Bullenhitze

Volker Sebold

BULLENHITZE

von

Volker Sebold

„Gewalt ist stets ein Reich undurchdringlicher Dunkelheit, das wir vermessen, aber niemals vollständig verstehen können.“

Jacques Sémelin

RÜCKBLENDE

1

Der 16. März 1945 war vorüber. Der Main hatte die vergangene Zeit mit fortgenommen, um sie in einem fernen Meer zu ertränken.

Gebäudeskelette streckten ihre Gerippe wie klamme Finger in den Himmel, um Vergebung zu erlangen. Das „Tausendjährige Reich“ hatte Würzburg begraben. Fensterlose Löcher in den Hausruinen glotzten in eine ungewisse Zukunft. Die Festung thronte über den Brückenheiligen, die im Bombenhagel standhaft geblieben waren.

Durch Schutt, den der Bumerang des Terrors hinterlassen hatte, versuchten sich Trümmerfrauen ihre Wege zu bahnen. Sehnsüchtig danach, den Leichengeruch zu verdrängen und das Leben mit allen Poren aufzusaugen.

April 1953. Die Kälte des Winters war noch nicht gewichen. Die Amerikaner besetzten vakante Stellen mit entnazifizierten Deutschen oder solchen, denen es gelang, ihre Fahne in den Wind zu hängen.

Ein schmächtiger Junge, immer hungrig, lief fröhlich pfeifend durch die Straßen. Er blies eine dunkle Haartolle nach oben, kickte den Stein eines geschundenen Hauses vor sich her, während sein Schulranzen auf- und abwippte. Die Hände steckten in den Taschen einer Lederhose. Der Junge hatte gute Laune. Er war der Einzige mit einer Eins in Deutsch gewesen. Darauf war er mächtig stolz. Um seinen Hals baumelte ein Schlüssel.

Der Junge öffnete die Haustür, stieg die Stiegen der Holztreppe hoch bis unters Dach. Die Dielen knarzten unter seinem Schritt.

Kurz bevor er die Wohnungstür aufschloss, ging er noch schnell auf das Klosett im Flur, entließ einen Strahl und freute sich auf das Mittagessen. Wahrscheinlich gab es wieder Kartoffeln und Quark.

Vorsichtig steckte er den Schlüssel ins Schloss. Er wollte die Mutter überraschen mit der Eins. Er tappte durch den kleinen Flur. Kein Essensgeruch. Er wunderte sich. Sein Mund formte „Mama“, als er innehielt. Geräusche, die er nicht kannte. Heftiges Atmen. Männliches Stöhnen. Er erschrak. Schlich weiter. Die Tür des Schlafzimmers war nur angelehnt. Er erkannte, über einen Stuhl gehängt, die Uniform eines Polizisten. Dann blickte er in die Augen seiner Mutter, die ihn ungläubig entrückt anstarrten. Er drehte sich um, rannte aus der Wohnung, durch die Straßen, zum Flussufer. Er weinte und wunderte sich, dass sein Körper immer noch Tränen übrighatte. Wo er doch schon so viele vergießen musste. Der Vater war im Krieg gefallen. Als ob es nur ein Hinfallen gewesen war. Die Sirenen. Der Luftschutzkeller. Die Bomben. In ihm war diese Angst, die ihn nie verlassen werden würde. Dafür war seine Mutter immer für ihn da. Ihre Nähe. Ihre Wärme. Sie war für ihn da. Nur für ihn.

Er spürte einen Stich im Herzen und verstand, dass er sie nun teilen musste. Mit einem fremden Mann. Den er nicht kannte. Nicht kennen lernen wollte. Wut stieg in ihm hoch und ließ die Pflanze Hass in sich keimen.

Ihn fröstelte. Er war zehn Jahre alt. Der Krieg macht einen älter. So spürte er schnell, dass sich im Leben schon wieder etwas Gravierendes verändern werden würde.

Als er Stunden später nach Hause zurückkam, war der Mann verschwunden. Der Blick der Mutter drang durch ihn hindurch, nagelt sich in die Wand. Apathisch schritt sie zu dem kleinen Radio, das auf der Anrichte stand. Sie drückte den elfenbeinfarbenen Knopf. Als swingende Musik der Amerikaner erklang, drehte sie ihren Körper, als sei er schwerelos. Das Kind hatte die Mutter so noch nie gesehen.

Auf dem Tisch lag eine Tafel Schokolade. Für ihn. Er ignorierte den Leckerbissen, ging in sein Zimmer und schloss sich ein.

Das Kind störte. Die Mutter und der Polizist gaben sich die Liebe, die sie in den schweren Zeiten schmerzlich vermissen mussten. Und sie waren nicht bereit, diese Liebe zu teilen. Schon gar nicht mit einem Kind.

Stillschweigend saßen die drei am Frühstückstisch. Der Junge zitterte, als er seine Tasse mit Kakao zum Mund führen wollte. Ein Schluck schwappte heraus, als er die Tasse am Mund ansetzte. Der Kakao besudelte sein Hemd und spritzte auf das Tischtuch. Vor Schreck ließ der Junge die Tasse fallen. Wie in Zeitlupe zerschellte sie auf dem Fußboden. Der restliche Kakao hinterließ eine hässliche braune Spur. Unvermittelt und wortlos schlug ihm der Polizist brutal mit der flachen Hand ins Gesicht. Die Mutter schwieg. Sie stand auf, holte einen Putzlappen und wischte die Flüssigkeit auf.

„Wasch dich!“, flüsterte sie und schob ihren Sohn in Richtung Badezimmer.

„Dein Kind braucht mal eine anständige Erziehung! Hat keine Manieren, der Bengel!“, polterte der Mann.

Das Kind, ängstlich und unsicher, brachte schlechte Noten nach Hause. Bei den kleinsten Verfehlungen brüllte der fremde Mann den Jungen an. Als er es nicht mehr aushielt vor lauter Demütigungen durch den Erwachsenen und den Polizisten einen „Scheiß Nazi“ nannte, holte dieser den hölzernen Kochlöffel aus der Schublade, legte den Jungen übers Knie und prügelte solange auf ihn ein, bis er selbst außer Atem geraten war.

Wenn er seine Mutter flehend, mit verheulten Augen und tiefroten Flecken auf den Oberschenkeln anblickte, sah er nur ihre stumme Verzweiflung und Schwäche.

Der Junge wusste, dass der Mann immer wiederkommen würde. Wieder und wieder. Was hatte er nur, dass seine Mutter ihre Liebe so einseitig vergab? Er zog sich in sein Zimmer zurück und lernte zu schweigen. So oft es ging, verbrachte er die Zeit draußen. Er lernte wie besessen, da er merkte, dass sich seine Gedanken auf diese Art und Weise Freiheit zurückholten. Er betete, dass der Mann möglichst bald, für immer, verschwinden würde.

Nach einem Monat wurde sein Gebet erhört. Der Polizist war in eine üble Kneipenschlägerei verwickelt worden. Er hatte einen Soldaten der us-Armee schwer verletzt. Sein Faustschlag war so hart, dass der Amerikaner die Sehkraft des linken Auges verlor. Er wurde versetzt. Seine Mutter erfuhr die Geschichte von einem befreundeten Mann aus der Verwaltung. Sie nahm das Geschehen scheinbar regungslos hin. Es schien, als habe ihr der Vorfall überhaupt nichts ausgemacht.

Sie widmete sich wieder ihrem Sohn, als sei nie etwas geschehen.

2

Die Mutter lag zu Hause im Bett und konnte sich nicht mehr bewegen. Ein Schlaganfall hatte ihr die Bewegung und das Denken geraubt. Der Sohn, mittlerweile im erwachsenen Alter, kümmerte sich liebevoll um die alte Frau. Er brachte es nicht über das Herz, sie in ein Heim abzuschieben.

Schließlich starb sie. In der Nacht. Ein schneller Tod. Der Sohn fand sie, als er ihr das Frühstück ans Bett bringen wollte. Er nahm ihre kalte Hand in die seine. Seine Gedanken kreisten kurz in der Vergangenheit. Dann gab er ihr einen Kuss auf die Stirn, ging zum Telefon und rief den Hausarzt.

Nie hatte er mit seiner Mutter über deren Verhältnis mit dem Polizisten gesprochen. Mutter und Sohn hatten ihn aus ihrem Leben verdrängt. Das Leben ging weiter. Ihre Beziehung wurde respektvoll, geprägt von höflichen Manieren. Die Mutter hatte seinen beruflichen Werdegang finanziell, soweit es ging, unterstützt. Sie wurde auf ihre alten Tage religiös und ging jeden Sonntag in den Dom zum Gottesdienst. Betete für beide Seelen. Sie bewunderte die teuren Mäntel der Reichen, die sie von der Predigt ein wenig ablenkten. Ihr Sohn blieb zu Hause und verkroch sich in seine Bücher.

Über die Jahre, die sie beide zusammenlebten, vermisste der Junge nur eines: Nie hatte seine Mutter ihm gesagt, dass sie ihn liebte. Er wusste nicht, ob er in dieser Welt willkommen war. Aber er liebte seine Mutter. Verzieh ihr die unsägliche Beziehung zu diesem Monster, das in seinen Träumen immer wiederund wiederkehrte. Ihn mit einem Flammenschwert in Stücke schnitt. Seine Mutter war die Einzige gewesen, die ihm Trost und Wärme spenden konnte, wenn er fror.

Noch am Tag der Beerdigung, spät am Nachmittag, begann der junge Mann die Wohnung auf den Kopf zu stellen. Er war sich selbst nicht im Klaren, nach was er eigentlich suchte. Es war ein innerer Drang, der seit Stunden in ihm wühlte und dem er jetzt nachgab. Es war wohl die Sehnsucht, ein Geheimnis zu lüften, obwohl vielleicht gar keines existierte. Er durchwühlte Mutters Wäsche, das Bettzeug. Sog den Duft ihrer Unterwäsche ein. Durchblätterte alte Bücher. Unbrauchbares warf er in einen Abfallsack.

Als er Der Glöckner von Notre-Dame von Victor Hugo in Händen hielt und darin blätterte, fiel, als er es nach unten hielt und schüttelte, so dass die Seiten in der Zimmerluft flatterten, ein Brief zu Boden. Dessen Inhalt sollte sein Leben für immer verändern. Zitternd las er die schnörkellose Handschrift der Mutter:

Sehr geehrter Herr NSDAP-Kreisleiter,

ich möchte mich als einfache Frau an Sie wenden, weil ich mein Gewissen erleichtern muss. Mein Mann scheint ein Kommunist und Judenfreund zu sein. Als er aus Frankreich auf Heimaturlaub war, lästerte er, dass unser Führer ein dummer, arroganter Mensch ist. Es sei schade, daß das Attentat am 20. Juli nicht geklappt hat, dann wären die Verbrecher jetzt da, wo sie hingehören: in der Hölle. Genauso hat er es gesagt. Ich kann mit so einem Mann nicht mehr zusammenleben. Ich will mich scheiden lassen, aber er möchte das nicht. Ich will nur meine Pflicht gegenüber unserem heroischen Führer tun, weil ich an ihn glaube. Bitte sorgen Sie dafür, dass mein Mann seine verdiente Strafe erhält.

Heil Hitler!

Der Mann vergrub das Gesicht in den Händen. Tränen, es sollten die letzten sein, die er vergoss, rannen ihm in die Mundwinkel, tropften auf die Buchstaben und wuschen etwas Tinte vom Blatt.

Er hatte seinen Vater nie kennenlernen dürfen. Er wurde, das war nachvollziehbar, während eines Fronturlaubes gezeugt. Er war jedoch kein Kind der Liebe. Er war das Kind eines aufgestauten Gefühls. Ein Akt wie ein Blitzkrieg. Schnell und effektiv. Dennoch spürte er eine Bindung zu diesem Mann, der auf den Fotos, die ihm seine Mutter manchmal zeigen musste, so traurige Augen hatte und nie lächelte. Und jetzt, nachdem er den Brief gelesen hatte, kam ihm der Gedanke, dass dieser Soldat vielleicht gar nicht sein leiblicher Vater war. Ihm wurde schwindelig.

Hektisch blätterte er weitere Bücher auf, und tatsächlich, ein weiterer Brief entglitt. Diesmal aus Goethes Gesammelten Werken.

Der Absender: Nachkriegsgericht Würzburg. Er las rasend schnell. Zweimal hintereinander. Dem Inhalt entnahm er, dass die Mutter von jemandem angezeigt worden war, weil sie ihren Mann den Nazischergen ans Messer geliefert hatte. In ihrer Vernehmung vor dem Richter hatte sie angegeben, sie sei hochschwanger gewesen, und ihr Mann, auf Heimaturlaub, habe das Kind nicht anerkennen wollen. Kriegszeiten seien nun mal andere Zeiten. Heute wisse man alles besser, aber damals hätte sie einfach Angst gehabt, als der Mann den Führer beleidigt und ihr auch noch gesagt hatte, er liebe sie nicht mehr. Sie war verzweifelt. Aber die Frucht in ihrem Leibe erhielt ihren Lebensmut. Sie habe nie gewollt, dass er an die Ostfront geschickt wurde, wo er einen tragischen Tod fand.

Aus diesen Sätzen sprachen Häme und Hohn. Der Mann war sich absolut sicher, dass die Mutter seinen Vater in den sicheren Tod geschickt hatte. Wissend und wollend. Wieso tat sie so etwas? Er stand auf. Sein Herz raste. Wie ein Tier im Gehege lief er in der Wohnung hin und her. Seine Mutter, eine Denunziantin? Er stürmte ins Bad und übergab sich. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und besah sein Spiegelbild. Wer bin ich? Wie viel Vater, wie viel Mutter trage ich in mir? Er hatte seine Mutter nicht gekannt. Seine Liebe zu ihr verdunstete wie Wasser in der Sonne. Kein Hass. Ihm wurde nun auch die Beziehung zu dem Polizisten deutlicher. Seine Mutter war eine regimetreue deutsche Frau, die sich dem Führer bedingungslos unterworfen hatte. Als es mit dem Reich zu Ende ging, kam ihr ein neuer deutscher Uniformträger gerade recht. Der Polizist. Er versuchte die schlechten Gedanken an die Mutter zu verscheuchen. Es gelang ihm nicht.

Einige Zeilen weiter las er, dass das Gericht hinsichtlich des Wohlergehens des Jungen im Sinne der Mutter urteilte und sie freisprach.

Der Mann nahm eine Schatulle zur Hand. Er faltete die beiden Briefe sorgfältig. Atmete tief durch. Legte sie hinein. Dann stellte er das Behältnis behutsam auf seinen Schreibtisch. Er blickte aus dem Fenster. Abermals lag sein Leben in Schutt und Asche. Die Dämonen des Krieges lassen einen nie ruhen.

Ihm kam der Mann mit der Uniform in den Sinn, als er damals so gutgelaunt, mit der Eins, nach Hause gekommen war. Mit dem Polizisten zog das Unheil auf. Man hatte ihn alleine gelassen. Mit seinen Gedanken. Mit seinen Sorgen. Mit seinen Ängsten. Mit seinen Schmerzen. Deutschland wollte wieder wachsen. Da war kein Platz für Sorgenkinder.

Er strich ein blütenweißes Papier glatt. Befeuchtete die Spitze des Dupont-Füllers mit der Zunge und begann dem toten Vater einen Brief zu schreiben.

AUFBLENDE