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ERFURTER THEOLOGISCHE SCHRIFTEN

im Auftrag
der Katholisch-Theologischen Fakultät der
Universität Erfurt

herausgegeben
von Josef Römelt und Josef Pilvousek

BAND 46

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Myriam Wijlens (Hg.)

Die wechselseitige
Rezeption zwischen
Ortskirche und
Universalkirche

Das Zweite Vatikanum
und die Kirche
im Osten Deutschlands

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

1. Auflage 2014
© 2014 Echter Verlag, Würzburg

ISBN
978-3-429-03698-0 (Print)
978-3-429-04753-5 (PDF)
978-3-429-06167-8 (ePub)

www.echter-verlag.de

Inhalt

VORWORT

Myriam Wijlens

SEELSORGE MIT KONZILIAREM RÜCKENWIND PERSÖNLICHE ERINNERUNGEN AUS DER DIASPORAPASTORAL MITTELDEUTSCHLANDS

Joachim Wanke

KIRCHE UND DIASPORA. DIE KATHOLISCHE KIRCHE IN DER DDR UND DAS ZWEITE VATIKANISCHE KONZIL

Josef Pilvousek

REZEPTIONSFORSCHUNG AUS LOKALER PERSPEKTIVE – METHODOLOGISCHE REFLEXIONEN

Gilles Routhier

ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT. KONZILSREZEPTION ZWISCHEN INNERKIRCHLICHEM AUFBRUCH UND STAATLICHEN REPRESSIONEN IN DER DDR

Sebastian Holzbrecher

WAS BEDEUTET REZEPTION DER LITURGIEKONSTITUTION? BEOBACHTUNGEN IN DER DIASPORA OST- UND MITTELDEUTSCHLANDS

Benedikt Kranemann

ZUR REZEPTION KIRCHENRECHTLICHER NORMEN – VORAUSSETZUNGEN UND UMSETZUNGEN

Rüdiger Althaus

AGGIORNAMENTO VOR ORT – CHRISTLICHES LEBEN UND DENKEN IN DER WELT VON HEUTE UND MORGEN

Michael Quisinsky

SENSUS FIDELIUM UND KATHOLIZITÄT ORTSKIRCHE UND UNIVERSALKIRCHE IM GESPRÄCH MIT GOTT

Ormond Rush

DIALOGSTRUKTUREN IN DER KIRCHE UND DIE COMMUNIO-THEOLOGIE DES ZWEITEN VATIKANUMS

Hermann J. Pottmeyer

AUTORENVERZEICHNIS

ANMERKUNGEN

Vorwort

Myriam Wijlens

„In quibus et ex quibus“ ist eine Kurzformel aus der dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium, mit der das Zweite Vatikanische Konzil zum Ausdruck gebracht hat, dass die eine und einzige katholische Kirche „in und aus den Ortskirchen“ besteht (LG 23). Wer das Zweite Vatikanische Konzil und all das, was das Konzil ausmacht, studiert, wird tatsächlich feststellen, dass diese Formel nicht nur eine lehramtliche Aussage ist, die das Verhältnis zwischen den Ortskirchen und der Universalkirche beschreibt, sondern gerade bezogen auf Vatikanum II auch zum Ausdruck bringt, was vor, während und nach dem Konzil geschah.

Vorkonziliare Entwicklungen in den Ortskirchen konnten auf dem Konzil – ein Ereignis der Universalkirche – zum Tragen kommen: die bereits in mehreren Ländern de facto existierenden Bischofskonferenzen, die in der „Logistik“ des Konzils bereits eine entscheidende Rolle spielen würden; die in mehreren Ortskirchen zuvor schon bestehenden Erfahrungen mit einer Reform der Liturgie – hier ist vor allem an Deutschland zu denken; die Impulse, die durch das Laienapostolat z.B. in Frankreich und Deutschland hervorgebracht wurden; ebenso die im Kontext des Zweiten Weltkrieges gemachte Erfahrung, dass alle Christen aufgrund ihrer Taufe primär in Christus verbunden sind und die bestehenden Trennungen deshalb überwunden werden müssen. All diese Erfahrungen, die auf der Ebene der Ortskirche gesammelt worden waren, konnten insbesondere deswegen zu entscheidenden Impulsen für die Entwicklungen im Konzil werden, weil sie mit einer theologischen Forschung vor allem hinsichtlich der Bibelwissenschaften und der Kirchenväter sowie mit einem Bewusstsein für die Geschichtlichkeit von Lehraussagen einhergingen. Nicht zu unterschätzen sind hier die Beiträge der großen klerikalen Orden – z.B. der Benediktiner, Jesuiten und Dominikaner –, die schon seit Jahrzehnten die Forschung ihrer Mitglieder förderten. Durch die Herausgabe von theologischen Fachzeitschriften, in denen die Ergebnisse nicht nur publiziert, sondern auch länder- und sprachübergreifend veröffentlicht wurden, ermöglichten die Orden einen Transfer und somit eine erste Rezeption der Forschungsresultate. Die Ergebnisse des Konzils können somit nicht ohne die Erfahrungen und theologischen Vorarbeiten in den Ortskirchen gewürdigt werden.

Es waren jedoch nicht nur die ortskirchlichen Vorläufe, sondern auch die während des Konzils getroffenen Entscheidungen, die einen vor allem auf persönlichen Kontaktmöglichkeiten basierenden Austausch der Konzilsväter begünstigten: die Sitzordnung der Bischöfe erfolgte z.B. nicht nach Sprachgruppen oder Nationalität, sondern nach Weihe-Anciennität. Es konnte also geschehen, dass ein Bischof aus Europa zwischen einem aus Afrika und einem aus Asien saß, und sich dadurch neue Lernmomente ergaben, die die rein kognitive Ebene überstiegen. Ein weiterer Baustein, der zur Vernetzung der Konzilsteilnehmer führte, waren die an den Nachmittagen von Theologen gehaltenen und von Bischöfen besuchten Vorträge. Hinzu kam, dass viele der Bischöfe aus Afrika, Asien und Südamerika gebürtige Europäer waren, die einfach Kontakte mit Mitbrüdern aus ihren Heimatländern knüpfen konnten. Ferner entstanden durch das bereits bestehende Netzwerk der Ordensinstitute Berührungspunkte. Bischöfe, die als Angehörige eines Ordensinstituts in den verschiedenen Teilen der Welt zu Vorstehern von Ortskirchen berufen waren, trafen sich untereinander, um Erfahrungen und Eindrücke zu tradieren. Diese vielfachen Austauschmöglichkeiten führten zu einer Wechselwirkung zwischen den Ortskirchen unter sich mit der Folge, dass es zu einer gesamtkirchlichen Rezeption dessen, was in den Ortskirchen vorbereitet worden war, kam. Dadurch erhielt das Konzil eine neue Gewichtung.

Nach dem Konzil galt es die Ergebnisse des Konzils in den jeweiligen Ortskirchen zu rezipieren. Dies musste unter besonderer Berücksichtigung der örtlichen Umstände und Gegebenheiten geschehen: so z.B. in der Liturgie, in Entscheidungsfindungsprozessen, in den Bistümern und Pfarreien, in der Ökumene, im Umgang mit der Gesellschaft.

Fünfzig Jahre nach dem Konzil stellt sich nun die Frage, wie diese wechselseitige Rezeption im Osten Deutschlands gerade wegen des besonderen politischen Kontextes verlaufen ist: Durch wen und wie wurde sie vermittelt? Wurde sie überhaupt und wird sie gegenwärtig noch gefördert? Welche Faktoren führten dazu, dass bestimmte Aspekte nicht oder noch nicht rezipiert werden konnten? Wie sah die Teilnahme der Kirche Mitteldeutschlands am Konzil aus und wie beeinflusst das Konzil die Kirche in dieser Region bis heute? Wer das feststellen will, muss sich über die Methode Gedanken machen, dieser Fragestellung nachzugehen, und muss dafür Kriterien festlegen. Ist die deskriptive Analyse mehr oder weniger abgeschlossen, gilt es in die systematisch-theologische Phase einzutreten, indem nun Konzepte wie Glaubenssinn (sensus fidelium) und Dialog in der Wechselwirkung zwischen Orts- und Universalkirche reflektiert werden.

Diese Fragen wurden auf einer Tagung, welche an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt am 7. und 8. Dezember 2012 unter dem Titel „In quibus et ex quibus: Die Wechselwirkung zwischen Ortsund Universalkirche 50 Jahre nach Vatikanum II im Osten Deutschlands“ durchgeführt wurde, diskutiert. Die Beiträge in dem vorliegenden Band, welcher aufgrund der Tagung entstanden ist, sind somit zutiefst von einer methodischen Reflexion über Rezeptionsforschung und -vorgänge in der Ortskirche geprägt. Sie sind in drei Gruppen zu unterscheiden: Nach einem sehr persönlich gefärbten Beitrag des emeritierten Bischofs von Erfurt, Dr. Joachim Wanke, in dem er sich erinnert, wie ihm das Konzil als Seminarist nahegebracht wurde, wie er danach als Seelsorger und junger Priester an der Rezeption beteiligt war und wie er als Ortsbischof die Rezeption förderte, beschreibt der Erfurter Kirchenhistoriker Josef Pilvousek vor allem die Teilnahme der Kirche im Osten Deutschlands auf dem Konzil. Der kanadische Konzilsforscher Gilles Routhier reflektiert in einem methodisch geprägten Aufsatz, wie die Rezeption des Konzils in den Ortskirchen überhaupt erforscht werden kann. Sein Beitrag bildet deswegen eine Brücke zu den darauffolgenden Studien des Erfurter Kirchenhistorikers Sebastian Holzbrecher, des Erfurter Liturgiewissenschaftlers Benedikt Kranemann und des Paderborner Kanonisten Rüdiger Althaus, die vor allem das, was konkret im Bereich der Wechselwirkung zwischen den Ortskirchen und der Universalkirche in der Region geschah, in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellen.

Sebastian Holzbrecher etwa beschreibt die Rezeption des II. Vatikanums in dem besonderen gesellschaftlichen und kirchlichen Umfeld der DDR und nimmt dabei konkret den sogenannten ‚Aktionskreis Halle‘, eine innerkirchliche Reformgruppe von Gläubigen in der DDR, in den Blick. Benedikt Kranemann konzentriert sich auf den Beitrag der Kirche im Osten Deutschlands für die Liturgiereform auf dem Konzil sowie auf die nach dem Konzil erfolgte Rezeption in dieser Region. Rüdiger Althaus reflektiert vor dem Hintergrund der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, wie Entwicklungen in den Ortskirchen aus dem deutschsprachigem Raum über das Gewohnheits- und Partikularrecht in das Universalrecht aufgenommen wurden und wie die Ortskirchen umgekehrt das Universalrecht rezipieren bzw. dies wegen regionalen Besonderheiten ihrer Kirche nicht tun, ja sogar unter Berufung auf ihre Situation sich dazu nicht im Stande sehen.

Das Buch schließt mit drei Beiträgen, die die Wechselwirkung zwischen Orts- und Universalkirche vor allem aus systematisch-theologischer Sicht betrachten. Der in der Schweiz lehrende systematische Theologe Michael Quisinsky analysiert, was das konziliare ‚aggiornamento‘ mit Blick auf Zeit und Ort für die Ortskirchen, die in der heutigen Zeit theologisch betrachtet immer weniger als nur territorial zu verstehen sind, bedeutet. Der australische Fundamentaltheologe Ormond Rush konzentriert sich auf den Glaubenssinn (sensus fidelium) und fragt, wie dieser in der Wechselwirkung zwischen Ortsund Universalkirche zu verstehen ist. Der Bochumer Fundamentaltheologe Hermann Josef Pottmeyer schließt das Buch mit einer Reflektion über das Dialogverständnis im Konzil und die Implikationen für die heutige Zeit. Zentral in seinen Ausführungen ist die Ansicht, dass die Kirche für den Kontakt mit der Außenwelt den Begriff Dialog als ein „sich auf Augenhöhe begegnen“ und ein „Wahren wirklicher Gegenseitigkeit“ verstehen würde. Im innerkirchlichen Bereich würde der Dialogbegriff jedoch eher als Gespräch (colloquium) begriffen, da man sich schwer tue die oben genannte Gegenseitigkeit zu respektieren. Pottmeyer zeigt auf, warum es in der nachkonziliaren Zeit deswegen zu Schwierigkeiten in dem wechselseitigen Austausch zwischen Orts- und Universalkirche gekommen ist und weiterhin kommt.

Die Herausgabe des vorliegenden Buches wäre ohne die Hilfe meines wissenschaftlichen Mitarbeiters Michael Karger nicht möglich gewesen. Für sein unermüdliches Engagement bei der Organisation der Tagung und vor allem bei der Druckvorbereitung sei ihm ausdrücklich gedankt. Frau Doris Wagner gilt ein Wort des Dankes für die Übersetzung der Beiträge von Gilles Routhier aus dem französischen und von Ormond Rush aus dem Englischen in die deutsche Sprache.

Seelsorge mit konziliarem Rückenwind
Persönliche Erinnerungen aus der
Diasporapastoral Mitteldeutschlands
1

Joachim Wanke

Es ist eine aus der Kirchengeschichte vielfach bewährte Erkenntnis: Konzilien können erst in einem größeren zeitlichen Abstand in ihren jeweiligen Auswirkungen gewürdigt werden. Es hängt von vielen Faktoren ab, ob Konzilien mit ihren lehrmäßigen Entscheidungen und sonstigen Verlautbarungen in der Breite der Kirche aufgegriffen oder eher vernachlässigt werden. Zudem sind gerade die großen Konzilien der Neuzeit, das Tridentinum und das I. Vatikanum ohne einen Blick auf die Herausforderungen der jeweiligen Zeit, auf die sie zu antworten suchten, nicht zu verstehen.

Sind 50 Jahre schon eine hinreichende Zeitspanne, um das II. Vatikanische Konzil (1962-1965) in seiner Bedeutung gebührend zu würdigen? Dass dieses Konzil, von Papst Johannes XXIII. überraschend einberufen2, zu den Höhepunkten der Kirchengeschichte im 20. Jahrhundert zählt, und zwar weit über die Grenzen der römisch-katholischen Kirche hinaus, ist unbestritten. Allein schon die Tatsache, dass ein solches Konzil mit so weitreichenden und mutigen Aussagen zum Glauben und kirchlichen Leben möglich war, ist in sich als ein staunenswertes Werk des Heiligen Geistes zu bezeichnen. Wie schwierig sich etwa eine Konzilsabsicht in die Tat umsetzen lässt, zeigt das langwierige Bemühen der orthodoxen Schwesterkirche um ein panorthodoxes Konzil, bei dem derzeit noch kein Ende abzusehen ist.

Meine Konzilserinnerungen und meine Würdigung des Konzils setzen biographisch an. Sie sind daher notwendig subjektiv und in ihrem Erkenntniswert begrenzt. Doch zeigt sich mir im Rückblick auf das II. Vatikanum und seine Auswirkungen in der Kirchen- und Pastoralgeschichte des mitteldeutschen Raumes, wie tiefgreifend dieses Konzil mich und viele andere geformt hat, die das Leben der Kirche im Raum zwischen Werra und Neiße mitgestaltet haben.

Am 8. Dezember 1965 fand das II. Vatikanum seinen Abschluss. Ich befand mich im letzten Jahr der Ausbildung vor der Priesterweihe. Der Spiritual und spätere Regens des Priesterseminars Neuzelle, Erich Puzik, hat uns Diakone intensiv mit den schon vorliegenden Konzilstexten vertraut gemacht. Ich weiß, dass er uns auf das damals gerade erschienene Buch von Johann Baptist Metz, Christliche Anthropozentrik3, aufmerksam machte, das wir als hermeneutische Hilfe für die durch das Konzil eingeleiteten Horizontverschiebungen in der Theologie empfanden. Der Erfurter Dogmatiker Otfried Müller4 kam eigens zu Vorlesungen nach Neuzelle, um in die dogmatische Konstitution über die Kirche einzuführen und andere Grundentscheidungen des Konzils, etwa im Bereich der Ökumene oder zur Religionsfreiheit zu erläutern. Die Hinführung zum liturgischen Dienst war schon von der Liturgiekonstitution des Konzils geprägt, der ja bald die ersten konkreten Ausführungsbestimmungen folgten. Die Priesterweihe 1966 im Erfurter Dom durch Bischof Hugo Aufderbeck erfolgte schon nach dem neuen Ritus als Konzelebration mit dem Bischof.

Im Raum der DDR konnten wir relativ schnell und unkompliziert das Konzilsgeschehen verfolgen und die entstehenden Texte nachlesen. Ab der 2. Sitzungsperiode (1963) durften die DDR-Ordinarien am Konzil persönlich teilnehmen. Otfried Müller hat schon bald eine erste kommentierte Sammlung der Beschlüsse des II. Vatikanums im Leipziger Benno-Verlag vorlegen können. Eine der Rahner-Vorgrimler-Ausgabe vergleichbare vollständige Edition der Konzilstexte erfolgte ebenfalls im St. Benno-Verlag im Jahr 19855, auch eine Auswahl an wichtigen Konzilsaussagen für die Gemeindearbeit, herausgegeben von Hans-Andreas Egenolf.6 Dazu kamen bald Aufsätze im Theologischen Jahrbuch Leipzig (eine Art Ersatz für eine fehlende theologische Zeitschrift, meistens mit Nachdrucken aus dem deutschen Sprachraum)7, ferner im sog. Theologischen Bulletin (kirchlicher Samisdatdruck)8 und in den pastoralen Aufsatzbänden, die Bischof Hugo Aufderbeck in den 70er Jahren herausgab.9 Dort wurden viele praktische Fragen der Konzilsrezeption angesprochen. Schließlich boten auch die Seelsorgeämter der östlichen Jurisdiktionsbezirke schnell Hilfen zur Weiterbildung an, um den Klerus und interessierte Laien mit dem Konzil und seiner Bedeutung vertraut zu machen. Man kann sagen: Klerus und Gemeinden hatten reichlich Möglichkeit, sich mit dem Konzil auseinanderzusetzen. Dazu trugen natürlich auch die von Bischof Otto Spülbeck (von 1958-1970 Diözesanbischof des Bistums Dresden-Meißen) angefangene und nicht vollendete Meißener Diözesansynode und die Dresdner Pastoralsynode aller Jurisdiktionsgebiete in der damaligen DDR (1973-1975) bei. Dort zeigten sich auch erste Kontroversen bei der Interpretation der Konzilstexte, etwa von Gaudium et spes, was natürlich teilweise auch dem gesellschaftlichen Kontext des kirchlichen Lebens in der DDR geschuldet war.

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, den konziliaren Anstößen und Gedankenimpulsen in meinem Dienst als Priester und Bischof im Detail nachzugehen. Ich hatte das Glück, mit dem gerade abgeschlossenen Konzil, das allgemein als Öffnung der Kirche und Freisetzung zu neuen Wegen in der Seelsorge empfunden wurde, meinen priesterlich-seelsorglichen Dienst zu beginnen. Eigentlich bis heute ist das Denken des Konzils, seine Neuansätze im Kirchenbild, in der Liturgie, in der Ökumene und in seiner Sicht des Verhältnisses des Christentums zu den anderen Religionen für mich die Folie meines theologischen und pastoralen Nachdenkens und Handelns.

1. In der erneuerten Liturgie beheimatet

Beispielhaft sei etwa auf die Impulse der vom Konzil angestoßenen Liturgiereform hingewiesen. Unsere Diasporakirchen waren für diese Neuansätze gut vorbereitet, zum einen durch das Wirken der Leipziger Oratorianer, die wie Josef Gülden, Theo Gunkel, natürlich mit vielen anderen, in Berlin etwa Johannes Pinsk, von der Liturgischen Bewegung inspiriert waren, zum anderen durch den Erfurter Bischof Hugo Aufderbeck, der zusammen mit dem unvergessenen Berliner Bischof Wilhelm Weskamm schon in den 50er Jahren wichtige pastoral-liturgische Akzente setzte.

So wurde in uns als jungen Theologen und dann als Priestern die Liebe zur Liturgie geweckt, genauer: zur gottesdienstlichen Versammlung, in der das Wort Gottes, die Heilige Schrift ihren ersten und wichtigsten Sitz im Leben hat. Die Erneuerung der Liturgie durch das Konzil wollte ja tiefer in das „Heilsmysterium“ – das Innerste der gottesdienstlichen Feier – hineinführen und zugleich ihr Äußeres so gestalten, dass ein wirkliches Hören und Verstehen des Wortes Gottes in seiner ganzen Breite und eine ganzheitliche Beteiligung aller an der Liturgie der Kirche möglich wurde.

Für mich als jugendlichen Ministranten war ein prägendes Erlebnis, dass 1955 die „Große Woche“, speziell das Ostertriduum, die jährliche Feier des Pascha Domini, liturgisch neu geordnet wurde. Eine für die Hand der Gläubigen verbreitete Hilfe zur Mitfeier war, wie sich manche erinnern werden, das Büchlein „Pascha Domini“10 und für die Hand des Klerus das von Aufderbeck im Leipziger St. Benno-Verlag 1958 herausgegebene Werkbuch „Die Feier der vierzig und fünfzig Tage“ (der österlichen Festzeit)11. Solche und ähnliche liturgische Impulse, etwa die deutsche Komplet (herausgegeben von den Leipziger Oratorianern), von der katholischen Jugend gern übernommen, haben auf die Reformimpulse des Konzils gut vorbereitet.

So wurde jenseits aller rechtlichen Verpflichtungen in unserer Generation das Gespür dafür wach, wie unverzichtbar für die christliche Gemeinde die wöchentliche „Versammlung“ am Herrentag ist. Dort sammelt der Erhöhte seine Gemeinde und stärkt sie mit seinem Wort. Dort zieht er sie mit hinein in seine Hingabe an den Vater, die mehr und mehr das Leben der Mitfeiernden prägen soll. Aus dem Bemühen um die sonntägliche Versammlung der Gemeinde auch in der priesterarmen Diaspora kommt auch die Anregung Hugo Aufderbecks zu den sogenannten Stationsgottesdiensten, eine Gottesdienstform, die noch in ihrer heutigen Form als Wort-Gottes-Feier ohne Priester seine Handschrift erkennen lässt.

An diesen, vom Konzil her aufgegriffenen und legitimierten liturgischen Impulsen galt es immer wieder Maß zu nehmen, auch in kritischer Abwehr von Pseudoreformen und Fehlentwicklungen, wie etwa der Überbetonung des Pädagogischen und Belehrenden im Vollzug der Hl. Messe. Wir brauchen wieder neu – in einem veränderten geistigen und kulturellen Kontext – „Mystagogen“, die es verstehen, in die Tiefenschichten der liturgischen Feiern, speziell der Eucharistie, einzuführen und Menschen dort geistlich zu beheimaten. Das gilt zum einen in dem Sinn, die Feiern und ihre Elemente sachgerecht zu erschließen, zum andern auch als ein Bemühen, die geistliche Bedeutung des Lebens aus dem Wort Gottes und den liturgischen Zeichen auch für den heutigen Lebensalltag aufzuzeigen. Es geht um eine „ars celebrandi“, eine Kunst des Liturgen, den Innenraum des liturgischen Geschehens als eine Begegnung mit Christus zu öffnen. Wer einmal mit Bischof Aufderbeck im Hohen Chor des Erfurter Domes die Osternacht mitgefeiert hat, dürfte wissen, was damit gemeint ist.

Es braucht in einer sich ins Subjektive und Beliebige weiter verlierenden Moderne eine Spiritualität, die dem einzelnen Christen Stehvermögen verleiht und ihm hilft, sich dennoch den Mitfeiernden gegenüber zu öffnen. Überhaupt gilt: Mehr und mehr werden „Wege erwachsenen Glaubens“ notwendig, die den Einzelnen, kleinen Gruppen und den Gemeinden insgesamt bei der Feier der Liturgie in ihren vielfältigen Formen helfen und nicht zuletzt dadurch in eine mündige, auskunftsfähige Form des Christseins einweisen.

Noch heute kann uns das II. Vatikanische Konzil helfen, Antworten auf die Frage zu finden, wie eine biblische und liturgische Spiritualität für heute und morgen aussehen kann. Natürlich müssen wir immer neu die klassischen geistlichen Erfahrungen befragen. Es gilt, sich an der Heiligen Schrift und der Feier der Sakramente festzumachen, am Kirchenjahr, an geistlichen Orten, an Personen. Der Christ wird eine „Alltagsmystik“ zu entwickeln haben, die auch Erfahrungen der Verborgenheit Gottes auszuhalten weiß, und das alles in ganz unpathetischer, nüchterner Weise. Dankbar möchte ich in diesem Zusammenhang an meinen Lehrer Heinz Schürmann12 erinnern, der meiner Generation die Bibel nicht nur wissenschaftlich-exegetisch vorbildlich erschloss, sondern sie uns als Buch der Kirche und als Wort Gottes nahe brachte, aus dem man geistlich leben kann. Bei dieser spirituellen Durchdringung unseres „kirchlichen Alltagsbetriebes“ sehe ich übrigens auch ein Feld fruchtbringender ökumenischer Zusammenarbeit und des gemeinsamen Austausches mit anderen Christen. Wir sollten darin nicht nachlassen.

2. Der Ökumene verpflichtet

Das führt mich zu dem anderen Feld, dem das Konzil meinem Denken und Arbeiten bis heute wichtige Anregungen gab: die Öffnung in der Ökumene, näher hin zu den Kirchen der Reformation. Es ist nicht überflüssig, dies besonders herauszustellen, weil es eben nicht selbstverständlich ist. Noch vor dem II. Vatikanischen Konzil war das anders, was wir gern vergessen. Damals gab es nur die Vorstellung einer „Rückkehr“ der anderen zur katholischen Kirche. Hier hat das Konzil mit seinen theologischen und pastoralen Entscheidungen einen Neuanfang ermöglicht.

Die anderen „Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften“ werden seither im katholischen Raum anders gewürdigt als zuvor. Einzelne Elemente des Kirche-Seins in diesen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften werden positiv benannt (z. B. die gemeinsam anerkannte Taufe, die Verkündigung des Wortes Gottes, die tätige Nächstenliebe u. a. m.). Das Konzil vermeidet freilich, konkret die aus der Reformation entstandenen Kirchen auch theologisch als Kirchen zu bezeichnen. Das signalisiert ein theologisches Arbeitsfeld, das dringlich zu bearbeiten ist. Dennoch bleibt es dabei: Auch in den nichtkatholischen Kirchen und Gemeinschaften ist Gottes Geist am Werk, wird das Evangelium verkündigt und gewinnt die Liebe Christi praktisch Gestalt. In ihnen kann der einzelne Mensch das ewige Heil erlangen.

Dazu kommt eine positive Würdigung des ökumenischen Bemühens insgesamt. Papst Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika „Ut unum sint“, die ganz der Ökumene gewidmet ist, gesagt, dass die ökumenische Bewegung in dem von Kriegen und schrecklicher Inhumanität gekennzeichneten 20. Jahrhundert ein Geschenk des Geistes Gottes sei.13 Dieser Aussage stimmen wohl weithin alle Christen zu. Dass dies so ist, sollte uns Anlass zu immer neuem Dank gegenüber Gott sein.

Lange habe ich mich lokal und auch auf Bundesebene in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Deutschland eingebracht, von 1995 bis 2001 sogar als deren Vorsitzender. Ich hätte mir nicht vorstellen können, ohne eine vom Konzil her inspirierte Theologie diese Arbeit leisten zu können. Natürlich kamen dabei auch die kontroversen Gesichtspunkte zum Vorschein, insbesondere im Kirchenverständnis. Immer wieder musste ich manches vorschnelle Urteil richtigstellen: Es ist nicht zutreffend, wenn z. B. häufig die katholisch-evangelische Grunddifferenz mit der Formel festgemacht wird: Nach evangelischem Verständnis erfolge Rechtfertigung des Sünders vor Gott „in“ der Kirche, nach katholischem Verständnis „durch“ die Kirche. Genau bei solch gewichtigen Fragen half mir mein vom Konzil her geprägtes Kirchenbild, für die im Glauben getrennten Geschwister gesprächsfähig zu bleiben.

Kirche schiebt sich für Katholiken eben nicht zwischen Christus und den Menschen. Sie enthüllt mir vielmehr das Angesicht des Herrn, damit ich von ihm im Wort und Sakrament „erleuchtet“, österlich lebendig werden kann. Die Kirche ist mir Heilsraum, aber nicht Heilsursache. Darum gilt für mich: An ihrer Hand habe ich den gefunden, den „meine Seele liebt“ (Hld 3,1). Paulus gebraucht einmal das Bild, er wisse sich als „Brautwerber“ (2 Kor 11,2), der zu Christus führen will. Eben das ist für mich das Wesen der Kirche. Und so habe ich es auch als ein in der Diaspora aufgewachsener Katholik konkret in meiner Biographie erfahren. Aber das bestätigt mir nur biographisch, was ich, belehrt durch das Konzil, theologisch weiß.

Meine Erfahrung, besonders auch später im Bischofsamt, hat mir gezeigt: Es wird kein Voranschreiten in der Ökumene geben, wenn wir uns Christen nicht gegenseitig im Blick behalten. Damit meine ich nicht, dass es nicht auch Sachkritik am anderen geben könne. Wichtiger ist freilich, in welcher Gesinnung solche gegenseitige Kritik geschieht. In uns muss das konkrete Wissen wachsen und sich emotional verankern, dass der und die andere neben mir von Christus geliebt sind. Kinder hören zu streiten auf, wenn sie sich der gemeinsamen Liebe ihrer Eltern wieder sicher sind.

Gerade durch die ACK habe ich gelernt, meine eigene Kirche auch mit den Augen der ökumenischen Partner zu sehen. Das ist manchmal schmerzlich, weil ich dann auch eigenes Fehlverhalten und Versagen deutlicher erkenne. Aber alles in allem ist dies eben auch heilsam. Ich hatte einmal den Vorschlag gemacht, im jeweiligen sonntäglichen Gottesdienst einer Gemeinde regelmäßig (etwa in den Fürbitten) auch der anderen Christen am Ort zu gedenken. Hier und da erlebe ich, dass dies gemacht wird. Darüber kann man sich nur freuen. In einer solchen Gemeinde bleibt der „Geist des Konzils“ lebendig.

Aber auch in anderer Hinsicht brauchen wir die Ökumene – und das scheint kein Gegensatz zu dem soeben Gesagten. Wir sollten gemeinsam immer wieder auf Aufgaben schauen, die uns als Christen in Deutschland und angesichts einer zerrissenen Welt herausfordern. Freundschaft wächst und vertieft sich durch gemeinsame Bewährung, nicht durch fortwährendes gegenseitiges sich Fixieren und Bemessen. Wir brauchen eine ökumenische Grundeinstellung, die nicht als Motto ausgibt: „Mal sehen, was dem anderen zuzumuten ist“, sondern: „Gemeinsam schauen auf das, was diesem Land nottut, nämlich: neu nach Gott zu fragen“. Das führt mich zu einem weiteren, mir wichtigen Lernfeld, zu dem mich gerade auch das Konzil angeleitet hat. Ich meine damit die Aufgabe, mutig auf eine neue, missionarische Präsenz des Evangeliums in unserer Gesellschaft hinzuarbeiten.

3. Den Menschen das Evangelium anbieten

Für mich ist unter den Konzilsdokumenten die Pastoralkonstitution „Kirche in der Welt von heute“ (Gaudium et spes) wichtig geworden, besonders auch für meine Grundeinstellung zur Aufgabe der Kirche im damaligen Ideologiestaat DDR. Dieses Dokument hat mir geholfen, mit anderen zusammen die Mentalität der kirchlichen „Einigelung“, der „Überwinterung“ im Warten auf bessere Zeiten aufzubrechen. Eine erste Frucht dieses Bemühens waren manche neue Töne in den gemeinsamen Hirtenschreiben der Bischöfe im Osten, ferner das im Dresdener Katholikentreffen von 1987 sich zeigende neue Selbstbewusstsein der katholischen Christen im Osten und schließlich auch die Bereitschaft unserer Kirche, sich an den drei Ökumenischen Versammlungen unmittelbar vor der friedlichen Revolution von 1989/90 zu beteiligen, die bekanntlich einen wichtigen Beitrag leisteten für den gesellschaftlichen Neuanfang in den nachfolgenden Jahren.14

Dem Konzilsdokument „Kirche in der Welt von heute“ wurde manchmal eine gewisse theologische „Blauäugigkeit“ vorgeworfen. Aber damit tut man diesem, sicher in das Denken und Empfinden der damaligen Zeit eingebundenen Dokument unrecht. In dieser Pastoralkonstitution geht es um eine grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt. Es geht im Letzten um eine Absage an die herkömmliche Auffassung einer Dominanz der Kirche auch über die weltlichen Dinge und ihre Ordnungen. Zum ersten Mal wird hier in einem Konzilsdokument von einer (wenn auch durch Gott umfangenen) Autonomie der weltlichen Wirklichkeit gesprochen, die auch die Kirche zu respektieren hat und die von den Laienchristen bei ihrem Welteinsatz zu berücksichtigen ist. Daraus folgt unmittelbar die Einsicht, dass in manchen Fragen der Gesellschaft, die heute anstehen, die Kirche keine endgültigen und abschließenden Antworten geben kann. Das Konzilsdokument ruft vielmehr die Christen auf, im gemeinsamen Gespräch, auch mit Nichtchristen, nach den richtigen Wegweisungen für eine bessere Weltgestaltung zu suchen. Das Konzil gesteht freimütig, dass die Kirche selbst immer auch eine lernende Kirche ist.

Es ist schon erstaunlich, welcher Wandel der Selbsteinschätzung von Kirche in ihrem Verhältnis zur Welt in diesem Dokument zum Ausdruck kommt. Gaudium et spes ist sicherlich das Konzilsdokument, das am zutreffendsten die Vision von Papst Johannes XXIII. zum Ausdruck bringt, die Kirche möge zu ihrem Grundauftrag zurückfinden, nicht nur Wahrheiten „an sich“ zu verkünden, sondern sie den Menschen von heute so nahezubringen, dass die befreiende und heilende Wirkung des Evangeliums erkennbar werden kann.15 Aggiornamento, „Verheutigung“ im Sinne von Papst Johannes XXIII. meint ja nicht eine billige Anpassung oder gar Anbiederung der Kirche an die Welt von heute, sondern eine heilsame Zusammenführung des Evangeliums und des Menschen mit seinen Fragen, Ängsten und Sehnsüchten, die allein in Jesus Christus ihre letzte Beantwortung erhalten. Und das bedeutet für den Glaubenden immer auch schmerzliche Auseinandersetzung, ja die Bereitschaft zur Kreuzesnachfolge und ggf. auch zum Martyrium. Johannes Paul II. hat immer wieder darauf hingewiesen, dass gerade das letzte Jahrhundert für die Kirche ein Jahrhundert der Märtyrer gewesen ist.

Es stimmt nicht, wenn dem Konzilsdokument nachgesagt wird, es vernachlässige die Glaubenserfahrung, dass auch das Kreuz zur christlichen Existenz in dieser Welt gehört. Ohne Zweifel ist die Pastoralkonstitution von einem gewissen Optimismus erfüllt, der Chancen und Möglichkeiten der Verkündigung des Evangeliums auch an die Menschen von heute sieht. Aber zum einen weiß das Dokument auch um die Aufgabe jedes Gläubigen, „gegen das Böse durch viele Anfechtungen hindurch anzukämpfen und auch den Tod zu ertragen“ (GS 22), es weiß um das durch die Sünde verderbte menschliche Handeln und die Notwendigkeit, dass dieses „Elend“ „durch Christi Kreuz und Auferstehung gereinigt“ und „alles Tun des Menschen, das durch Stolz und ungeordnete Selbstliebe täglich gefährdet ist“, durch Christi Heilswerk „zur Vollendung gebracht werden muß“ (GS 37). Zum anderen betonen die Konzilsväter, dass sie mit der Pastoralkonstitution keine letztgültige Lehre über den Weltauftrag der Kirche verfasst haben. Das geht von der Sache her auch gar nicht, weil die Dinge dieser Welt immer in Entwicklung sind. Was sie intendierten war „die Schleifung der Bastionen“ (so der Titel einer wichtigen Streitschrift von Hans Urs von Balthasar aus dem Jahr 195216). Sie wollten die Bereitschaft der Kirche signalisieren, sich für das Gespräch mit der Welt zu öffnen und nicht in einer kirchlichen „Festungsmentalität“ zu verharren.

Es ist noch lange nicht ausgemacht, welche Früchte aus diesem Gesprächsangebot wachsen. Vermutlich wird die Öffnung der Kirche für die Welt von heute, die Gaudium et spes angestoßen hat, ihre Bedeutung erst voll im gerade angebrochenen Jahrhundert entfalten. Denn dieses Jahrhundert wird zeigen, ob die großen Weltreligionen und unter ihnen das Christentum einen entscheidenden Beitrag für die Sicherung einer humanen Zukunft der Welt zu leisten vermögen, auch in Gesellschaften, die dabei sind, zumindest weithin im Westen, sich von den eigenen Quellen einer universal verpflichtenden Ethik zu verabschieden.

Wenn ich persönlich meine Erfahrungen mit den Ereignissen der friedlichen Revolution von 1989/90 reflektiere, so muss ich sagen: Ich bin auch im Blick auf die seelsorglich-kirchliche Arbeit dankbar, dass die alte DDR aufhörte zu bestehen. In Kurzfassung: Wir leben jetzt auch kirchlich ehrlicher als früher. Anpassung und Leisetreterei sind in einem repressiven Staat nichts Unnormales, aber eben auch nichts Gutes. Was Kirchen und christlicher Glaube an geistiger Widerstandskraft gegen die alte Ideologie mobilisiert haben, muss sehr gewürdigt werden. Aber auch das Leben in einem geistigen Gefängnis macht „blind“. Zwar hat die DDR-Zeit viel zwischenmenschliche und kirchliche Grundsolidarität unter den Menschen erzeugt, aber die vom Staat gezielt herbeigeführte gesellschaftliche Isolierung der Kirche hat ihr nicht gutgetan. Es ist gut, wenn nun die Kirchen und jeder einzelne Christ positiv, und nicht nur durch Verweigerung, zeigen kann, was der christliche Glaube zur humanen Gestaltung eines Gemeinwesens beiträgt. Eine solche Einstellung kann sich mit Recht auf das Konzil berufen, das zu einem solchen „Welteinsatz“ ermunterte.

Mein Blick in meine Dienstbiographie zeigt mir, dass wir im Osten letztlich noch zu zögerlich die Impulse des Konzils aufgegriffen haben. Wir waren zu wenig oder kaum ausgerichtet auf eine geistige und geistliche Präsenz, die angriffig ist, die anregen will, die auf andere abzielt, die mehr bewegen als bewahren will. Wir stellten zu wenig „das Licht auf den Leuchter“ (so ein pastorales Schwerpunktthema vor einigen Jahren im Bistum Erfurt)17. Damit meine ich nicht unser eigenes Licht, sondern das Licht eines Gottesglaubens, den auch wir geschenkt bekommen haben und der allen – Gläubige wie Ungläubige – gemeinsam Wegweisung geben will.

Im Osten wird sich exemplarisch entscheiden, ob es eine neue Zuversicht, einen neuen Aufbruch in der Verkündigung des Evangeliums in ganz Deutschland geben wird oder nicht. Hier wird die Kirche zeigen müssen, wie das Evangelium auch in der Gesellschaft von morgen neuen Glanz gewinnen kann. Ob wir die Konzilstexte nicht doch noch einmal nachdenklich neu lesen sollten, etwa was in Gaudium et spes zum Atheismus und Agnostizismus so vieler Zeitgenossen gesagt ist (vgl. GS 19-21)?

Dass es derzeit keine, zumindest keine schlüssigen „Pastoralrezepte“ gibt, macht mich weniger besorgt. Das ist ja ein Kennzeichen von Umbruchzeiten, in denen alte Horizonte versinken, aber die neuen noch nicht voll erkennbar sind. Was mich besorgt sein lässt, ist vielmehr die Ahnung der Möglichkeit, dass das religiöse Fragen überhaupt verstummt. Friedrich Nietzsche ist heute wohl aktueller als am Ende des vorigen Jahrhunderts, zumindest radikaler als der Marxismus, der letztlich noch eine Zukunftsvision hatte, freilich eine rein innerweltliche, eine Art „Christentum ohne Gott“. Nietzsche dagegen sah schon den „blinzelnden“ Menschen, der alles durchschaut – bis dieser am Ende überhaupt nichts mehr sieht. Er sah den Menschen, der sich seine Lebenswohnung so mit den Produkten seiner Hände und seines Geistes vollgestellt hat, dass er Gottes nicht mehr ansichtig wird.

Darum ist die wahre Herausforderung unserer Kirche in der Tat die Gottesfrage. Wir sind gehalten, wieder das Evangelium völlig neu zu entdecken, an der Hand des Lehrers Jesus selbst, im Rückgriff auf die Ursprünge über alle kirchlichen Traditionen hinweg – die wir als Korrektive brauchen, die aber so nicht mehr Glaubensleben wecken können.

Wenn ich das so formuliere, wird klar, dass es die von uns machbaren Chancen für die christliche Botschaft gar nicht gibt. Es gibt nur jenen kairos, jenen Gnadenzeitpunkt, den Gott jeder Zeit neu schenkt. Was wir tun können ist, noch redlicher die geistige Situation der Zeit wahrzunehmen, keinen Illusionen nachzujagen, uns zu konzentrieren auf das Wesentliche und Zentrale dessen, warum es Kirche überhaupt gibt. Das wollte das Konzil. Aber das Konzil bleibt toter Buchstabe, wenn es nicht Glaubende gibt, die heute das neu in ihr Leben übersetzen, was damals Johannes XXIII. wollte: dem Geist Gottes in ihrem je eigenen Leben und im Leben der Kirche neuen Raum und Einfluss zu verschaffen.

Worauf ich immer wieder Hinweise: Ich spüre bei den Leuten speziell hier im Osten eine tiefe Sehnsucht nach gelingenden „Beziehungen“, nach menschlicher Nähe und nach „Angenommen-Sein“. Wenn es irgendwie gelingt, das erste Misstrauen gegenüber Kirche zu zerstreuen, wirklich absichtslose Nähe zum anderen glaubhaft zu machen, dann öffnen sich oftmals sehr bald die Herzen. Es gehört zu den schönsten Erfahrungen im Leben eines Priesters, wenn er bei einem Hausbesuch gesagt bekommt: „Das ist aber schön, Herr Pfarrer, dass die Kirche (!) einmal nach mir schaut!“ Übrigens sagen das manche auch zu einem aus dem Pfarrgemeinderat, der im Namen der Gemeinde einen Besuch macht.

Die Chance kirchlich-pastoralen Wirkens besteht heute darin, in der zunehmenden Vereinzelung der Menschen Beziehungsnetze zu knüpfen. Ich gebe zu: Wir erfahren in diesem Bemühen auch Ablehnung, wir begegnen Vorbehalten und Misstrauen. Doch sehe ich auch, dass es in unserer Leistungsgesellschaft, vielleicht gerade wegen ihrer oft unerbittlichen Härte und Stressigkeit, Sehnsucht nach menschlicher Nähe und Annahme gibt. „Du bist angenommen!“ Diese Grundbotschaft des Evangeliums hat auch heute ihren kairos. Das Elisabethjahr 2007, die Feier von Elisabeths 800. Geburtstag, die weit über den kirchlichen Raum hinein in die Öffentlichkeit ausstrahlte, hat mir das eindrucksvoll gezeigt: Das Evangelium hat mehr Sympathisanten als wir meinen. Diese Botschaft, diese „Barmherzigkeits-Melodie“ soll durch uns das Herz der Menschen erreichen.

Begleiten erfordert die Bereitschaft, die Buntheit und Unterschiedlichkeit menschlicher Biographien auszuhalten. Ich sage gern: Wir müssen lernen, auch mit den kirchlich nicht ganz „Stubenreinen“ umzugehen. Hier tun wir uns bekanntlich sehr schwer. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie in der Kirche „willkommen“ sind. Zeichen des Willkommen-Seins sind ja nicht nur die Sakramente. Der ganze Bereich der vorsakramentalen Seelsorge, in dem die Kirche an sich doch reiche Erfahrung hat, wird zunehmend Bedeutung erlangen. Ich denke an die vielen Nichtgläubigen und „Halbgläubigen“, die punktuell Berührung mit der Kirche suchen, etwa beim festlichen Weihnachtsgottesdienst, bei der Einschulung ihrer Kinder, bei der Beerdigung eines Angehörigen, in eigener Krankheit oder anderen Notsituationen usw. Die Kirche, das Pfarrhaus, die eine oder andere Gruppe von Gläubigen muss als Ort des Erbarmens, des Angenommen-Seins, der mitmenschlichen Nähe bekannt sein. Derzeit ist die Kirche mehr im Verdacht, die Menschen zu verschrecken und ihnen das Leben zu vermiesen, als sie für Gott und füreinander freizusetzen. Diesem Grundverdacht muss energisch entgegengewirkt werden. Dass aus einer echten Christusbeziehung dann auch Lebensumkehr erwächst, steht auf einem anderen Blatt. Umkehr erwächst freilich aus Annahme, nicht umgekehrt!

Meine Erinnerung an eine vom Konzil inspirierte Pastoral ist unmerklich in die Betrachtung der Gegenwart eingetaucht. Aber so muss es wohl auch sein. Ich möchte noch einmal meine theologische und pastorale Grundeinstellung zum Ausdruck bringen, von der ich meine, dass ich sie nicht zuletzt dem Konzil verdanke. Die Kirche hat keinen Selbstzweck. Sie hat eine universelle Sendung. Sie soll und will Instrument des Heils für alle sein und so dem Plan Gottes dienen, allen Generationen das Angebot seiner Freundschaft, seiner Nähe zu machen. So darf die Kirche das Vertrauen haben, dass auch im Wandel der Zeiten der Herr mit ihr geht. Vermutlich ist sogar der uns so herausfordernde und pastoral bedrängende kulturelle Wandel eine Hilfe des Himmels, immer neu auf die Mitte des Evangeliums aufmerksam zu machen. So ist es auch gut, auch für unsere Kirche und ihr Leben, dass die politische „Wende“ gekommen ist. Ich ermuntere die Priester und Mitarbeiter in der Pastoral, die gewandelten Verhältnisse auch innerlich anzunehmen, auch wenn diese Verhältnisse uns mancherlei neue Probleme bescheren. Aber die Freiheit ist immer besser als Zwang, besser als der sublime Druck, mit dem uns das alte System früher „geholfen“ hat, die Gemeinden beisammenzuhalten. Eines ist freilich erforderlich: Wir müssen Profil zeigen. Wir müssen uns am Evangelium messen. Wir müssen uns auf unseren eigentlichen Auftrag besinnen. Und das ist vermutlich ganz im Sinne der Heilspläne Gottes.

Kirche und Diaspora.
Die Katholische Kirche in der DDR
und das Zweite Vatikanische Konzil
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Josef Pilvousek

Die Brisanz des zu behandelnden Themas scheint mir sowohl durch die politischen und kirchlichen Entwicklungen Ende der 50er bis Mitte der 60er Jahre als auch durch die doppelte Diasporasituation (konfessionelle und gesellschaftliche) der Kirche in der DDR gegeben zu sein. Seit 1958 hatte der in Westberlin lebende Kardinal Döpfner keine Einreise mehr in die DDR erhalten. In Dr. Alfred Bengsch19 bekam er 1959 einen in Ostberlin ansässigen Weihbischof. Am 3. Juli 1961 wurde Döpfner Erzbischof von München. Die drei Jahre waren durch mannigfaltige staatliche Aktivitäten gekennzeichnet, die eine Spaltung der katholischen Kirche in der DDR und in Berlin zum Ziel hatten und deren „Gleichschaltung“ beabsichtigten. Am 13. August 1961 wurde mit dem Bau der Mauer die völlige Abriegelung der DDR begonnen. Für die Kirche bedeutete dies die Gefahr der Isolation. Wie würde sich der Staat gegenüber einer Teilnahme ostdeutscher Ordinarien am Konzil verhalten, das man bereits einen Monat nach seiner Ankündigung am 9. Februar 1959 als Plattform gegen „das sozialistische Weltsystem“20 bezeichnet hatte. Würde der Staat Reisegenehmigungen erteilen und womöglich Gegenleistungen erwarten? Durfte man damit rechnen, dass Beschlüsse des Konzils publiziert werden konnten? Welche Rezeptionsprozesse waren in einem „sozialistischen“ Staat möglich?

Die folgenden Ausführungen werden keine systematische Darstellung des Konzils und seiner Bedeutung für die DDR oder eine Gesamtgeschichte dieser Thematik sein können. Die Quellenlage ist äußerst kompliziert21