Kurt Anglet

Totenstille
und der Geist
der Prophetie

Kurt Anglet

Totenstille

und der Geist
der Prophetie

echter

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Inhalt

Vorwort: Das Licht der Erlösung

Totenstille und der Geist der Prophetie

Erlöser und Überwinder des Antichrist

Eine commode Religion

Nachwort

Literaturverzeichnis

Vorwort: Das Licht der Erlösung

Es gehört zu den nicht geringsten Widersprüchen unseres Zeitalters, sich über Auschwitz zu empören, und gleichzeitig den Tod zu verabsolutieren. So sorgten Martin Heideggers Auslassungen gegen die »Judenschaft« nach Erscheinen seiner Schwarzen Hefte 1942–1948 im Frühjahr 1915 für ein lautes Echo. Kaum jemand stieß sich jedoch an seiner Verherrlichung des Todes durch »die verborgene Geschichte der großen Stille«; ja, kaum jemand vernimmt bis heute das Echo jener »entsetzliche(n) Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt«, die einhundert Jahre zuvor Büchners Lenz auf seinem Weg durchs Gebirg nicht zur Ruhe kommen lässt. Dass es sich bei jener Stimme nicht bloß um die Einbildung eines Einzelnen, obendrein einer Kunstfigur, oder um eine sprachliche Metapher handelt, sondern um die Wirklichkeit, ergibt sich aus den Aufzeichnungen der jüdischen Ärztin Sima Vaisman In Auschwitz, die ihren knappen Bericht des Geschehens vor den Krematorien mit den Worten beschließt: »und dann legt sich auf alles eine Stille, eine tiefe Stille, eine Totenstille …«

Es gehört heutzutage über die Philosophie hinaus zu einer weitverbreiteten Sicht von Welt und Geschichte, im Sinne von Hermeneutik und Diskursethik der Sprache den Vorrang vor der Wirklichkeit einzuräumen oder wenigstens diese abhängig von der Sprache zu betrachten. Nun mag zwar, rein anthropologisch gesehen, der Mensch ein Wesen der Sprache sein. Dennoch ist jene Sichtweise allein im biologischen Sinne unzutreffend, insofern der Mensch, der das Licht der Welt erblickt, wohl einen Schrei ausstößt – aber kein Wort. Erst recht im Raum der Geschichte, wenn Worte und Schreie verstummen, sich eine Totenstille ausbreitet: Das ist die Wirklichkeit, vor der die Sprache versagt, das Denken versagt, jegliche menschliche Selbst- und Seinsauslegung, jedweder Diskurs. Das ist die Wirklichkeit, über die keine Dialektik hinausführt; die Hegels bekanntem Diktum aus seiner Rechtsphilosophie Hohn spricht, das Vernünftige sei wirklich und das Wirkliche vernünftig. Erst recht aber enthüllt sie die Unvernunft, wie sie in der Bejahung des Todes zum Ausdruck gelangt, weil diese vor aller Untat der Erlösung, der messianischen Rettung spottet – nicht erst heute, sondern wie die ungläubigen Spötter bereits zur Zeit des Propheten Jesaja, die auf ein »Bündnis mit dem Tod« (vgl. Jes 28,16-22) setzen, um den Tod zu überlisten.

Nicht erst in Auschwitz, sondern bereits hier wird sichtbar, dass es in der Wirklichkeit buchstäblich um Leben und Tod geht; dass darum auch der sprachliche Zugang zu ihr ein ganz anderer sein muss als ein hermeneutischer oder einer des philosophischen Diskurses. Einer der Wenigen, der das erkannt hat, war der Philosoph Walter Benjamin, der in einer Aufzeichnung zur Methodik seines Passagen-Werks notiert (GS V.1, 574):

Sich immer wieder klarmachen, wie der Kommentar zu einer Wirklichkeit (denn hier handelt es sich um den Kommentar, Ausdeutung in den Einzelheiten) eine ganz andere Methode verlangt als der zu einem Text. Im einen Fall ist Theologie, im andern Philologie die Grundwissenschaft.

Um eine »Ausdeutung in den Einzelheiten« handelt es sich wohlgemerkt – nicht wie der Liberalismus argwöhnt, dass der Wirklichkeit ein theologisches Gedankengebäude von außen übergestülpt würde. Dennoch musste es Benjamin erleben, wie sein Versuch, im Passagen-Werk eine positive Darstellung des neunzehnten Jahrhunderts zu geben, von der Wirklichkeit des zwanzigsten eingeholt wurde; seine letzten Aufzeichnungen Über den Begriff der Geschichte geben Zeugnis davon (GS I.2, 695):

Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist. Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung zu entfachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.

Die Totenstille, die sich bei seinem Triumph über die Menschheit legt, zu durchbrechen, ist die Aufgabe des Geschichtsschreibers im Hinblick auf das Vergangene, auf die Geschichte. Es ist die »Gabe«, ja die Aufgabe, der Auftrag des Propheten, wie das Buch Jesaja zeigt, sich den Todesmächten seiner Zeit entgegenzustellen: um der Rettung der Todgeweihten willen, das Bündnis mit dem Tod zu lösen. Das ist die universale Perspektive, die dem Geist der Prophetie noch in vormessianischer Zeit innewohnt, weshalb der heilige Hieronymus nicht zu Unrecht den Propheten Jesaja als fünften Evangelisten bezeichnete.

Auch wenn es einem Theologen nicht zusteht, sich mit einem Propheten zu verwechseln, so ist die Theologie in unserer Zeit mehr denn je gehalten, von jenem Geist der Prophetie, letzthin vom Messias als Erlöser und Überwinder des Antichrists Rechenschaft abzulegen. Nicht allein in der Wirklichkeit herrschen die Mächte des Todes, sondern das menschliche Denken – weit über Heidegger hinaus - scheint vom Tod umfangen. Ist doch Heideggers Wirkung kaum erklärbar, spiegelte sich in seinem Denken nicht der Geist, das Menschenbild seiner, unserer Zeit: den Menschen diesseits von Schöpfung und Erlösung als ein auf sich selbst zurückgeworfenes Wesen zu begreifen, das seinen Weg bis hin zur völligen Selbstauslöschung geht.

Die »verborgene Geschichte der großen Stille« freilich ist nichts anderes als die verborgene Geschichte der großen Leere, die sich spätestens mit dem Tod auftut – mit einem Tod, der keine Auferstehung kennt. »Wenn aber Christus nicht auferstanden ist«, vermerkt der Apostel Paulus, »dann ist auch unsere Verkündigung leer, leer auch euer Glaube.« (1 Kor 15,14) Umso leerer aber wirkt das Leben im Schatten des Todes, mag man dessen Stille auch mit aller Gewalt zu übertönen suchen durch den Lärm seiner Zeit, so dass kaum jemand gleich Büchners Lenz »die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt«, zu vernehmen vermag. Nur für Augenblicke meldet sich jene entsetzliche Stimme der Stille, wie nach den Terroranschlägen, die in den Abendstunden des 13. November 2015 Paris erschütterten; scheint die Beobachtung Benjamins aus seiner Arbeit über die Pariser Passagen (GS V.1, 592) ihre Bestätigung zu finden:

Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es »so weiter« geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene. So Strindberg–in »Nach Damaskus«?–: die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier.

Dieses Leben hier gleicht fürwahr der Hölle in den Augenblicken des Schreckens; mehr noch aber für die Täter als für die Opfer: »Wer nicht liebt, bleibt im Tod. Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Mörder, und ihr wisst: Kein Mörder hat ewiges Leben, das in ihm bleibt.« (1 Joh 3,14b f.) Wer aber dieses ewige Leben leugnet, der gibt – mag er sich auch an Mitleids- und Beileidsbekundungen überbieten – das Leben der Opfer dem Tod preis, dem Höllendasein, das den Mördern winkt, ja, dass schon hier und jetzt ihrem Hass entspricht. Aus diesem Grunde ist eine theologische Deutung des Daseins, der Geschichte hier und jetzt, nicht eine Frage des Bekenntnisses, gar einer subjektiven Lesart. Vielmehr weist sie über das Spektrum der Meinungen und tagespolitischen Ereignisse hinaus auf den Gesamtzusammenhang der Geschichte, der diesseits der Theologie gar nicht fassbar ist, wie Benjamin in einer weiteren Aufzeichnung zu Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts vermerkt (GS V.1, 608):

Der echte Begriff der Universalgeschichte ist ein messianischer. Die Universalgeschichte im heutigen Verstande ist eine Sache der Dunkelmänner.

Nicht weniger als in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist auch heutzutage Aufklärung im Lichte der Offenbarung geboten – Aufklärung, wie sie Benjamin im Passagen-Werk (GS V.1, 578) avisierte:

Formulierung von Ernst Bloch zur Passagenarbeit: ›Die Geschichte zeigt ihre Marke von Scotland-Yard. 〈ʿ〉 Es war im Zusammenhang eines Gesprächs, in dem ich darlegte, wie diese Arbeit – vergleichbar der Methode der Atomzertrümmerung – die ungeheuren Kräfte der Geschichte freimacht, die im ›Es war einmal‹ der klassischen Historie gebunden liegen. Die Geschichte, welche die Sache zeigte, ›wie sie eigentlich gewesen ist‹, war das stärkste Narkotikum des Jahrhunderts.

Und sie ist auch im 21. Jahrhundert das stärkste Narkotikum geblieben, weil sie den Blick auf »die ungeheuren Kräfte der Geschichte« verstellt, die über die Vergangenheit hinaus Tod und Vernichtung, aber auch Rettung und Erlösung bedeuten. Denn wenn es bei der Geschichte einzig darum ginge, festzustellen, »wie sie eigentlich gewesen ist«, so muss man kein Theologe sein, um ihrer rein historischen Bestimmung mit Misstrauen zu begegnen. So befindet bereits Nietzsche in einem Brief (vom 23. Februar 1887) an den befreundeten Kirchenhistoriker Franz Overbeck (KGB, Bd. III.5, 28):

Zuletzt geht mein Misstrauen jetzt bis zur Frage, ob Geschichte überhaupt möglich ist? Was will man denn feststellen? – etwas, das im Augenblick des Geschehens selbst nicht »feststand«?–

Denn das Geschehen enthüllt seine Bedeutung allein im Zusammenhang des Ganzen, letzthin von seinem Ende her. In diese Richtung weist eine weitere Aufzeichnung Benjamins zum Passagen-Werk (GS V.1, 589):

Über die Frage der Unabgeschlossenheit der Geschichte Brief von Horkheimer vom 16. März 1937: »Die Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen … Nimmt man die Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muß man an das jüngste Gericht glauben … Vielleicht besteht in Beziehung auf die Unabgeschlossenheit ein Unterschied zwischen dem Positiven und dem Negativen, so daß nur das Unrecht, der Schrecken, die Schmerzen der Vergangenheit irreparabel sind. Die geübte Gerechtigkeit, die Freuden, die Werke verhalten sich anders zur Zeit, denn ihr positiver Charakter wird durch die Vergänglichkeit weitgehend negiert. Dies gilt zunächst für das individuelle Dasein, in welchem nicht das Glück, sondern das Unglück durch den Tod besiegelt wird.« Das Korrektiv dieser Gedankengänge liegt in der Überlegung, daß die Geschichte nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft »festgestellt« hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.

Das mag für den Historiker zutreffen, der sich nicht mit einer bloßen Rekonstruktion des Vergangenen begnügt. Doch das Theologische wird ja nicht von außen an die Geschichte herangetragen: Ob bei dem jüngsten Terror islamischer Fanatiker in Paris oder bei der Vernichtung der Juden in Auschwitz, ja, selbst bei der Deutung des Ersten Weltkriegs als eines apokalyptischen Geschehens durch Karl Kraus wie in seinem monumentalen Werk Die letzten Tage der Menschheit – hier handelt es sich nicht um bloße Metaphern als vielmehr um ein Geschehen von wahrhaft apokalyptischem Ausmaß.

Denn auch das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung Jesu Christi (vgl. Offb 1,1), mag reich an Metaphern sein, deren Bedeutung selbst einem versierten Interpreten bisweilen Rätsel aufgeben; gleichwohl ist es kein Bilderbuch, an dem sich der Leser erbauen kann. Es deutet vielmehr die Geschichte im Lichte des auferstandenen und erhöhten Messias und der Wiederkunft Christi, nicht bloß als eine Serie von Katastrophen, sondern als Anbruch und Vollendung des neuen Äons. Nicht allein um die Frage der Abgeschlossenheit oder Unabgeschlossenheit von Glück und Leid geht es, wie in den Überlegungen Max Horkheimers. Ebenso wenig um eine bloße Modifikation der Wissenschaft in Form des Eingedenkens, so ehrenvoll dieses auch ist. Es geht letzthin um die Gerechtigkeit für die Opfer, die für die Geschichte abgeschrieben sind, insofern sie von der Geschichte nichts zu erhoffen haben. Wenn ihnen eine Hoffnung bleibt, so allein im Sinne einer messianisch begriffenen Universalgeschichte (vgl. GS V.1, 608) die Hoffnung auf den kommenden Christus und den kommenden Gott (Offb 1,7 f.):

Siehe, er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen, auch alle, die ihn durchbohrt haben; und alle Völker der Erde werden seinetwegen jammern und klagen. Ja, amen. Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott, der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung.

Insofern sich seit dem ausgehenden Mittelalter selbst in der Christenheit der Blick immer weniger auf den kommenden Gott richtete, hat im Zuge der Säkularisierung der Mensch seine eigene Gerechtigkeit gesucht – ob in der Autonomie menschlicher Freiheit, der Eigengesetzlichkeit der Geschichte im Sinne von Hegels Dialektik des Historischen, des Fortschrittsgedankens, von Nietzsches Willen zur Macht oder einfach in revolutionärer Gewalt, die dem Unrecht ein Ende bereiten sollte. Am Ende freilich, in einem Zeitraum von nahezu einer einzigen Generation, ein wahrhaft apokalyptisches Finale mit zwei Weltkriegen und Massenmorden, wie sie die Geschichte, so leidvoll sie sein mochte, bis dahin nicht kannte.

Allein das verbietet uns, die Geschichte atheologisch zu begreifen, als könnten wir vor ihrem Schuldzusammenhang die Augen verschließen; vor den Verstrickungen des menschlichen Geistes, wie sie sich zumal an Heideggers Philosophie ablesen lassen. Man braucht nur einmal einen Blick auf die groteske Auseinandersetzung der Heidegger-Adepten im Anschluss an die Publikation des vierten Bandes seiner sog. Schwarzen Hefte zu werfen; wenn etwa allen Ernstes behauptet wird, bei seinen antijüdischen Auslassungen handelte es sich lediglich um eine geschichtsphilosophische Aberration, die das phänomenologische Werk des großen Denkers nicht berühre. Wir haben wiederholt, zuletzt in Auferstehung Jesu Christi als messianische Zeugung, in einer minutiösen Analyse dargelegt, dass von seinem frühen Vortrag Der Begriff der Zeit über sein sog. zweites Hauptwerk Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) bis hin zu seiner »Eschatologie des Seyns« ein eiskalter Nihilismus herrscht; eine Verherrlichung des Todes, wie sie selbst Nietzsche nicht kannte. Und wir hätten es dabei belassen, wären wir nicht erst jetzt auf die Aufzeichnung Sima Vaismans gestoßen, die genau diese Todeswirklichkeit beschreibt. Es ist schlechthin absurd, im Sinne des heutigen Zeitgeistes eine sog. Erinnerungskultur zu pflegen, gleichzeitig aber der Herrschaft des Todes zu huldigen, als würde es sich um einen sanften Abschied aus einer glücklichen Menschenwelt handeln, wie sie sich »eine commode Religion« erträumt.

Haben frühere Zeitalter – von der Antike bis hin zum Barock – unter der Macht des Todes gelitten, so scheint ein Großteil der Moderne, von der Postmoderne gar nicht zu reden, mit ihm versöhnt; allenfalls Terroranschläge oder Flugzeugabstürze mögen eine Zeitlang allgemeine Bestürzung hervorrufen. So vermerkt J. J. Bachofen in seiner Unsterblichkeitslehre der orphischen Theologie (Ges. Werke Bd. 4: Versuch über die Gräbersymbolik der Alten, 76; das folgende Zitat vgl. ebd. 144): Ein Zug der tiefsten Melancholie geht durch die ganze alte Naturbetrachtung, und an alle ihre Erscheinungen, der Vögel Flug und Gesang, des Wassers Geräusch, der Blumen Farben, der Bäume Seufzen knüpft sich der Gedanke der Trauer und des Kummers. Darum sind auch die Harzbäume, wie Tannen und Fichten, Dionysos besonders geweiht, die Harze überhaupt von hoher religiöser Bedeutung und kultischer Anwendung.

Die Welt des Mythos spiegelt die Todesverfallenheit der Natur, die wiederum auf den menschlichen Geist abfärbt:

Überall zeigt sich dieselbe Grundidee: das Leben ist zugleich der Tod; Venus auch Libitina; Aphrodite auch die Menschenmörderin; der Mond zugleich die Quelle des Werdens und des Vergehens, lieblich und weiß in jener, häßlich, erschreckend und schwarz in dieser Funktion.

Die Ambivalenz seines Lichts zeigt sich noch gegen Ende von Kafkas Prozess (399), bei der Hinrichtung des Protagonisten in einem kleinen Steinbruch:

Überall lag der Mond mit seiner Natürlichkeit und Ruhe, die keinem andern Licht gegeben ist.

Sich im Spiegel der Natur erkennen zu können, war noch dem Menschen Kafkas gegeben, wie einem Zeitalter zuvor Büchners Lenz. Dem Zeitgenossen Kafkas, dem Menschentypus Heideggers nicht mehr, mochte es ihn auch aus der Welt der Technik in die Natur zurückziehen, die Schönheit der Landschaft faszinieren. Die Bejahung des Todes ist es, die über Heideggers Philosophie hinaus im zwanzigsten Jahrhundert um sich greift, das Früchte des Todes zeitigte, wie kein Jahrhundert zuvor. Selbst das Barockzeitalter, das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, verharrt gewissermaßen an der Schwelle von Trauer und Tod, wie Benjamin im Trauerspielbuch konstatiert (GS I:1, 318):