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Schule interkulturell

Geschichte – Theorie – pädagogische Praxis am Beispiel Nürnberg

Herausgegeben vom Institut für Pädagogik und Schulpsychologie der Stadt Nürnberg

Verfasst von Herwig Emmert, Bernhard Jehle, Diana Liberova, Marissa Pablo-Dürr

Redaktion: Anne Kusterer

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Das Erscheinen des Buches erfolgte
mit freundlicher Unterstützung
der Fritz-Hintermayr-Stiftung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2013
© 2013 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Peter Hellmund
Satz: Hain-Team (www.hain-team.de)
ISBN 978-3-429-03675-1
ISBN 978-3-429-04742-9 (PDF)
ISBN 978-3-429-06156-2 (ePub)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Migration und Bildung seit den 50er Jahren – ein Überblick über die Entwicklung in der Bundesrepublik

1.1 Pädagogik im Zusammenhang von Ökonomie und Politik

1.2 Von der Ausländerpädagogik zur Inklusion – Entwicklung der interkulturellen Pädagogik seit den 60er Jahren

1.3 Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselqualifikation

2. Die Entwicklung in Nürnberg

2.1 Von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Bildung (70er–90er Jahre)

2.2 Erste interkulturelle Trainingsmaßnahmen (2001–2004)

2.3 Das Projekt Interkulturelle Kommunikation an Schulen IKS (2005)

2.4 Qualifizierungen 2005–2009

2.5 Die Reihe „Anstöße – Forum interkultureller Dialog“

2.6 Interkulturelle Projekte (2007–2012)

2.7 Tagungen

2.8 Die Kooperation mit der Bayerischen Staatsregierung

3. Die Expert/inn/enbefragung zur interkulturellen Öffnung der Schulen

3.1 Probleme und Ressourcen von Familien mit Migrationshintergrund

3.2 Vorschläge für schulische Reformen

3.3 Vorschläge zur Fortbildungsarbeit

3.4 Zusammenfassende Folgerungen

4. Konsequenzen für die interkulturelle Arbeit des Instituts für Pädagogik und Schulpsychologie

4.1 Allgemeiner Rahmen

4.2 Die Arbeit in den Jahren 2012 bis 2014

5. Nachwort des Oberbürgermeisters der Stadt Nürnberg

6. Literaturverzeichnis

7. Die Autorinnen und Autoren

8. Stichwortverzeichnis

9. Bildquellenverzeichnis

Übersetzungen des Buchtitels „Schule interkulturell“

Danksagungen

Vorwort

Die nordbayerische Metropole steht für viele Großstädte mit einem sehr hohen Anteil an Eingewanderten. Schon sehr früh hat sie die Öffnung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund als wichtige Aufgabe erkannt. Eine Besonderheit Nürnbergs besteht darin, dass sie anders als die meisten deutschen Städte über ein Kommunales Schulwesen mit eigenen städtischen Realschulen, Gymnasien und Beruflichen Schulen verfügt. Zum Kommunalen Schulwesen gehörten auch das Pädagogische Institut und der Schulpsychologische Dienst. Ein zentrales Profilelement dieser Einrichtungen, die 2012 zum Institut für Pädagogik und Schulpsychologie IPSN fusionierten, stellt die Interkulturelle Bildung dar.

Daraus ergibt sich auch das letzte Kapitel der vorliegenden Veröffentlichung, in dem die künftigen Ziele und Aufgaben für die interkulturelle Arbeit dargestellt werden. Diese könnten auch für andere Städte von Interesse sein.

Die Folgerungen speisen sich aus drei Quellen: Im ersten Teil, dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion, wird die Entwicklung von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Bildung nachgezeichnet, und zwar im Zusammenhang mit dem sozioökonomischen und politischen Hintergrund. Im zweiten Kapitel werden die praktischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte analysiert. Der dritte Abschnitt enthält die Ergebnisse einer Befragung von Expertinnen und Experten.

Die Leserinnen und Leser erhalten mit dieser Untersuchung einen zusammenfassenden Überblick über die Herausbildung einer Pädagogik der Migrationsgesellschaft und exemplarisch einen Einblick in die Bemühungen einer bayerischen Großstadt, Einwanderung als Chance für die Stadtentwicklung zu begreifen.

Entscheidend für unsere Arbeit ist die Vernetzung und Zusammenarbeit mit zahlreichen lokalen und überregionalen Institutionen. Ich bedanke mich bei diesen ebenso herzlich wie bei meinen Mitautor/inn/en, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts, unseren Dozentinnen und Dozenten sowie den Kolleginnen und Kollegen, die uns bei der Expert/inn/enbefragung unterstützt haben. Wir haben sie so weit wie möglich in den Kapiteln zwei und drei und in der Danksagung am Ende des Buches erwähnt. Ein besonderer Dank gebührt dem Oberbürgermeister für sein Nachwort.

Bernhard Jehle
Leiter des Instituts für Pädagogik und Schulpsychologie
der Stadt Nürnberg

1. Migration und Bildung seit den 50er Jahren – ein Überblick über die Entwicklung in der Bundesrepublik

1.1 Pädagogik im Zusammenhang von Ökonomie und Politik

Interkulturelle Kontakte1 hat es zu allen Zeiten gegeben. Sie sind der Normalfall der Geschichte. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutete für die Bundesrepublik eine völlig neue Entwicklung, auf die Gesellschaft, Politik und Wissenschaft nicht vorbereitet waren. Die folgenden Zeilen erläutern die Übersicht auf S. 12.

Mit dem „Wirtschaftswunder“ in den 50er Jahren setzte ein wirtschaftlicher Aufschwung von enormem Ausmaß ein, der einen großen Bedarf an Arbeitskräften mit sich brachte. Die Bundesrepublik Deutschland begann daher 1955 mit der Anwerbung von Männern und Frauen aus den Anrainerländern des Mittelmeers. Geplant war ein Rotationsprinzip: Die „Gastarbeiter“ sollten für einen begrenzten Zeitraum eingestellt werden und dann wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren. Dies erwies sich nach wenigen Jahren als nicht realisierbar, da ein Großteil der Gastarbeiter/innen dauerhaft gebraucht wurde und ihre Familien zu sich holten. Diese Entwicklung veranschaulicht am besten das Diktum von Max Frisch: „Wir riefen Arbeitskräfte, doch es kamen Menschen.“ Der Familiennachzug sollte die weitere Entwicklung nachhaltig prägen und brachte erstmals eine größere Zahl von Einwandererkindern an die deutschen Schulen.

Die pädagogische Antwort darauf waren bis Anfang der 70er Jahre Maßnahmen, die unter dem Begriff Ausländerpädagogik firmierten. Es handelte sich um Nothilfemaßnahmen wie Vorbereitungsklassen zum Ausgleich von Sprachdefiziten oder national homogene muttersprachliche Klassen, die in ihrer Konsequenz Assimilation oder Segregation zur Rückkehrförderung bedeuteten. Mit der Konsolidierung der „Ausländerbeschäftigung“ (Anwerbestopp 1973) wurde das Fehlen einer Eingliederungspolitik sichtbar. In der Pädagogik diskutierte man über Assimilation versus Integration.

Die Jahre 1979/80 markieren einen Wendepunkt der gesellschaftlichen Diskussion. In der Forderung nach dem „kommunalen Wahlrecht für Ausländer“ spitzte sich die Diskussion um Deutschland als Einwanderungsland zu. Hamburg und Schleswig-Holstein beschlossen dieses Wahlrecht, das 1990 vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft wurde.

In den 80er Jahren ging es politisch darum, einen Weg zwischen Integrations- und Begrenzungspolitik zu finden. Die pädagogische Diskussion bewegte sich zwischen Fördermaßnahmen und – erstmals auch – interkultureller Erziehung. Letzterem entsprach das Gesellschaftsbild der „multikulturellen Gesellschaft“.

Die 90er Jahre brachten eine Zunahme von Asylsuchenden und eine starke Einwanderung von Aussiedler/inne/n. Mit der Wahrnehmung dieses Prozesses kamen auch einheimische Minderheiten wie die dänische in Schleswig-Holstein, die sorbische in Sachsen und Brandenburg sowie Sinti und Roma in den Blick. Und auch andere strukturell benachteiligte Gruppen wie Behinderte und Homosexuelle wurden z. T.2 in die Diskussion einbezogen. In der Pädagogik begann sich der Begriff der interkulturellen Bildung (und Erziehung) durchzusetzen. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass interkulturelle Kompetenzen durch die Mobilität innerhalb der Europäischen Union zunehmend als Notwendigkeit betrachtet wurden.

Die Terroranschläge in den USA im September 2001 und die damit verbundenen Ängste vor dem Islamismus stoppten bzw. verzögerten diese Entwicklung. Durch die anschließend verschärften Einwanderungsbedingungen sanken die Zuwanderungszahlen und die politische Debatte konzentrierte sich auf die Steuerungsmöglichkeiten von Einwanderung und eine „Integration“, die sich überwiegend als Akkulturationsunterstützung für die „Zuwanderer“ – der politisch durchgesetzte Begriff für Einwanderinnen und Einwanderer – verstand. Die Ergebnisse der ersten PISA-Studie 2001, die die Benachteiligung von Schüler/inne/n mit Migrationshintergrund offenlegte, führten zu der Erkenntnis, dass eine neue Ausrichtung der Bildungspolitik notwendig sei.

2005 trat das „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“ in Kraft, das die Entwicklung bis heute prägt und trotz seiner Restriktionen wichtige Maßnahmen zu einer Gleichberechtigung von Bürger/inne/n mit Einwanderungsgeschichte ermöglicht. Mit diesem Gesetz erkennt Deutschland nach 50 Jahren offiziell an, dass es ein Einwanderungsland ist. In der Pädagogik setzte sich die Interkulturelle Bildung durch, obgleich auch andere theoretische Ansätze diskutiert werden. Davon handeln die folgenden Kapitel.

50 Jahre Einwanderung und Pädagogik

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Nach Meier-Braun, Karl-Heinz 1995; S. 14–22 und Nieke, Wolfgang 2008

1.2 Von der Ausländerpädagogik zur Inklusion – Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik seit den 60er Jahren

Zu den verwendeten Begriffen

Neben Interkultureller Bildung und Inklusion werden in der folgenden Studie noch die Begriffe interkulturelle Kompetenz und Diversity Management verwendet. Die Definitionen in den Kästen geben wieder, auf welches Verständnis wir uns in unserer Arbeit beziehen.

Interkulturelle Bildung

bezeichnet pädagogische Ansätze, die ein Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft fördern sollen. Sie geht davon aus, dass alle Kulturen grundsätzlich gleichberechtigt sind und alle Beteiligten voneinander lernen können.3 „Interkulturelle Bildung zielt in erster Linie auf Grundhaltungen und geistige Orientierungen ab, die sich aus der Wissensvermittlung allein nicht ergeben, so unverzichtbar diese ist. Entscheidend ist eine Haltung der Offenheit und die Bereitschaft, die eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten zu reflektieren und die eigenen Wertvorstellungen zu relativieren“.4

Inklusive Bildung

„bedeutet, dass allen Menschen – unabhängig von Geschlecht, Behinderung, ethnischer Zugehörigkeit, besonderen Lernbedürfnissen, sozialen oder ökonomischen Voraussetzungen – die gleichen Möglichkeiten offenstehen, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzunehmen und ihre Potentiale zu entwickeln.“ (UNESCO) Inklusion ist der Einschluss aller zu Unterrichtenden in Schulen für alle.5

Interkulturelle Kompetenz

„ist die Fähigkeit eines Individuums, in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen zu agieren; sie wird durch bestimmte Einstellungen, emotionale Aspekte, (inter)kulturelles Wissen, spezielle Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie allgemeine Reflexionskompetenz gefördert. Angemessen und effektiv ist interkulturelles Handeln dann, wenn wichtige ‚kulturelle‘ Regeln, die die Akteure für verbindlich halten, nicht verletzt werden und die Beteiligten das Kommunikationsziel trotzdem erreichen.“6

Diversity Management

Ein „Prinzip der Unternehmensführung, das Differenzen zwischen Menschen als Stärke“7 betrachtet, wodurch eine produktive Gesamtatmosphäre im Unternehmen bzw. in der Einrichtung erreicht werden soll, die Diskriminierung von Minderheiten verhindert und die Chancengleichheit verbessert.8 Diversity Management ist damit eine Weiterentwicklung des Konzepts von Interkultureller Bildung.

Da Interkulturelle Bildung auf einem bestimmten Kulturverständnis fußt, soll auch dies kurz beschrieben werden:

Kultur

„Gesamtheit menschlichen Verhaltens einschließlich der religiösen Normen, Werte und Lebensweisen.“9 Kultur als „ein Fluss von Bedeutungen“10, der durch das Zusammenleben stets neu geschaffen wird. Kultur wird nicht als festes Verhältnis von Raum und der darin lebenden Gruppe verstanden.

„Im Gegensatz zu klassischen Definitionen einer weitgehend homogenen, statischen und in sich geschlossenen Kultur wird heute hervorgehoben, dass Kultur einem ständigen Veränderungsprozess unterliegt, in sich heterogen ist und nicht unbedingt an ein bestimmtes Territorium gebunden ist. Menschen werden zudem als mehreren Kulturen zugehörig betrachtet (z. B. Nationalität, Organisation, Religion, Generation, Familie). In diesem Sinne wird unter Kultur diejenige Lebenswelt verstanden, die eine Person als ‚eigene‘ definiert, weil sie Normalität und Plausibilität bietet und soziales Routinehandeln ermöglicht.“11

Interkultur

meint primär nicht die Interaktion von Menschen verschiedener Ethnien, sondern eine Kultur, die im Miteinander als Organisationsprinzip entsteht. Sie ist Rahmenbedingung für jegliche Handlung, unterliegt einem ständigen Wandel und ermöglicht den Menschen freie Entfaltung.12

Anmerkung zum Begriff „interkulturell“:
Den Begriff „interkulturell“ sehen die Autor/inn/en durchaus kritisch, da er suggerieren kann, es würden sich fest gefügte Kulturgruppen begegnen. Die Inhalte der Begriffe „transkulturell“ (Welsch) oder „migrationsgesellschaftliche13 Öffnung“ (Mecheril) sind zutreffender und beschreiben die Auffassung der Autor/inn/en, dass in unserer Gesellschaft keine eindeutige Zuordnung zu den meist ethnisch definierten Kulturen gibt. Doch hat sich „interkulturell“ mittlerweile im pädagogischen und schulpolitischen Diskurs durchgesetzt und ist damit anschlussfähig.

Ausländerpädagogik

Im Zuge der Beschäftigung von Arbeitsmigrant/inn/en entstand in der BRD das Konzept der Ausländerpädagogik14 als pädagogische Antwort auf die Anwesenheit von ausländischen Kindern an deutschen Schulen. Die Ausländerpädagogik begriff die Anwesenheit von Ausländer/inne/n als historisch neues „Sonderproblem“, als sei das „Ausländersein“ an sich problematisch.

Als gesellschaftliche Antwort auf die Familienzusammenführung gab es grundsätzlich zwei unterschiedliche politische Konzepte, die man als Konzepte der Assimilation und der Segregation bezeichnen kann. Der erste Ansatz prägte vorwiegend die Praxis der sozialdemokratisch, der zweite die der unionsgeführten Bundesländer.

Die Theorie der Assimilation