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GÜNTER HUTH

Das letzte
Schwurgericht

Ein Simon Kerner Thriller

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Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

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Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Er war von Beruf Rechtspfleger (Fachjurist), ist verheiratet und hat drei Kinder. Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich. Außerdem hat er bisher Hunderte Kurzerzählungen veröffentlicht. In den letzten Jahren hat er sich vermehrt dem Genre Krimi zugewandt und in diesem Zusammenhang einige Kriminalerzählungen veröffentlicht. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi. »Der Schoppenfetzer« war geboren. Diese Reihe hat sich mittlerweile als erfolgreiche Serie in Mainfranken und zwischenzeitlich auch im außerbayerischen »Ausland« etabliert. 2013 ist der erste Band der Simon-Kerner-Reihe mit dem Titel »Blutiger Spessart« erschienen. Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung »Das Syndikat«. Seit 2013 widmet er sich beruflich dem Schreiben.

Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

»Der Rabenstein am Letzten Hieb war eine der wichtigsten Hinrichtungsstätten der Stadt Würzburg. Außerhalb der Stadtmauern, als gemauerte Richtstätte auf einem Hügel errichtet, wurden dort im Mittelalter über lange Zeit schwere Leibesstrafen vollstreckt. Hierzu zählten Erhängen, Vierteilen, Rädern, Pfählen, um nur einige aus dem möglichen Strafenkatalog zu nennen. Die Delinquenten wurden nach der Vollstreckung am Rabenstein, teilweise noch lebend, den Gewalten der Natur ausgesetzt, wozu auch die Rabenvögel zählten, denen der Ort seine Bezeichnung verdankte. Diese Vögel, auch Aaskrähen genannt, folgten ihrer natürlichen Bestimmung und fielen über die hilflosen Halbtoten oder die Leichen her, die häufig zur Abschreckung dort verblieben, bis nur noch Knochen von ihnen übrig blieben.

Die Raben waren daher bei den Menschen verhasst, weil man in ihnen Todesboten sah. Zahllose Sinnsprüche gaben von der besonderen Einstellung zu den Aaskrähen Zeugnis. Insbesondere: ›Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus‹ wies einerseits auf die speziellen Fraßgewohnheiten dieser Vögel und andererseits auf deren soziale Verträglichkeit am Kadaver hin. Eigenschaften, die gerne auch als Metaphern auf menschliche Verhaltensweisen übertragen wurden …«

Auszug aus dem Werk
»Hinrichtungsstätten der Stadt Würzburg
zur Zeit der Fürstbischöfe«,
Kapitel: »Der Rabenstein« von
Dr. jur. Wilhelm Kürschner

Prolog

Der Jäger hob sein Fernglas. Aus dem Tal kommend, flog ein Rabenvogel heran, drehte eine Schleife über der Wiese und ließ sich schließlich im ausladenden Geäst einer gegenüberstehenden Buche nieder. Kurz darauf entdeckte er zwei weitere Krähen, die sich im Tiefflug näherten und auf einen anderen Ast des Baumes als Vorhut niederließen. Auch sie stießen das durchdringende, arttypische Kräh-Kräh aus. Wie der Jäger feststellte, blickten alle in Richtung Wiese. Dort musste es etwas geben, das ihr Interesse geweckt hatte.

Plötzlich ließ sich die erste Krähe fallen, glitt im Tiefflug über die Wiese und verschwand im Gras. Der Jäger wartete darauf, ihre Artgenossen ebenfalls diese Stelle anfliegen zu sehen. Vermutlich lag dort ein verendetes Tier. Rabenkrähen nahmen gerne Aas auf. Nach dem Ansitz würde er den Platz einmal kontrollieren.

Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gebracht, als eine der Krähen im Baum kurz mit den Flügeln schlug und dann wie ein Stein zu Boden fiel. Zwei Sekunden später stürzte der zweite Vogel aus unerfindlichen Gründen aus dem Geäst. Die Krähe am Boden schien Verdacht geschöpft zu haben, denn sie legte plötzlich mit klatschenden Flügeln einen Alarmstart hin und verschwand über den Baumwipfeln.

Der Jäger war einen Moment verblüfft, dann kam ihm ein schlimmer Verdacht: Wie es aussah, waren diese Vögel abgeschossen worden! Er hatte keinen Schuss gehört, was ihm den Schluss aufdrängte, dass mit einem schallgedämpften Gewehr geschossen worden war. Wilderer!, zuckte es durch sein Gehirn. Unwillkürlich langte er nach seinem Gewehr, das er griffbereit quer vor sich auf die Schießluke gelegt hatte. In dem Jäger stieg Zorn hoch. Die Chance, den Kerl auf frischer Tat zu ertappen, wollte er sich nicht entgehen lassen. Von seinem Hochsitz aus konnte er nichts Verdächtiges entdecken. Also schnappte er sich sein geladenes Gewehr und hastete eilig die Leiter hinunter. Am Boden angekommen, sprang er, das Gewehr quer vor der Brust, mit zwei Sätzen über den Weg und lief gebückt einige Meter in die angrenzende Wiese. Dort kniete er sich sofort nieder. In dieser Haltung konnte er gerade noch durch die Spitzen der höchsten Grashalme hindurchspähen. Die toten Krähen lagen am jenseitigen Waldrand. Wenn sich jemand den erschossenen Vögeln näherte, würde er das von seiner Position aus sehen. Der Jäger war wild entschlossen, den Straftäter zu stellen. So eine Chance würde er nicht wieder bekommen.

Plötzlich hatte er das unbestimmte Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Ehe er in irgendeiner Form reagieren konnte, bekam er von hinten einen harten Schlag auf den Kopf, und es wurde Nacht um ihn.

Der Mann, der ihn mit dem Hinterschaft seines Gewehres bewusstlos geschlagen hatte, schob die Gesichtsmaske nach oben und sah mit zorniger Miene auf den Jäger herab. Er ärgerte sich, ihn nicht in der Kanzel bemerkt zu haben, sonst hätte er natürlich auf seine Aktion verzichtet.

Der Unbekannte beugte sich hinunter und fühlte den Puls des Bewusstlosen. Das Herz schlug gleichmäßig. Die Platzwunde am Kopf blutete zwar stark, war aber nicht weiter gefährlich. Er hatte kein Interesse daran, dem Mann zu schaden, der lediglich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen war. Sein Pech! Langsam richtete er sich wieder auf und verließ den Ohnmächtigen in Richtung Wiese. Lange würde die Betäubung nicht anhalten.

Auf dem Weg zu den erschossenen Krähen kam er an der Stelle vorbei, wo im Gras ein totes Reh lag. Am Tag vorher hatte er es geschossen und hier in der Wiese niedergelegt, um die Aaskrähen anzulocken. Der Kadaver war bereits von anderen Räubern angefressen. Vermutlich hatte sich ein Fuchs daran gütlich getan. Er ließ das Reh liegen und ging weiter zum Waldrand. Dort hob er die beiden toten Krähen auf, steckte sie in eine Plastiktüte und verstaute sie zusammen mit dem zerlegten, schallgedämpften Kleinkalibergewehr im Rucksack. Als er wenig später im Wald verschwand, begann es bereits zu dämmern.

Der Verletzte wurde zehn Minuten später von einem Mountainbikefahrer gefunden, der noch zur späten Stunde im Revierteil Bendelsgraben seine Trainingsrunden drehte.

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Es war 16.37 Uhr. Die Tür zum Beratungszimmer, das sich an den großen Gerichtssaal anschloss, öffnete sich. Ein Raunen ging durch den bis auf den letzten Platz gefüllten Raum, und die Menschen erhoben sich, dann trat Stille ein. Die Prozessbeteiligten und Zuschauer im großen Schwurgerichtssaal des Landgerichts Würzburg musterten die fünf Personen, die nun entlang der Stirnwand des Raumes hintereinander eintraten. Der Richtertisch befand sich, im Vergleich zum normalen Saalniveau, auf einem etwas erhöhten Podest, sodass man von dort auf die Menschen im Saal hinunterblicken konnte. Eine sichtbare Manifestierung der Distanz, die ein Gericht zu den übrigen Verfahrensbeteiligten und zum Volk hatte, in dessen Namen es Recht sprach.

Hinter dem Richtertisch standen sechs Stühle. Fünf an der Längsseite, einer an der schmalen Kopfseite. Die Protokollführerin stand bereits an der linken Schmalseite des Tisches und stützte leicht ihre Fingerspitzen auf der Tischplatte auf. Die rot lackierten Fingernägel bildeten einen deutlichen Kontrast zu ihrer schwarzen Robe. Aufmerksam sah sie den Richtern entgegen. Die Urteilsberatung war heute wieder relativ kurz ausgefallen. Ein Zeichen dafür, dass der Vorsitzende seine Richter wieder einmal gut im Griff gehabt hatte. Sie war schon einige Zeit Protokollführerin in solchen Prozessen. Mittlerweile konnte sie an den Mienen der eintretenden Mitglieder des Schwurgerichts mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Urteil erraten.

Unterhalb des Richtertisches auf dem Niveau des restlichen Gerichtssaals befand sich der Tisch für den Angeklagten und seinen Verteidiger, ihm gegenüber, der Platz des Staatsanwalts. Verteidiger und Staatsanwalt trugen ebenfalls schwarzen Roben. Zwei Meter davon entfernt saßen die Vertreter der Presse.

Die Reihe der einziehenden Richter führte der ebenfalls im Amtstalar gekleidete Vorsitzende des Schwurgerichts an, der sich vor den mittleren Stuhl in der Mitte des Richtertisches stellte. Zwei weitere Berufsrichter in gleicher Robe, die ihm dichtauf folgten, positionierten sich links und rechts von ihm auf. Die beiden ihnen folgenden Personen in Zivil, ein Mann und eine Frau, erreichten wenig später ihre Sessel, jeweils an der linken und rechten Flanke.

Nachdem sich der Vorsitzende davon überzeugt hatte, dass alle an ihren Plätzen standen, musterte er mit unbewegter Miene die am Prozess beteiligten Personen. Zuletzt fixierte er das Gesicht des Angeklagten, der bleich neben seinem Verteidiger stand und den Blick gesenkt hielt. Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine weinrote Krawatte. Seine Haare waren kurz geschnitten. Sein Verteidiger hatte ihm erklärt, dass auch der äußere Eindruck bei der Urteilsfindung eine Rolle spielen würde, insbesondere dann, wenn weibliche Richter mit am Tisch saßen. Das markant männliche Gesicht spiegelte deutlich die Strapazen der Untersuchungshaft und des Prozesses wider.

Mit gemessenen Bewegungen setzte sich der Vorsitzende des Schwurgerichts eine Lesebrille auf, dann hob er ein Blatt Papier. Im Saal hätte man eine Nadel fallen hören können. Mit wohltönendem Bariton und tragender Stimme verkündete er das Urteil.

»Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte Alexander Thannenberger wird wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.«

Es trat eine Pause ein.

Der Kopf des Angeklagten sank ein Stück nach vorne. Die Schultern des Verteidigers senkten sich resignierend um einige Nuancen, die Körpersprache des Staatsanwalts hingegen verriet seinen Triumph.

Der Vorsitzende wartete, bis seine Worte verklungen waren und ihr Sinn in die Köpfe der Anwesenden eingedrungen war. Schließlich ließ er das Blatt sinken und machte eine sparsame Handbewegung. »Nehmen Sie bitte wieder Platz.« Gleichzeitig ließ auch er sich auf seinem Stuhl nieder. Die neben ihm stehenden Mitglieder des Schwurgerichts folgten seinem Beispiel.

Die mündliche Urteilsbegründung dauerte knappe zwanzig Minuten, dann war der Prozess beendet. Die Gesichter der Menschen im Schwurgerichtssaal zeigten ein breites Spektrum an Gefühlen. Je nachdem, in welchem Verhältnis sie zu dem soeben Verurteilten bzw. dem Opfer standen.

Nachdem der Vorsitzende des Schwurgerichts die Verhandlung geschlossen hatte, mussten die beiden Justizwachtmeister den Verurteilten stützen, damit er nicht zusammenbrach. Langsam ließ er sich auf die Anklagebank sinken. Seine gesamte Willenskraft, die ihn während des zwei Tage dauernden Schwurgerichtsprozesses hatte Haltung bewahren lassen, war verbraucht. Sein Verteidiger beugte sich über ihn und redete beschwichtigend auf ihn ein. Die Wachtmeister gewährten ihm noch einen Augenblick, dann drängten sie zum Aufbruch. Das Gericht hatte die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Der Verurteilte war wieder abzuführen.

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Jahre später

Der Mann im weißen Arztkittel sah sein Gegenüber über die Schreibtischplatte hinweg ernst an. Vor ihm lag aufgeschlagen eine nicht sonderlich dicke Patientenakte. Seine Hand ruhte schwer auf der letzten Seite eines Befundes.

»Es tut mir schrecklich leid, dass ich Ihnen nichts Positiveres sagen kann.« Mit diesem Satz schloss der Arzt seine Ausführungen, mit denen er gerade seinem Patienten das umfangreiche Untersuchungsergebnis erläutert hatte. Einen Moment lang herrschte Sprachlosigkeit.

Der Patient spielte mit den Fingerspitzen an einer der beiden Metallschließen herum, mit denen die Träger seiner blauen Latzhose festgehalten wurden. Es war das einzige Zeichen von Nervosität, das dem Mann anzusehen war. Ansonsten saß er ruhig auf dem einfachen Holzstuhl und starrte auf die Buchstaben, die von der Hand des Arztes weitgehend verdeckt wurden. Es war schon erstaunlich, wie wenig Platz ein Todesurteil benötigte, dachte er.

»Wie lange noch?«, durchbrach er das Schweigen. Seine Stimme klang angespannt und heiser.

Der Arzt hob leicht die Schultern. Er war sich sehr wohl bewusst, dass die Antwort auf diese Frage in ihrer psychologischen Wirkung der Nennung einer Frist bis zur Vollstreckung einer Hinrichtung gleichkam.

»Es ist schwer, hier eine Prognose zu wagen.«

»Jetzt sagen Sie schon! Ein Jahr … oder weniger? Reden Sie, ich werde schon nicht zusammenbrechen.«

Die Worte des Mannes kamen gepresst und zerstörten damit den Versuch, Gelassenheit zu demonstrieren.

Der Arzt atmete tief durch und erklärte mit gesenkter Stimme: »Drei Monate … vielleicht ein halbes Jahr. Aber das sind nur Annahmen, die auf statistischen Erfahrungen beruhen. Eine verbindliche Auskunft kann Ihnen leider niemand geben …« Seine Stimme verklang. Die Antwort stand schwer im Raum und gewann an bedrückender Endgültigkeit durch das neuerliche Schweigen. Schließlich fuhr er fort: »Ich werde natürlich versuchen, Ihnen, soweit es in meiner Macht liegt, durch die Verabreichung entsprechender Medikamente Schmerzen zu ersparen. Wenn der Krebs allerdings weiter fortschreitet, wäre dann an eine Verlegung auf eine Palliativstation zu denken. Wir sind hier für die Betreuung derart schwerer Fälle nicht eingerichtet.« Er unterbrach sich erneut, dann fügte er hinzu: »Es tut mir wirklich sehr leid für Sie.«

Der Patient erhob sich. »Schon gut, Doktor.«

»Wir sehen uns in einer Woche wieder«, erklärte der Arzt und gab ihm über die Schreibtischfläche hinweg die Hand.

Der Mann verließ das Sprechzimmer. Der Arzt starrte geraume Zeit auf die geschlossene Tür. Er hasste solche Gespräche. Trotz aller Professionalität waren sie emotional immer sehr anstrengend.

Draußen, im kleinen Wartezimmer, erhob sich ein Mann in Uniform, der hier gewartet hatte.

»Und, wie sieht es aus?«, wollte er wissen.

»Ich habe gerade eine massive Haftverkürzung bekommen«, erwiderte er mit bitterer Ironie. Der Versuch eines Grinsens misslang im Ansatz. »Drei Monate bis ein halbes Jahr hat der Medizinmann gemeint. Also ein überschaubarer Zeitraum, bis ein neuer Mieter in meine Zelle einziehen kann.«

»Mist!«, gab der Vollzugsbeamte zurück. Was sollte er auch sagen? Dass der Strafgefangene Alexander Thannenberger, der wegen Mordes zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt war und diese Strafe hier, in der Justizvollzugsanstalt Straubing, seit sechs Jahren abbüßte, Krebs im Endstadium hatte, war ihm bekannt. Diese unerbittliche Prognose überraschte aber auch ihn. Gewiss, die Vollzugsbeamten, die regelmäßig mit den Lebenslänglichen zu tun hatten, waren gehalten, kein allzu persönliches Verhältnis zu den Gefangenen aufzubauen. Freundlich ja, aber immer mit einer gewissen Distanz, damit die Dienstpflicht nicht darunter litt. Die Grenzlinien mussten immer klar definiert sein. Trotzdem konnte es nicht ausbleiben, dass man zu bestimmten Gefangenen eine andere Beziehung aufbaute als zu den übrigen. Thannenberger war so einer. Er war ein sehr ruhiger, stets höflicher Zeitgenosse, der den Beamten nie Schwierigkeiten machte. Eigentlich ein Musterhäftling. Der Gefangene hielt seine Zelle in Ordnung, achtete auf seine Körperhygiene und legte sich nie mit seinen Mitsträflingen an. Seit er wegen seiner Krankheit nicht mehr in der anstaltseigenen Werkstatt arbeiten konnte, hatte man ihm eine leichte Tätigkeit in der Bibliothek übertragen, die er sehr sorgfältig ausübte.

Thannenberger und der Beamte waren an der Zelle angekommen, die seit Jahren der Lebensmittelpunkt des Gefangenen war. Der Uniformierte schloss die Tür auf und schob den Riegel zurück. Er öffnete sie bis zur Wand. Tagsüber wurden die Lebenslänglichen, die sich ordentlich führten, nicht eingeschlossen.

»Es ist Zeit für Ihre Medikamente«, stellte der Bedienstete fest, während er routiniert seinen prüfenden Blick durch die Zelle gleiten ließ. »Ich werde sie Ihnen gleich vorbeibringen.«

Thannenberger nickte und setzte sich auf sein ordentlich gemachtes Bett. Eine einfache Bettstatt aus Metall, verschweißt und nicht geschraubt, damit sie nicht zerlegt werden konnte, mit einer Matratze, einem dünnen Kissen und einer gleichfalls einfachen Zudecke. Beide mit einem blaukarierten Stoff bezogen. Er hörte, wie die Schritte des Vollzugsbeamten auf dem Gang verhallten.

Er warf einen Blick zum Fenster, das sich an der Schmalseite der Zelle zur Außenwand hin, dicht unter der Decke befand. Aus Sicherheitsgründen ließ es sich nur leicht kippen. An heißen Tagen war die Hitze im Raum nur schwer zu ertragen. Durch die verschmutzten Scheiben konnte man die stabilen Außengitter erkennen.

Thannenberger erhob sich. Zum Wasserbecken waren es nur zwei Schritte. Durstig trank er einen Schluck aus der hohlen Hand. Die Zelle hatte gerade mal knappe neun Quadratmeter, wovon ein Großteil von Bett, Tisch, Stuhl, einem schmalen Spind und der in der Ecke eingebauten Edelstahltoilette verbraucht wurde. Als Lebenslänglichem war es ihm grundsätzlich gestattet, ein Mindestmaß an individueller Einrichtung zu haben. Sie erschöpfte sich bei ihm allerdings in einem Landschaftsposter über dem Bett, das eine Flussaue zeigte, und zwei Fotografien, die er mit Klebepads am Spind befestigt hatte. Beide zeigten eine Frau mittleren Alters in verschiedenen Posen, die freundlich in die Kamera lächelte.

Als er sich auf dem Stuhl am Tisch niederließ, fuhr ein zuckender Schmerz durch seinen Leib. Unwillkürlich krümmte er sich zusammen und stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus. Sein körpereigener Mitbewohner brachte sich wieder brutal in Erinnerung. Schlagartig trat ihm kalter Schweiß auf die Stirn. Mühsam schleppte er sich zum Bett. In Embryonalhaltung blieb er liegen und biss die Zähne zusammen. Diese Anfälle kamen in der letzten Zeit immer häufiger und heftiger. Nach einigen Minuten ebbte die Schmerzwelle wieder ab, und er konnte sich aufrichten. Gerade rechtzeitig hatte er sich wieder in der Gewalt, als der Vollzugsbeamte in der Tür stand.

»So, hier habe ich Ihre Tabletten«, erklärte er. Er hob eine kleine durchsichtige Schale aus Kunststoff hoch, in der sich zwei rosa Kapseln befanden. »Sie kennen ja das Prozedere.«

Thannenberger nickte, ging zum Waschbecken und ließ Wasser in einen Plastiktrinkbecher laufen. Der Beamte schüttete ihm dann die beiden Kapseln in die Handfläche, und der Gefangene warf sie sich mit einer schnellen Bewegung in den Mund. Darauf spülte er mit Wasser nach.

»Okay, lassen Sie mich nachsehen«, sagte der Beamte und machte eine auffordernde Handbewegung.

Thannenberger öffnete den Mund weit, und der Mann warf einen flüchtigen Blick in seine Mundhöhle. Damit war den Bestimmungen Genüge getan.

»In Ordnung«, erklärte er, nahm das Tablettenbehältnis und steckte es in die Tasche seiner Uniformjacke. »Ich hoffe, es wird dadurch für Sie etwas erträglicher.« Sein Bemühen um menschliche Anteilnahme war offensichtlich.

Thannenberger nickte knapp, dann legte er sich wieder auf sein Bett. Der Bedienstete drehte sich um und verließ die Zelle.

Kaum war der Mann draußen, richtete sich Thannenberger wieder auf, griff zum Mund und brachte die beiden Kapseln zum Vorschein. Er hatte sie bei der Kontrolle mit einer geschickten Bewegung seiner Zunge in die Wangentasche geschoben. Er wusste, dass der Beamte nicht sonderlich genau kontrollierte. Eine steckte er wieder in den Mund und schluckte sie. Das Morphin, das er seit drei Wochen verordnet bekommen hatte, würde seine Schmerzen zumindest so dämpfen, dass er es einigermaßen ertragen konnte. Mit der anderen ging er zum Spind und öffnete ihn. Er entnahm ihm ein Paar frisch gewaschene Socken, die ineinander zusammengerollt waren. Vorsichtig schob er die Kapsel zwischen die Baumwolle. Dabei fühlte er die anderen Kapseln, die er schon angespart hatte. Noch eine Woche, dann hatte er genug zusammen, um es riskieren zu können. In der Gefängnisbibliothek hatte er nachgelesen. Wenn die Überdosis groß genug war, würde eine Atemlähmung eintreten und damit der von ihm gewünschte Tod. Er hatte nicht vor, hier elend zu krepieren.

Der Gefangene legte sich nieder und wartete, bis die Wirkung des Medikaments einsetzte. Nach einer Weile erhob er sich. Aus seinem Spind holte er einen Stapel Briefe, einen Schreibblock und einen Einwegkugelschreiber, damit ließ er sich am Tisch nieder. Er fächerte die Briefe wie Spielkarten vor sich auf. Die Adresse auf jedem Umschlag war mit der zierlichen Handschrift einer Frau geschrieben. Schließlich nahm er den letzten Brief in die Hand, den er etwa vor einer Woche bekommen hatte. Obwohl er den Inhalt fast auswendig kannte, las er jeden Satz und genoss erneut die liebevolle Botschaft, die die Zeilen enthielten. Dann legte er die beiden auf der Vorder- und Rückseite beschriebenen Blätter zur Seite und griff sich den Schreibblock. Einige Zeit starrte er auf das leere, linierte Blatt, dann beugte er sich vor und begann zu schreiben. Schweren Herzens hatte er sich entschieden, endlich die ungeschminkte Wahrheit zu sagen.

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Fünf Monate später

Die Nachmittagssonne schien leicht schräg durch das Blätterdach der hohen Buchen und malte bizarre Muster auf den Asphalt des Weges. Es war brütend heiß, es ging kaum ein Luftzug.

Nur eine einzige Person folgte in kurzem Abstand dem dunkel gekleideten Mann, der würdevoll, gemessenen Schrittes über den Weg des Friedwalds im Waldfriedhof von Würzburg ging. Der Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens Ewiger Frieden trug die schlichte Urne mit beiden Händen umfasst. Den Blick hielt er gesenkt.

Für den Bestatter war dies eine Urnenbeisetzung wie jede andere. Dass es Verstorbene gab, die keine Angehörigen mehr besaßen, war in der heutigen Zeit gar nicht so selten, wie man dachte.

Für die Leiche dieses Verstorbenen hatte die Person hinter ihm eine Feuerbestattung bestellt und auch den entsprechenden Baum für die Urnenbeisetzung ausgewählt. Bis zu dem kleinen Loch im Waldboden, das einer seiner Mitarbeiter gestern Nachmittag am Fuße der alten Buche ausgehoben hatte, waren es nur noch wenige Schritte.

Der Bestatter blieb, nachdem sie die Öffnung erreicht hatten, in Respekt bekundender, leicht gebeugter Haltung stehen, ehe er die Urne an zwei Bändern in das Grab senkte. Er verneigte sich kurz, dann drehte er sich um und gab der Person hinter ihm die Hand. Wortlos wandte er sich ab und verließ langsam den Ort der Beisetzung. In einer Stunde würde die kleine Grube durch einen Mitarbeiter des Unternehmens wieder geschlossen werden. Eine unscheinbare Tafel an der Buche würde darauf hinweisen, dass hier die sterblichen Überreste eines gewissen Alexander Thannenberger bestattet waren. Die Tatsache, dass man den Toten in einer Justizvollzugsanstalt abgeholt hatte, war allerdings etwas von der üblichen Routine bei derartigen Bestattungen abgewichen.

Die Person trat vor und starrte eine ganze Weile mit brennenden Augen in das Erdloch. Ihr fiel es schwer, die aufkommenden Emotionen einigermaßen in den Griff zu bekommen. Schließlich gab sie sich einen Ruck, drehte sich um und verließ den Friedhof. In ihrem Herzen herrschte abgrundtiefe Trauer, die als Nährboden für den abgrundtiefen Hass diente, den die Person empfand. Ein paar Tage der Trauer würde sie sich erlauben, dann hatte sie ein Vermächtnis zu erfüllen.

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Seit Simon Kerner zum Direktor des Amtsgerichts Gemünden am Main ernannt worden war, nahm er sich an einem Tag in der Woche nachmittags Akten mit nach Hause, um dort zu arbeiten. Dabei wählte er Tage, an denen er keine Strafsitzungen leiten musste und seine Abwesenheit vom Büro vertretbar war. An diesen Tagen zog er es vor, im angenehmen Ambiente seiner Jagdhütte zu arbeiten. Hier in der freien Natur war das Studium der Unterlagen fast schon erholsam. Zuvor fuhr er jedoch nach Lohr in ein Studio für Kampfsport, um sich körperlich fit zu halten. Danach erst setzte er sich vor die Jagdhütte und arbeitete. Kurz bevor die Dämmerung hereinbrach, vertauschte er dann das Diktiergerät mit dem Jagdgewehr und ging auf die Pirsch.

Heute war Donnerstag, und er hatte sitzungsfrei. Es war ein heißer Sommertag mit Temperaturen, bei denen in der Stadt der Asphalt schmolz. Das Training war heute besonders anstrengend gewesen. Zum Glück wehte hier auf der Spessarthöhe eine leichte Brise, so dass die Hitze zu ertragen war. Steffi, seine Lebensgefährtin, beneidete ihn dafür, dass es ihm die Unabhängigkeit des Richteramtes ermöglichte, einen Teil seiner Arbeit auch zu Hause zu erledigen. Sie musste es hingegen in der Hitze der Physiopraxis aushalten.

Seit Kerner in seiner vorherigen beruflichen Position als Oberstaatsanwalt gegen den Emolino-Klan ermittelt hatte, waren mittlerweile mehr als drei Jahre vergangen. Nach dem Tod Don Emolinos hatten die Ermittler des Landeskriminalamtes den Fall übernommen und dem Nachfolger des Mafiapaten systematisch das Handwerk gelegt. Don Trospanini war in die Netze der Steuerfahndung geraten und zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nachdem die Strukturen des Emolino-Klans zerschlagen waren, verschwand er sang- und klanglos aus Gemünden.

Kerner gab sich natürlich nicht der irrigen Illusion hin, damit das organisierte Verbrechen aus Main-Spessart verbannt zu haben. Sicher nicht. Die Mafia hatte allerdings einen harten Schlag erhalten, von dem sie sich so schnell nicht wieder erholen würde.

Er warf einen Blick zum Himmel. Die Sonne war dem Horizont ein ganzes Stück näher gekommen. Seine Armbanduhr ermahnte ihn, sich für die Jagd fertig zu machen. Kerner klappte die Akte zu, die er gerade bearbeitete, schaltete das Diktiergerät aus und erhob sich. In einem Zug trank er das Glas Wasser leer, das auf der Platte des grob behauenen Tisches stand, dann packte er seine Arbeitsutensilien in einen geräumigen Aktenkoffer und stellte diesen im Inneren neben der Tür unter die Garderobe. Nach kurzem Nachdenken entschied er sich, die Shorts gegen eine lange Jagdhose zu tauschen. Selbst wenn die Tage sehr warm waren, konnten die Abende hier im Wald recht frisch werden. Außerdem schützte sie vor den allgegenwärtigen Zecken.

Bevor er sich auf den Weg zum Hochsitz machte, wollte er noch kurz die Toilette aufsuchen. Das Häuschen mit dem Herzen in der Tür befand sich etwa vierzig Meter von der Hütte entfernt. Es war über einen schmalen Trampelpfad, der vom Haus aus nicht eingesehen werden konnte, zu erreichen.

Simon Kerner war in Gedanken noch bei dem Urteilstext, den er gerade diktiert hatte, und achtete nicht sonderlich auf seine Umgebung. Als er das Toilettenhäuschen erreichte und die Hand nach der Tür ausstreckte, wurde er heftig aus seinen Überlegungen gerissen. Abrupt blieb er stehen und gab einen Laut der Verwunderung von sich. Das Holz der Tür war im Laufe der Jahre stark nachgedunkelt. Daher hob sich der tote, schwarze Vogel auf den ersten Blick kaum davon ab. Das Makabre an der Situation war aber die Tatsache, dass jemand das Tier mit Reißzwecken an die Bretter geheftet hatte.

»Verdammt«, stieß Kerner hervor, »was ist denn das für eine Schweinerei?« Er betrachtete den Vogel genauer. Es handelte sich eindeutig um eine Rabenkrähe.

Mit ausgebreiteten Schwingen hing sie mit dem Rücken zum Holz. Ihr Kopf baumelte haltlos nach vorne auf die Brust. Schockierend war, dass man der Krähe beide Augen ausgestochen hatte. Einzelne Blutstropfen hingen wie kleine Tränen am Schnabel. Das Brustgefieder war blutig, und man konnte ein kleines Loch erkennen. Offenbar eine Schussverletzung. Instinktiv musterte Kerner die Umgebung um die Toilette. Hier, unter dem Dach alter Buchen, war in den letzten Jahren dichter Unterwuchs hochgekommen, der sein Blickfeld stark einschränkte. Es war weit und breit niemand zu sehen. Kerner wandte sich wieder dem Vogel zu. Vorsichtig berührte er mit der Fingerspitze einen Blutstropfen. Die Flüssigkeit war noch nicht vollständig geronnen. Sein Finger wurde rot. Kerner wusste, was das bedeutete. Diese Erkenntnis trieb ihm einen leichten Schauer über den Rücken. Er hatte sich ungefähr drei Stunden an der Jagdhütte aufgehalten. Da das Blut der Krähe noch nicht geronnen war, musste der Vogel während seiner Anwesenheit hier aufgehängt worden sein. Kerner hatte keinerlei Geräusche gehört. Wenn ihm der Urheber dieser mysteriösen Inszenierung auflauern wollten, hätte er dies ohne Problem tun können. Für Kerner stand fest: Damit wurde ihm eine Botschaft übermittelt. Eine Nachricht, deren Sinn sich ihm allerdings nicht erschloss. Mit der Spitze seines Jagdmessers zog er die Reißzwecken aus dem Holz und nahm die Krähe in die Hand. Sie war noch nicht steif, konnte also noch nicht lange tot sein. Kerner drehte den Körper in der Hand. Der Einschuss stammte vermutlich von einer Kleinkaliberwaffe. Der Ausschuss war kalibergroß, also vermutlich ein Vollmantelgeschoss.

Simon Kerner kehrte zur Hütte zurück. Die Jagd war ihm heute vergällt, und so ließ er sich auf der Eckbank, die in den Winkel zwischen zwei Fenstern eingepasst war, nieder. Die tote Krähe legte er auf den Tisch, mit einer alten Zeitung als Unterlage. Nachdenklich betrachtete er das auch im Tod noch glänzende Gefieder.

Kerner lebte schon lange genug im ländlichen Bereich des Spessarts, um zu wissen, dass das Annageln einer toten Rabenkrähe nicht von ungefähr kam, sondern eine tiefere Bedeutung hatte. Er wusste um die Praxis mancher Bauern, tote Krähen auf dem Feld an Stangen anzunageln, um Artgenossen fernzuhalten. Große Schwärme von Saatkrähen konnten auf frisch angesäten Feldern enorme Schäden anrichten. Es gab aber noch eine ganz andere Bedeutung solcher Handlungen, die ins Mystische gingen und einem tief verwurzelten Aberglauben entsprangen: Rabenvögel galten als Boten des Todes! Kerner hatte keine Ahnung, was der Verursacher mit seiner morbiden Handlung bezweckte. Sollte das eine Mahnung oder gar eine Drohung sein? Der nächstliegende Gedanke führte natürlich zu seinem Beruf als Richter. Der Vogel war erschossen worden, was aber sicher keinen Hinweis auf eine konkrete Täterschaft ermöglichte. In der ländlichen Bevölkerung des Spessarts gab es mit Sicherheit noch eine ganze Anzahl unregistrierter Schusswaffen, insbesondere Kleinkalibergewehre. Seit Generationen wurde mit solchen Waffen dem Ungeziefer auf den Höfen der Garaus gemacht – was auch immer man darunter verstand.

Kerner betrachtete den Vogel nochmals eingehend, dann wickelte er den Kadaver in die Zeitung und erhob sich. Aus dem an die Hütte angebauten Werkzeugraum holte er einen Spaten und vergrub das Tier ein Stück von der Hütte entfernt im Wald. Er war sich zwar sicher, dass der Fuchs den Kadaver in der Nacht ausgraben würde, trotzdem widerstrebte es ihm, das Tier einfach in den Wald zu werfen.

Wenig später, die Dämmerung war nun schon stark fortgeschritten, verschloss er die Jagdhütte, legte sein Jagdgewehr und die anderen Utensilien nebst seiner Aktentasche in seinen Defender und fuhr nach Hause. Kerner hatte keine Ahnung, dass ihn dabei zwei Augen durch ein Fernglas aufmerksam beobachteten.

Nachdem sich die Scheinwerfer des Geländewagens im Wald verloren hatten, verließ eine hochgewachsene männliche Gestalt im Tarnanzug ihren Platz zwischen mehreren dicht stehenden Fichten und näherte sich der Hütte. Mit wenigen Schritten war der Mann an der Stelle, wo Kerner die Krähe vergraben hatte, und lockerte mit einem trockenen Ast das lose Erdreich. Kerner hatte die Erde nur dürftig festgetreten. Nachdem er den Kadaver in Händen hielt, schob er das kleine Erdloch mit den Schuhen wieder zu. Der Mann säuberte das Gefieder der Krähe nur notdürftig, dann fasste er den Vogel bei den Krallen und marschierte durch die Dunkelheit davon. Das Tier wurde noch gebraucht. Ein Grinsen überzog sein Gesicht.

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Donnerstagnacht. Die Uhr des nächsten Kirchturms hatte gerade die zweite Stunde geschlagen. Es war Neumond, so dass die schmale Seitenstraße im Würzburger Stadtteil Frauenland nur vom Schein der in Abständen aufgestellten Bogenlampen einigermaßen erhellt wurde. Ihr weißliches Neonlicht hatte Mühe, das dichte Blätterdach der dicht belaubten, alten Ahornbäume zu durchdringen, die links und rechts entlang des Gehsteigs standen.

Die Haustür des leicht zurückgesetzten Einfamilienhauses öffnete sich langsam, fast zögernd. Das Licht des Flures fiel nach draußen und riss einen Streifen ungepflegter Beete aus der Dunkelheit, unterbrochen durch den verzerrten Schatten einer von hinten angestrahlten, hoch gewachsenen, leicht gebeugten Gestalt. Der nur mit einem blauweiß gestreiften Schlafanzug gekleidete Mann hatte offensichtlich Mühe, seine Bewegungen zu koordinieren. Einerseits versuchte er, die Haustür aufzuhalten, andererseits wollte er mit einem Rollator die Türschwelle überschreiten. Mit den kurzen, tippelnden Schritten eines gehbehinderten, älteren Menschen schaffte er es schließlich und bewegte sich nun über die flache, behindertengerechte Steinrampe in Richtung der Vorgartentür. Der Mann war barfuß, doch das schien ihn nicht zu stören. Es war ja Sommer und nachts herrschten angenehme Temperaturen. Auch dass die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, schien er nicht zur Kenntnis zu nehmen. Der kurze Weg zum Tor war rechts und links mit LED-Leuchten erhellt, die mit einem Bewegungsschalter ausgestattet waren.

Der Mann war in Panik. Seine dünnen, schlohweißen Haare standen wirr von seinem Kopf ab. Die Augen hatte er vor Erregung weit aufgerissen. Sein Sehvermögen war besonders in der Nacht stark eingeschränkt, und seine Brille lag drinnen auf dem Nachttisch.

Er suchte nach seinem Jungen.

Der Anrufer hatte ihn aus dem Tiefschlaf gerissen und ihm mit eindringlicher Stimme erklärt, er müsse sofort vor das Haus kommen, weil Michael, sein Sohn, von einem Auto angefahren worden sei. Er läge schwer verletzt direkt vor dem Grundstück.

Mit zitternder Hand ließ der alte Mann den Griff des Rollators los und zog die Gartentür auf. Dabei taumelte er etwas, weil ihm leicht schwindelig wurde. Sein Kreislauf war durch das hektische Aufstehen völlig durcheinander. Die Aufregung ließ seinen Puls rasen. Er passierte die Tür und trat auf den Gehsteig hinaus. Die grobe Körnung des Asphalts stach ihn in die weichen Fußsohlen. Er registrierte es kaum. Verwirrt suchte er die Straße ab. »Michael«, rief er dann mit brüchiger Stimme, die kaum ein paar Meter weit trug. Noch einmal: »Michael!« Aber da war nichts.

Er schob seine Gehhilfe über den auf Höhe des Eingangs abgesenkten Bordstein auf die Straße. Etwas verloren stand er mitten auf der nächtlichen Fahrbahn und stammelte den Namen seines Sohnes. Keiner hörte seine schwache Stimme. Alle Häuser dieser Wohnstraße lagen in Dunkelheit. Die Bewohner schliefen.

Keiner sah das unbeleuchtete schwarze Auto, das sich einen guten Steinwurf weit entfernt vom Bordstein löste und sich langsam rollend, fast schleichend der einsamen Gestalt näherte. Etwa sechzig Meter vor dem Mann heulte der Motor plötzlich auf, und der Wagen fuhr mit voller Beschleunigung auf den Alten zu. Als der frontal angebrachte Rammbügel des massigen Geländefahrzeugs auf den mageren Körper des alten Mannes traf, gab es ein klatschendes Geräusch. In hohem Bogen wurde er über die Kühlerhaube nach oben geschleudert. Hart schlug er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe des Fahrzeugs, das ungebremst weiterfuhr. Das Sicherheitsglas erhielt sternförmige Risse, die vom zentralen Auftreffpunkt des Schädels ausgingen. Ein deutlich sichtbarer Blutfleck im Zentrum des Aufschlages zeugte von der Wucht des Zusammenpralls. Der Körper des Mannes wurde seitlich von der Motorhaube geschleudert und schlug hart gegen den Bordstein. Der völlig deformierte Rollator landete ein Stück weit entfernt im Rinnstein.

Erst ein Stück hinter der Kollisionsstelle bremste der Wagen abrupt ab. Grell durchschnitten die glutroten Bremsleuchten die Nacht. Die Fahrertür wurde aufgerissen, eine Gestalt sprang heraus und näherte sich dem gestürzten Greis. Die Pistole mit Schalldämpfer zuckte zweimal in ihrer Hand, dann hastete sie wieder zum Wagen zurück. Mit durchdrehenden Reifen preschte das Fahrzeug die Straße entlang. Erst an der nächsten Kurve wurde das Fahrlicht eingeschaltet.

Ein Bewohner aus einem der Nachbarhäuser, der einen leichten Schlaf hatte, wurde von dem Schlag der Kollision und dem späteren Quietschen der Reifen aufgeweckt. Schlaftrunken erhob er sich und sah von seinem Schlafzimmerfenster aus auf die Straße. Er fragte sich erbost, welcher rücksichtslose Mensch mitten in der Nacht einen derartigen Lärm verursachte. Verärgert wollte er sich schon wieder zurück ins Bett legen, als er die bewegungslose Gestalt im gestreiften Schlafanzug im Rinnstein liegen sah. Schlagartig war er wach. Er schlüpfte in seine Hose und rannte hinaus. Mit Entsetzen erkannte er unter der blutigen Maske das Gesicht seines Nachbarn.

Wenig später konnte der herbeigerufene Notarzt nur noch den Tod Dr. Wilhelm Kürschners, des pensionierten Vorsitzenden Richters des Landgerichts Würzburg, feststellen. Der Aufprall hatte ihm das Genick gebrochen und der Bordstein den Schädel eingeschlagen. Die beiden Schüsse in seine Augen wären gar nicht mehr erforderlich gewesen. Der Täter hatte die Augenhöhlen in zwei blutige Seen verwandelt. Das Blut verschwand als schmales Rinnsal im zwei Meter entfernten Gully. Der Notarzt alarmierte die Einsatzzentrale der Polizei. Wenig später traf die Mordkommission ein und verwandelte die stille Seitenstraße in einen emsigen Ameisenhaufen.

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Erster Kriminalhauptkommissar Eberhard Brunner hob sein Weinglas und prostete seinem Gegenüber zu.

»Zum Wohl, Simon, schön, dass du wieder einmal einen gemeinsamen Schoppenabend ermöglichen konntest. Seitdem du in Gemünden die höheren Weihen eines Amtsgerichtsdirektors erhalten hast, sehen wir uns ja kaum noch.«

In der Zeit, als Simon Kerner in seiner Funktion als Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Würzburg das große Ermittlungsverfahren gegen die Mafia-Familie Emolino im Landkreis Main-Spessart durchführte, war Brunner der Leiter der mit den Ermittlungen beauftragten Sonderkommission Spessartblues. Nach Beendigung des Verfahrens und der Auflösung der Sonderkommission hatte man Brunner zum Leiter des Kommissariats 1 der Würzburger Mordkommission ernannt.

Simon Kerner trank, dann setzte er sein Glas langsam wieder ab. »Da kann ich dir nur beipflichten. Weißt du, für mich besteht im Grunde eigentlich keine Notwendigkeit mehr, nach Würzburg zu fahren. Mal abgesehen von jährlich ein bis zwei Dienstbesprechungen am Landgericht. Ich pendle zwischen meiner Wohnung in Partenstein und dem Gericht in Gemünden hin und her und wenn Steffi und ich etwas einkaufen wollen, fahren wir nach Lohr oder Karlstadt. Das sind für uns die kürzesten Wege. Da bekommen wir eigentlich alles, was wir so benötigen, und haben nicht den Stress wie in der Großstadt.«

Die beiden, die seit der gemeinsamen Ermittlungsarbeit im Emolinofall Freunde geworden waren, saßen in der Weinstube Johanniterbäck und genossen einen fruchtigen Silvaner. Gerne hatte Kerner Brunners Einladung angenommen, die Nacht bei ihm im Gästezimmer zu verbringen. So konnte er ohne Rücksicht auf Promillegrenzen zusammen mit dem Freund den Abend genießen und sich ein paar Schoppen gönnen. Morgen war Samstag, und er musste nicht ins Büro.

Durch das Gespräch schweiften Kerners Gedanken für einen Moment in die Vergangenheit zurück. Er war damals hart an die Grenzen seiner Integrität gestoßen, weil er lange Zeit geglaubt hatte, durch einen schrecklichen Zufall auf der Jagd den Sohn des Mafiabosses, gegen den er ermittelte, erschossen zu haben. Die Mafia entführte daraufhin seine Freundin und drohte ihm mit deren Tod. Unter diesem Zwang hatte sich Kerner nach schwersten inneren Kämpfen einige Zeit in der Grauzone des Gesetzes bewegt. Dank seiner Fähigkeiten, die er sich als Offizier einer Elitekampftruppe der Bundeswehr angeeignet hatte, gelang es ihm schließlich, Steffi zu befreien. Der Hinrichtung durch die Mafia waren Steffi und er nur knapp entgangen. Kerner würde niemals vergessen, dass er in diesem Kampf in die Abgründe seines eigenen Ichs geblickt hatte. Noch heute setzte er sich immer wieder mit der Tatsache auseinander, dass durch ihn Menschen zu Tode gekommen waren. Es war für ihn noch immer erschütternd, wenn er sich bewusst machte, wie fragil auch bei ihm die Zivilisationsschicht war. Seitdem beurteilte er die Verfehlungen der Menschen, die vor ihm als Richter standen, aus einem erweiterten Blickwinkel.

Brunner bemerkte, dass sein Freund kurze Zeit geistesabwesend war. Der Kripobeamte konnte sich denken, wohin Kerners Gedanken abgeglitten waren. Auch Brunner war in dem damaligen Fall hart an die Grenzen seiner Loyalität gegenüber dem Gesetz einerseits und dem Freund andererseits gestoßen. Beide wussten, dass durch dieses Kapitel ihres Lebens ein schwarzer Schatten auf ihre ansonsten weißen Westen gefallen war.

Brunner hielt einen abrupten Themenwechsel für angebracht.

»Hast du übrigens mitbekommen, dass vor zwei Tagen Dr. Kürschner verstorben ist? Dr. Wilhelm Kürschner, du kannst dich doch an ihn erinnern? Er war lange Zeit beim Landgericht Würzburg der Vorsitzende des Schwurgerichts. Ein harter Knochen, bei dem die Angeklagten nichts zu lachen hatten.«

Kerner hatte den plötzlichen Themenwechsel noch nicht ganz nachvollzogen. Es dauerte einen Augenblick, bis er aus seiner Gedankenwelt in die Gegenwart zurückgekehrt war und Brunners Worte verinnerlicht hatte. Zustimmend nickte er.

»Natürlich erinnere ich mich an Dr. Kürschner. Wir haben ihn damals bei der Staatsanwaltschaft hinter vorgehaltener Hand Dr. Gnadenlos genannt. Ein äußerst fähiger Jurist, aber wirklich knallhart in seinen Entscheidungen. Eine Anklage vor dem Schwurgericht endete fast zu hundert Prozent mit einer Verurteilung. Lass mich überlegen, so alt dürfte er doch noch gar nicht gewesen sein. Es stand gar nichts in der Zeitung.«

»Es war kein natürlicher Tod. Eine äußerst unschöne Sache. Er wurde vor seinem Haus von einem Auto überfahren. Aus den Spuren zu schließen, vorsätzlich. Wir haben ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der Zusammenstoß war so stark, dass er an den Folgen sofort verstorben ist. Damit hat sich der Täter aber nicht zufrieden gegeben. Nach der Kollision ist der Fahrer oder Beifahrer ausgestiegen, zu dem alten Mann hingegangen und hat ihm gezielt aus nächster Nähe in beide Augen geschossen.«

»Das ist ja total pervers! Das sieht ja fast so aus, als wollte der Täter eine Botschaft hinterlassen. Riecht irgendwie nach einer Rachehandlung oder einem Ritualmord.«

»Wir tappen im Augenblick noch völlig im Dunkeln. Laut Aussage der Nachbarn war Dr. Kürschner ziemlich dement. Wieso er mitten in der Nacht auf die Straße gelaufen ist, ist noch rätselhaft. Ein paar Kilometer entfernt, in der Nähe des Hubland-Campus haben wir das Tatfahrzeug gefunden. Die Spuren am Fahrzeug waren eindeutig. Es war gestohlen. Der Eigentümer hatte den Diebstahl schon angezeigt. Im Fahrzeug fanden wir keine verwertbaren Spuren, die auf den Täter hindeuteten. Wir ermitteln in Kürschners privatem und in seinem früheren beruflichen Umfeld. Aus ermittlungstechnischen Gründen ging noch nichts an die Presse hinaus. Deshalb konntest du auch noch nichts darüber in der Zeitung lesen.«

Kerner malte nachdenklich mit dem Zeigefinger Striche an sein beschlagenes Weinglas.

»Es würde mich nicht wundern, wenn der oder die Täter in seiner beruflichen Vergangenheit zu finden wären. Dr. Kürschner war wirklich ein knallharter Richter, der keine Kompromisse machte.«

Brunner sah ihn zweifelnd an. »Bei einem Schwurgerichtsprozess entscheiden doch fünf Richter, drei Berufsrichter und zwei Schöffen, über das Urteil. Kann da wirklich der Vorsitzende eine so dominante Rolle spielen?«

»Prinzipiell ist das schon richtig. Die Berufsrichter und die Schöffen stimmen in geheimer Beratung über das Urteil ab, wobei jede Stimme gleichwertig ist. Eigentlich dürfte über die Beratungen nichts nach außen dringen, aber unter Kollegen ist dann hin und wieder mal durchgesickert, dass es keinen Fall gab, bei dem letztlich etwas anderes herausgekommen ist, als sich Dr. Kürschner vorgestellt hatte. Er muss, gelinde gesagt, bei den Urteilsberatungen eine starke Überzeugungskraft gehabt haben. Es war ein offenes Geheimnis, dass Kürschner eine gewisse Affinität zur Todesstrafe hatte und bedauerte, dass man sie in Deutschland abgeschafft hatte. Man kann das ja sogar nachlesen. Er hat sich in seiner Freizeit literarisch mit den teilweise martialischen Strafen früherer Jahrhunderte auseinandergesetzt. Sein Standardwerk über die Hinrichtungsstätten in Würzburg zu Zeiten der Fürstbischöfe und deren Rechtsprechung hat ja in einschlägigen wissenschaftlichen Kreisen durchaus Anerkennung erfahren. Insgesamt betrachtet, war der Kollege schon eine etwas schillernde Juristenpersönlichkeit, was man aber höheren Orts aufgrund seiner fachlichen Fähigkeiten hinnahm.«

»Naja, für uns war es natürlich eine Genugtuung, wenn er einen Straftäter, dem wir mühsam ein Verbrechen nachgewiesen haben, dann auch tatsächlich hinter Gitter geschickt hat. Und das oft auch lebenslänglich.«

Kerner nickte. »Kann ich gut verstehen. Uns Staatsanwälten ging es ja nicht anders. Ich habe damals als Oberstaatsanwalt in zahlreichen Prozessen die Anklage vor dem Schwurgericht vertreten. Ich kann dir sagen, Kürschner hätte in seinen Verhandlungen eigentlich gar keinen Staatsanwalt gebraucht. Da ging es wirklich hart zur Sache. Dabei ist er immer völlig ruhig und freundlich geblieben. Das hat viele Angeklagte und ihre Verteidiger eingelullt. Wenn er dann das Urteil verkündete, hat es manchem Angeklagten regelrecht den Boden unter den Füßen weggezogen.