Inhalt

Heft 2 | April–Juni 2020
Jahrgang 93 | Nr. 495

Notiz

Ambivalentes „magis“

Jörg Nies SJ

Nachfolge

Pause von der Entfremdung. Anapausis und die Erlösungssehnsucht der Wüstenväter

Gregor Taxacher

Jules Monchanin. Die Mission des Katholischen und die Begegnung mit Indien

Markus Kneer

Philipp Dessauer (1898–1966). Ein Lehrer des Meditierens

Lorenz Wachinger

Nachfolge | Kirche

Mystagogie und Sakrament. Myrrha Lot-Borodine (1882–1954)

Iuliu-Marius Morariu

Ökumenisch Kirche sein

Ulrich Ruh

Der Charme des Anfangs. „Emmaus“ – langsam gelesen (Lk 24,13–36)

Christian Herwartz SJ

Cur vadis? Der Synodale Weg zwischen Missbrauch und Evangelisierung

Martin Höhl

Nachfolge | Junge Theologie

Feindbild-Dekonstruktion. Von Jesus zu Amos Oz’ Judasfigur

Martin Steiner

Reflexion

Geteilte Spiritualität. Herzstück der Begegnung von Christen und Muslimen

Christoph Gellner

Enttäuschung und Vertrauen. Eine geistliche Bildbetrachtung

Jörg Nies SJ

Ungeteilt beim Herrn. Annäherung an ein mögliches Missverständnis

Edith Kürpick FMJ

Lektüre

Vom Dennoch der Hoffnung getragen. Literarisches zum Gebet Jesu

Stephan Schmid-Keiser

Franz von Assisi in historischer Sicht. Drei neue Biografien

Niklaus Kuster OFMCap

Das dritte Gedicht. Oder: Zur Metaphysik der Übersetzung

Burkhard Conrad OPL

Buchbesprechungen

Ambivalentes „magis“

Wer sich mit der ignatianischen und jesuitischen Spiritualität beschäftigt, wird schnell auf das Wort magis aufmerksam. Das lateinische magis, im Spanischen más, bedeutet zunächst einmal schlicht mehr. Heute ist es u.a. der Name eines Programms, das um den Weltjugendtag 2005 entstand und seitdem jungen Erwachsenen Erfahrungen ermöglichen will, anhand derer sie sich selbst, andere und Jesus Christus besser kennenlernen sollen. Das Ziel ist, mehr mit Gott zu leben.

Gerade für jene, die mehr erleben wollen, ist Abwechslung und Aktivität reizvoll. Kombiniert mit der Frage, wie und wo ich Gott erfahren kann, öffnen sich viele Möglichkeiten, die ein ignatianisches Vokabular beschreibt. Experimente sind bereits in der ersten Ausbildungsphase der Jesuiten, dem Noviziat, von entscheidender Bedeutung. In verschiedenen Kontexten wird erprobt, wie Gott in allen Dingen gesucht und gefunden werden kann. Die Geistlichen Übungen (GÜ) sind dabei besonders wichtig. Sie helfen einerseits bereits gemachte Erfahrungen betend zu reflektieren und andererseits eine neue Haltung für kommende Aufgaben und Situationen zu entwickeln. Leitend ist die Frage, wie Gott mehr gedient werden kann. Entsprechend greift der Wahlspruch des Jesuitenordens den Komparativ auf: ad maiorem Dei gloriam – alles zu größerer Ehre Gottes.

Wie kann Gott also mehr, und dabei schwingt auch besser und wirksamer mit, verherrlicht werden? Das ist nicht allgemeingültig festzulegen. Vielmehr geht es darum, immer wieder neu anzusetzen und eine jeweils aktuelle Antwort zu geben. Was ist jetzt, in diesem Augenblick, wichtiger, passender und hilfreicher?

Ignatius von Loyola schrieb die Geistlichen Übungen im 16. Jahrhundert. Ihr Ansatz und ihre Methode haben auch noch im 21. Jahrhundert eine bleibende Bedeutung. Ihre Neuartigkeit, ihr Moment der überraschenden Sichtweise haben sie allerdings auf einen ersten Blick eingebüßt. In einer Gesellschaft, die ständig auf der Suche nach Verbesserung und Steigerung der Produktivität ist, können geistliche Begriffe, die auf mehr zielen, wie spirituelle Wiedergänger des längst Bekannten erscheinen, aber nur schwer Gegenakzente setzen. Im ignatianischen magis liegt eine Versuchung, wenn es einen ohnehin vorhandenen Leistungsdruck geistlich begründet und weiter verstärkt.

Die ignatianische Spiritualität kann leicht in eine Schieflage geraten, da sie erstaunlich modern ist und auch durch Begriffe wie Effizienz und Optimierung beschrieben werden kann. Das magis ist hierfür besonders anfällig, denn die Suche nach dem, was immer mehr ist, initiiert einen infiniten Regress. Sie ist per definitionem nicht abzuschließen und ist immer wieder neu zu verhandeln. So kann aber nicht nur eine positive Herausforderung, sondern auch eine ständige Belastung entstehen. Selbst wenn der Maßstab an einer Perspektive, die auf Gott ausgerichtet ist, genommen wird, so kommt die Aufgabe des Entscheidens und entsprechenden Handelns dem Individuum zu. Kreiert die ignatianische Spiritualität so aber nicht gerade ein überfordertes Subjekt?

Ignatius will durch die Geistlichen Übungen den Menschen darauf hin ausrichten, dass er ersehnend (deseando) und das erwählend (eligiendo) sein soll, was ihn mehr (más) zu seinem Ziel führt (GÜ 23). Was mehr bedeutet, ist Teil der geistlichen Unterscheidung, die einzuüben ist. Dabei geht es in erster Linie um Grundsätzliches. Wie will ich mein Leben gestalten? Was ist mein Ziel, das mir eine Richtung vorgibt? Welche Rolle spielt Gott dabei?

Sind diese Fragen geklärt, relativiert sich die Bedeutung aktueller und je konkreter Situationen. An ihnen soll nur deutlicher werden, was bereits geklärt ist. Es gibt ein Prinzip, das Orientierung gibt und so entlastet. Im Alltag soll das eine Gestalt bekommen, was als Grundsatzentscheidung in den Geistlichen Übungen erkannt wurde.

Doch verlagern sich so nicht die vielen kleinen Herausforderungen auf eine einzige – und der Druck wächst nur weiter? Die ignatianische Methode kann nur dann funktionieren, wenn sie dialogisch verstanden wird. Der Übende konditioniert nicht sich selbst, sondern er versucht, sich einem Gegenüber zu öffnen. Zu entscheiden, was mehr Gottes Willen entspricht, kommt nicht nur den Übenden, sondern letztlich Gott zu. Denn auch wenn es verschiedene Arten und Zeiten für eine grundsätzliche Wahl, die ein Leben prägen soll, gibt (GÜ 175–188), so ist es allein Gott, der diese Freiheit ermöglicht und zugleich die Entscheidung bestätigt (GÜ 183). Der wählende Mensch erwägt im Gebet, was er für das Bessere hält und legt dies Gott vor. Er muss daher nicht durch die Sorge einer drohenden Fehlentscheidung unter Druck geraten. Im Gebet erfährt er vielmehr, dass er Gott vertrauen darf, der gerade im ambivalenten, da nicht von vornherein festgelegten magis eine Möglichkeit des je individuell-konkreten Weges aufzeigt und mitgehen wird. So wechselt die Perspektive: Die göttliche Logik bestimmt die weltliche und nicht umgekehrt. Zur geistlichen Erfahrung zurückzukehren und diese im Alltag immer mehr zu leben, ist die Bestimmung des magis.