebetskritik des philosophischen Denkens war in der Lage, das Gebet, dieses „zentrale Phänomen der Religion“19, aus der Welt zu schaffen. Und auch kein Gebetsideal des philosophischen Denkens konnte das religiöse Gebet ersetzen. Denn das Gebet ist – wie Karl Heim es einmal treffend formuliert hat – „die Urfunktion unseres Geistes“.20

An der philosophischen Gebetskritik Kants wird noch ein weiterer Punkt deutlich: Dass nämlich im Bittgebet geradezu sämtliche Probleme des Gebetes kulminieren.21 Man macht es sich nämlich zu einfach, wenn man aus diesem Grunde gerade auf diese Form des Gebetes verzichten möchte,22 erweisen sich doch, wie Carl Heinz Ratschow zu Recht meint, die verschiedenen Weisen des Betens – Dank, Fürbitte, Anbetung – immer wieder als Bittgebet.23 Mit Recht wurde das Bittgebet deswegen – ähnlich wie auch das Theodizeeproblem – als „Ernstfall“24, „Testfall“25 oder „Probe des Glaubens“26 bezeichnet.

Im Folgenden werde ich zuerst nach den tragenden Pfeilern der Möglichkeit und Sinnhaftigkeit des Gebets fragen, wobei hier zwei Aspekte zu berücksichtigen sind: einmal ein metaphysischer bzw. ontologischer (2), sodann ein erkenntnistheoretischer (3). Danach werde ich mich dem Gebet unter einem religionsphilosophischen Aspekt zuwenden, nämlich der grundsätzlichen Spannung zwischen Konkretheit und Unbedingtheit des religiösen Anliegens (4), bevor ich auf die Möglichkeit einer mystischen Überhöhung des Gebets zu sprechen kommen werde (5), um dann in einem abschließenden Resümee noch einmal auf die zu Anfang formulierte Frage: „Hilft beten?“ zurückzukommen (6).27

2. Metaphysische Rahmenbedingungen sinnvollen Betens

Die Problematik des Bittgebets steht im größeren Kontext der Frage nach dem Handeln Gottes und damit verbunden der Frage nach dem Verhältnis von göttlicher Vorsehung und menschlicher Freiheit. Verschiedene Autoren sehen die Gebetsproblematik zudem auch eng mit dem sog. Theodizeeproblem oder der Hiobfrage verwoben.28 Bei dieser Frage geht es um das prinzipielle Problem, wie die Vorstellung eines allgütigen und allmächtigen Gottes mit der Erfahrung von Bösem und Leid in der Welt zu vereinbaren ist. Angewandt auf die Gebetsproblematik geht es dann um die Frage, warum Gott die Bitten der einen erhört, die der anderen aber nicht? Ich halte diese Fragestellung aber nicht für sonderlich spezifisch für das Gebet, stellt sie sich doch in einem größeren Kontext, wenn sie sich auch in Bezug auf das Bittgebet noch einmal verschärfen mag bzw. hier drastisch vor Augen geführt wird. Das Theodizeeproblem stellt sich ja schon, wenn – um mit Dostojewski zu sprechen – ein einziges unschuldiges Kind sterben muss, oder, um mit Max Scheler zu sprechen, wenn wir versehentlich einen Wurm zertreten.29

Nun haben die Überlegungen zum Handeln Gottes über die Jahrhunderte hinweg ganze Bibliotheken gefüllt, und ich kann im Rahmen dieser Überlegungen darum nicht in extenso auf diese Fragestellung eingehen, die theologisch auch recht kontrovers diskutiert wird. Aber da das zitierte Kant-Wort im Kontext dieser Fragestellung steht, muss hierauf doch kurz eingegangen werden, was ich im Anschluss an ein Wort von Meister Eckhart, dem großen mittelalterlichen Mystiker, tun werde. Doch zuvor noch einige grundsätzliche Überlegungen.

Wie ich Gott denke, das hat entscheidende Konsequenzen für das Gebetsverständnis. Die klassische Metaphysik und Theologie haben immer die Absolutheit Gottes betont, das heißt, sie haben einen „werdenden Gott“ abgelehnt mit dem Argument, dass ein solcher nicht der Grund der Welt sein kann, deren Charakteristikum ja gerade das Werden, d.h. die Veränderung ist. Nur ein Gott, der absolut vollkommen ist, der somit keine Potentialitäten aufweist, sondern reine Aktualität, actus purus, ist, kann wirklich Gott sein, ansonsten wäre er selbst ein Stück Welt. Auf die Gebetsproblematik angewandt, heißt dies – um mit Ludger Oeing-Hanhoff zu sprechen: „Kann man sich mit Bittgebeten an einen Gott wenden, der nicht allmächtig ist, der keine Wunder wirken kann? Andererseits fragt es sich aber auch, ob man sinnvoll zu einem Gott beten kann, der schon alles vorherbestimmt hat und in seiner Ewigkeit und Unveränderlichkeit als der ‚unbewegte Beweger‘ doch durch nichts zu bewegen ist.“30

Das Wort von der Unveränderlichkeit wird nicht selten von Theologen missverstanden – als würde es sich hierbei um einen „statischen“, letztlich „apathischen“ Gott handeln, der von dem „dynamischen“ Gott der Bibel weit entfernt sei.31 Dabei hat Aristoteles, auf den der Begriff sachlich zurückgeht, schon ausdrücklich gesagt, dass der „unbewegte Beweger“ reine Lebensfülle impliziert.32

Es finden sich aber auch Stimmen auf philosophischer Seite, die als Voraussetzung der Sinnhaftigkeit des Bittgebets ein Gottesbild vertreten, das sich von der Lehre der Unveränderlichkeit verabschiedet. In diesem Sinne können wir in der Schrift des Utrechter Religionsphilosophen Vincent Brümmer „Was tun wir, wenn wir beten? Eine philosophische Untersuchung“ lesen: „Wenn seine [sc. Gottes] Absichten von Ewigkeit an unveränderlich festgesetzt sind, dann wäre er weder in der Lage, auf das, was wir tun oder fühlen, zu reagieren, noch auf die Bitten, die wir an ihn richten. Man könnte von ihm nicht sagen, daß er irgend etwas tut, weil wir ihn darum gebeten haben. In der Tat wäre ein absolut unwandelbarer Gott einem neuplatonischen Absoluten ähnlicher als dem personalen Wesen, als das ihn die Bibel darstellt, und deshalb nicht die Art von Wesen, mit dem wir ein personales Verhältnis haben könnten.“33 Brümmer plädiert demgegenüber dafür, Gott „in einem weniger absoluten Sinn für unwandelbar“34 zu halten: „Gott ist in einigen Hinsichten unveränderlich – in seiner Güte, in seiner Liebe und in seiner Treue –, aber er verändert sich in anderen Hinsichten. Wenn Gott sich in keiner Hinsicht verändern könnte, wäre er keine Person.“35 Brümmer koppelt also die Veränderlichkeit Gottes an sein Personsein: Gott kann sich nach Brümmer verändern, „z.B. indem er wirklich auf kontingente Ereignisse und menschliche Handlungen reagiert“.36 Lassen wir momentan die Frage einmal beiseite, wie Gottes Personsein zu denken ist und ob dieses Personsein notwendig Veränderlichkeit impliziert. Zieht eine solche Konzeption, wie sie Brümmer vorschlägt, Gott nicht in die Dimension der Zeitlichkeit, damit verbunden aber in die der Endlichkeit? Schließen sich Gottes Unveränderlichkeit auf der einen und sein vom Beter erwartetes Reagieren auf der anderen Seite wirklich aus? Die klassische Tradition hat dies jedenfalls nicht so gesehen. Sie hat sowohl an der Unveränderlichkeit Gottes als auch an der Sinnhaftigkeit des Bittgebetes festgehalten. Es muss also nach Lösungen gesucht werden, die an der Unveränderlichkeit Gottes festhalten, gleichzeitig aber auch die Sinnhaftigkeit des Bittgebets37 erweisen können. Die Frage: Wie ist Gott zu denken, damit das Bittgebet sich als sinnvoll erweist, ist darum schon als solche falsch gestellt. Vielmehr muss gefragt werden: Wie kann das Bittgebet sinnvoll sein unter Voraussetzung der Unveränderlichkeit Gottes?

In seinem deutschen Traktat „Von Abgeschiedenheit“ erörtert Meister Eckhart (1260-1328) in sehr plastischer Weise genau dieses Problem.38 Es geht hier um die Frage: Hätte das Bittgebet keine Wirkung auf Gott, dann hätte es letztlich keine Realität, wäre höchstens so etwas wie ein inneres reflektierendes Umgehen mit sich selbst, wie das z.B. bei der Gebetsauffassung von Walter Bernet der Fall ist, der das Bittgebet psychologisch-immanent interpretiert.39 Wirkt das Bittgebet dagegen auf Gott, wie geht das mit der Unveränderlichkeit Gottes zusammen? Hat dann nicht Kant doch Recht mit seiner Kritik?

Eckhart geht dieses Problem grundsätzlicher an, nämlich von der Frage aus, was Gott zu Gott macht. „Daß Gott Gott ist,“ heißt es hier, „das hat er von seiner unbeweglichen Abgeschiedenheit, und von der Abgeschiedenheit hat er seine Lauterkeit und seine Einfaltigkeit und seine Unwandelbarkeit.“40 Für unseren Zusammenhang interessiert ganz besonders das letzte Merkmal Gottes: seine Unwandelbarkeit.

Nun gesteht Eckhart ohne weiteres zu, dass alle Gebete und guten Werke, die der Mensch im Zeitlichen verrichten kann, Gottes Abgeschiedenheit so wenig bewegen, als ob niemals ein Gebet oder gutes Werk in der Zeit verrichtet würde, und es heißt dann weiter: „Und Gott wird deshalb nimmer gnädiger noch geneigter gegenüber dem Menschen, als wenn er das Gebet oder die guten Werke niemals verrichtete.“41

Wie passt das zusammen?