Günter Huth

Der Schoppenfetzer
und die Rache des Winzers

Foto: Rico Neitzel – Büro 71a

Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben.

Er ist Rechtspfleger (Fachjurist), verheiratet, drei Kinder.

Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich (ca. 60 Bücher). Außerdem hat er bisher Hunderte Kurzerzählungen veröffentlicht. In den letzten Jahren hat er sich vermehrt dem Genre Krimi zugewandt. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi. „Der Schoppenfetzer“ war geboren.

2013 erschien sein Mainfrankenthriller „Blutiger Spessart“, mit dem er die Simon-Kerner-Reihe eröffnete, mit der er eine völlig neue Facette seines Schaffens als Kriminalautor zeigt. Durch den Erfolg des ersten Bandes ermutigt, brachte er 2014 mit dem Titel „Das letzte Schwurgericht“ den zweiten Band, 2015 mit „Todwald“ den dritten Band, 2016 mit „Die Spur des Wolfes“ den vierten Band und 2017 mit „Spessartblues“ den fünften Band dieser Reihe auf den Markt.

Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung „Das Syndikat“.

Die Handlung und die handelden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lenbens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Günter Huth

Der Schoppenfetzer und die Rache des Winzers

Der neunte Fall des Würzburger
Weingenießers Erich Rottmann

Buchverlag
Peter Hellmund
im Echter Verlag

Zur Erinnerung an Erich Rottmann

WÜRZBURG, IM SOMMER 1980

An einem schwülheißen Donnerstag um 15:43 Uhr geht bei der Einsatzzentrale der Polizeidirektion Würzburg ein alarmierender Anruf ein. Eine Frau mit amerikanischem Akzent meldet völlig aufgelöst, dass sie beim Versuch, die Filiale der American Bank of Military Commerce (ABMC) in der Nähe der amerikanischen Kaserne Leighton Barracks zu betreten, in einen offenbar gerade stattfindenden Banküberfall geraten sei. Geistesgegenwärtig sei sie aus dem Eingangsbereich der Bank geflüchtet, ehe der Täter auch sie in seine Gewalt bringen konnte. Sie habe dabei gesehen, dass der Mann eine Schusswaffe in den Händen hielt. Weitere Angaben kann sie nicht machen.

Dieser Anruf, der als seriös eingestuft wird, löst in der Folge einen Großeinsatz der Polizei aus. Eine halbe Stunde später wird das polizeiliche Sondereinsatzkommando (SEK) Bayern Nord alarmiert, das nur wenige Minuten später mit drei Mannschaftsbussen ausrückt, die mit Blaulicht und Sirene über die A3 nach Würzburg rasen. Gleichzeitig hebt ein Hubschrauber ab, der den Leiter des SEK und eine kleine Gruppe der Einsatzkräfte zum Tatort bringt. Ihr Ziel ist der Landeplatz der amerikanischen Streitkräfte innerhalb der Kaserne.

Der Leiter des SEK ist darüber informiert, dass in der Zentralverwaltung der ABMC mittlerweile ein Anruf eingegangen ist. Ein Mann hatte erklärt, dass er in die Filiale der American Bank of Military Commerce in Würzburg eingedrungen sei und sich fünf Geiseln in seinen Händen befänden. Er sei mit Schusswaffen und Handgranaten ausgerüstet und fordere innerhalb von fünf Stunden ein Lösegeld von zwei Millionen Dollar und einen Fluchtwagen. Andernfalls drohe er mit der Erschießung seiner fünf Geiseln: des Filialleiters, des Kassiers, zweier Bankangestellter und einer Bankkundin.

So weit die bekannten Fakten vom Tatort. Örtliche Polizeieinsatzkräfte sind bereits vor Ort und sperren das Gelände um die Bank großräumig ab. Die Zuständigkeit der deutschen Polizei ist gegeben, da es sich bei der Bank um ein privatwirtschaftliches Geldinstitut und um keine militärische Institution handelt. Zudem liegt die Filiale auf deutschem Hoheitsgebiet.

Nach ihrer Landung stürmen die SEK-Männer über das Flugfeld und werden von einem bereitstehenden Bus der amerikanischen Militärpolizei aufgenommen, der sie zum Einsatzort bringt.

Die Einsatzleitung ist in einem mit Technik vollgestopften geräumigen Bus untergebracht. Während seine Männer davor stehen bleiben, betritt der SEK-Leiter das Fahrzeug und verschafft sich einen schnellen Überblick. Drei Männer unterschiedlichen Alters, teilweise in grünen Polizeieinsatzuniformen, sitzen über einen Stadtplan gebeugt und richten sich nun auf. Der in Schwarz gekleidete SEK-Mann wendet sich an den ältesten Beamten: „Grüß Gott, Kollegen, Dremmler, SEK Nord. Wir sind das Vorauskommando. Können Sie mich kurz mit der Lage vertraut machen? Meine bisherigen Informationen sind sehr dürftig.“

Zu Dremmlers Erstaunen erhebt sich der jüngste der Polizisten und gibt ihm die Hand. Nachdem er sich kurz vorgestellt hat, erklärt er: „Sie wundern sich sicher, dass ich die Einsatzleitung übertragen bekommen habe, aber alle höheren Führungskräfte befinden sich im Raum Schweinfurt, weil dort eine Großdemonstration rechter Gruppierungen stattfindet und autonome Linke eine Gegendemo angekündigt haben. Ziemlich heiße Sache, die eskalieren kann.“ Daraufhin setzt er sich wieder, stellt die anderen Beamten vor und bietet dem SEK-Mann einen freien Sitz an. „Zu Ihrer Information: Die Einsatzzentrale wurde heute Nachmittag von einer Bankkundin angerufen, die beim Betreten der ABMC-Bank einen Mann gesehen hat, der mit vorgehaltener Schusswaffe Menschen bedroht. Mittlerweile liegen auch die Forderungen des Täters vor. Wir konnten in der Zwischenzeit das Telefon der Bank anzapfen und hatten auch schon Kontakt zum Täter. Es handelt sich offenbar um einen ehemaligen amerikanischen Soldaten, wahrscheinlich einen Veteranen aus dem Vietnamkrieg. Zum Motiv seiner Tat hat er gesagt, dass Amerika ihm wegen des Vietnamkriegs viel Geld schulde und er diese Schulden jetzt eintreiben wolle. Unser Polizeipsychologe ist zwar an ihm dran, aber er hat große Mühe, ihn einigermaßen ruhig zu halten. Er fürchtet, dass der Mann psychisch völlig durchdrehen könnte. Die Sache kann jederzeit aus dem Ruder laufen.“

„Schon irgendwelche konkreten Anweisungen für meine Männer und mich?“, fragt der SEK-Mann knapp.

„Wir haben das Gebiet großräumig abgesperrt. Soweit möglich, haben wir die Bewohner der umliegenden Häuser angewiesen, nicht an die Fenster zu gehen und das Haus nicht zu verlassen. Alle haben wir aber nicht erreicht. Verteilen Sie einige Ihrer Scharfschützen in den Häusern rund um die Filiale. So weit das möglich ist, auch auf den Dächern. Notfalls müssen sie auch in Wohnungen von Anwohnern.“ Er zögert einen Augenblick, dann meint er: „Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir heute ohne Ihr Eingreifen nicht zum Ende kommen.“ Er zeigt auf den Stadtplan, auf dem das Gebiet rund um die Bank in starker Vergrößerung dargestellt ist. „Eine Gruppe Ihrer Männer postieren wir an einer günstigen Stelle möglichst nahe an der Bank, damit sie dort im Notfall sofort zugreifen können. Die Schützen würde ich hier und dort verteilen.“ Er tippt auf das Papier. „Dann haben sie die Vorder- und die Rückseite des Gebäudes im Auge. Nehmen Sie eine Kopie des Plans mit.“ Er nimmt sich einen gefalteten Plan vom Tisch und gibt ihn Dremmler. „Sie unternehmen bitte nichts ohne eine klare Anordnung von mir. Wir müssen verhindern, dass dieser Mensch ein Blutbad anrichtet. Ständiger Funkkontakt ist gewährleistet.“ Er weist auf das Headset, das der SEK-Mann trägt.

Dremmler nickt knapp, dann verlässt er das Einsatzfahrzeug. Es würde noch einige Zeit dauern, bis alle seine Männer eingetroffen waren und er sie verteilen konnte.

Der SEK-Leiter betätigt die Türglocke, die einen blechernen Ton von sich gibt. Auf dem Türschild steht „Meckenberger“. Das Haus ist dreistöckig und diese Wohnung hat mehrere Fenster, die einen freien Blick auf den Eingang der Bank ermöglichen. Hier muss er unbedingt einen seiner Männer unterbringen.

Nach dem zweiten Läuten wird die Tür geöffnet und ein älterer Mann in kurzen Hosen und nur mit einem Unterhemd bekleidet mustert verwirrt den Mann im schwarzen Einsatzanzug mit der weißen Aufschrift POLIZEI. Nach dem Zustand seiner Frisur und seiner zerknautschten Miene zu urteilen hatte er offenbar gerade geschlafen. Vermutlich handelt es sich um einen der Bewohner, die die Polizei noch nicht von den Vorgängen vor ihrem Wohnhaus hatte unterrichten können.

Der SEK-Mann hält seinen Dienstausweis in die Höhe. „Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Meckenberger. Polizei. In der Bank gegenüber läuft gerade eine Geiselnahme und wir befinden uns in einem Polizeieinsatz. Wir müssten dringend in Ihre Wohnung, da man von Ihren Fenstern aus einen direkten Blick auf den Tatort hat.“

„Ja, aber …“ Der Mann war ziemlich verdattert und hatte sichtlich Mühe, diese Informationen zu verarbeiten.

„Wohnen Sie allein hier?“, fragt der SEK-Leiter weiter.

„Ja. Aber …“

„Herr Meckenberger, es tut mir leid, dass wir Sie so überrumpeln müssen, aber es handelt sich hier um einen extremen Notfall. Menschenleben sind in Gefahr. Wir haben leider keine Zeit, lange zu diskutieren. Da Gefahr in Verzug ist, dürften wir notfalls auch gegen Ihren Willen in Ihre Wohnung. Haben Sie die Möglichkeit, in der Nachbarschaft unterzukommen, bis alles vorüber ist? Wir hoffen, dass sich die Angelegenheit bald klärt und wir Sie nicht lange belästigen müssen.“

Der Mann tritt einen Schritt zur Seite und öffnet die Tür ganz. „Ich kann zu Kloses gehen. Die wohnen im Nachbarhaus. Aber was wollen Sie hier in meiner Wohnung machen?“

Der SEK-Leiter trat in die Wohnung, dann erklärte er: „Keine Sorge, wir werden in Ihrer Wohnung lediglich einen Beamten postieren, der die Bank von hier aus im Auge behält.“ Er betritt die geräumige Küche und wirft einen Blick aus dem Fenster. „Von hier aus haben wir gute Sicht. Andere Räume werden wir nicht betreten.“

Meckenberger hat sich mittlerweile ein Hemd übergezogen und scheint endlich völlig klar zu sein. „Benötigen Sie etwas?“, fragt er höflich.

Demmler schüttelt den Kopf. „Vielen Dank! Am besten gehen Sie jetzt. Wenn alles vorüber ist, werden wir Sie verständigen. Ich rufe meinen Mann jetzt herein.“

Der SEK-Mann geht zur Wohnungstür. Meckenberger greift sich einen Schlüsselbund vom Brett und folgt ihm. Als er dem schwarz gekleideten, maskierten Beamten begegnet, der die ganze Zeit, für ihn nicht sichtbar, neben der Eingangstür gewartet hatte, zuckt er leicht zusammen. Der Mann murmelt einen kurzen Gruß, dann tritt er in die Küche. Meckenberger mustert kurz den flachen schwarzen Hartschalenkoffer, den der Mann in der Hand trägt. Es bedarf keiner großen Fantasie, um sich vorzustellen, was der Koffer enthält.

„Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen“, sagt Dremmler und komplimentiert Meckenberger zur Tür hinaus. „Wie gesagt, wir geben ihnen sofort Bescheid, wenn alles vorüber ist.“

Er schließt aufatmend die Tür. Die beiden Beamten räumen wortlos das Fensterbrett von mehreren Blumenstöcken frei, dann öffnen sie das Fenster. Der Blick auf die Bank ist wirklich ideal.

„Sie richten sich hier ein, Schütze 3“, weist der SEK-Chef den Schützen knapp an. „Dann melden Sie sich über Funk bei der Einsatzleitung. Weitere Anweisungen erhalten Sie von dort.“ Er nickt dem Mann zu, klopft ihm auf die Schulter, dann verlässt er die Wohnung.

Schütze 3 mustert kurz die Kücheneinrichtung, dann öffnet er seinen Gewehrkoffer und hebt das Heckler&Koch-Präzisionsgewehr heraus. Aus dem Rucksack holt er mehrere kleine Sandsäcke, die er auf dem Fensterbrett positioniert. Dann schnappt er sich einen Küchenstuhl, legt den Gewehrlauf auf die Sandsäcke und visiert durch das Zielfernrohr. Der eingebaute Laserentfernungsmesser zeigt eine Distanz von 72 Metern bis zum Eingang der Bank an. Eine gute Entfernung für einen präzisen Schuss. Irgendwie ist er mit seiner Auflagemöglichkeit noch nicht zufrieden. Er überlegt kurz, dann schiebt er den kleinen Küchentisch vor das Fenster. Erneut positioniert er sich. Jetzt passt es, weil er beide Arme auflegen kann. Als er nochmals durch das Zielglas blickt und dabei den ersten Buchstaben des Firmenschilds des Bankgebäudes anvisiert, steht das Fadenkreuz des Zielfernrohrs absolut ruhig.

Schütze 3 lehnt sich zurück und betätigt den Rufknopf seiner Sprecheinrichtung. Als sich die Einsatzleitung meldet, erklärte der Beamte: „Hier Schütze 3. Ich bin auf Position und habe freie Sicht auf den Eingang der Bank, auf das danebenliegende Schaufenster und auf die Straße davor. Gute Schussentfernung. Problematisch könnten einige parkende Pkws auf dem Gehsteig vor der Bank sein. Sie schränken das Schussfeld ein.“

„Danke, Schütze 3“, kam umgehend die Antwort der Einsatzleitung. „Weitere Befehle abwarten.“

Schütze 3 holt aus seinem Rucksack eine Packung mit Patronen und lädt sein Gewehr. Bei den Patronen handelt es sich um eine Spezialanfertigung, die nur Präzisionsschützen der SEKs der Polizei zur Verfügung stehen. Die Geschosse sind so aufgebaut, dass sie sich sofort nach dem Auftreffen auf einen Körper zerlegen. Sie erzeugen damit eine hohe Schockwirkung, ein Durchschuss ist dabei aber so gut wie ausgeschlossen. Nachdem er die Waffe wieder gesichert hat, bereitet er sich innerlich auf eine lange Wartezeit vor. Er hat schon häufig derartige Situationen erlebt. Die meiste Zeit saß man untätig herum und verfolgte den Funkverkehr. Ihm ist klar, dass dort unten ein Nervenkrieg stattfindet, in dem er unter Umständen die letzte Instanz sein wird. Schütze 3 zieht sich die Kapuze vom Kopf und legt sie auf den Tisch. Präzisionsschützen tragen, ebenso wie ihre Kollegen des SEK, bei einem Einsatz grundsätzlich Gesichtsmasken, um ihre Anonymität zu wahren. Es wäre fatal, wenn die Presse von den Mitgliedern der Spezialkräfte Bilder veröffentlichen würde. Damit wäre die Sicherheit der Männer und ihrer Familien nicht mehr gewährleistet.

Schütze 3 lehnt sich zurück. Das leichte Beruhigungsmittel, das er kurz vor dem Einsatz eingenommen hatte, beginnt zu wirken. Es trägt dazu bei, dass sich sein Blutdruck senkt und sich die Anspannung des Einsatzes nicht auf den Herzschlag auswirkt. Ruhe ist eine wesentliche Voraussetzung für einen präzisen Schuss. Er spürt, wie sein Atem gleichmäßiger wird.

Mit geschlossenen Augen verfolgt Schütze 3 den Funkverkehr aus dem Einsatzwagen, soweit er über den für alle Einsatzkräfte zugänglichen Kanal geführt wird. Die Auseinandersetzung mit dem Straftäter kann er natürlich nicht hören, da sie über das Telefon stattfindet. Wichtig ist, dass der Kontakt zum Geiselnehmer nicht abbricht. Meist sind Geiselnahmen ein reiner Nervenkrieg, bei dem es in erster Linie darum geht, die Geiseln zu retten. Solange sich die Täter gesprächsbereit zeigen, ist eine Eskalation weniger wahrscheinlich.

Es sind fast zwei Stunden vergangen, als plötzlich gegenüber in der Bank ein Schuss fällt. Schütze 3 richtet sich blitzschnell auf, ergreift sein Gewehr und geht in Anschlag. Von einer Sekunde auf die andere ist er bereit. Da meldet sich auch schon die Stimme des Einsatzleiters über Funk.

„An alle Sondereinsatzkräfte. Der Täter hat soeben nach eigenen Angaben seine Drohung wahr gemacht und eine Geisel erschossen. Er wird jetzt rauskommen und will mit einem Polizeifahrzeug, das wir bereitstellen müssen, fliehen. Die restlichen Geiseln will er mitnehmen. Er behauptet, dabei eine Handgranate in Händen zu halten, und droht, sie zu zünden und alle Geiseln zu töten, wenn wir uns nicht zurückziehen. Die Sondereinsatzkräfte am Boden gehen daher sofort außer Sichtweite. Sollte der Täter mit den Geiseln wegfahren, kann er dies ungehindert tun. An die Schützen, insbesondere an Schütze 3: Halten Sie sich bereit.“

Schütze 3 weiß, was das bedeutet, und konzentriert sich. Alle störenden Gedanken schaltet er aus.

Es dauert nur wenige Minuten, dann fährt ein neutraler Kleinbus vor den Eingang der Bank. Schütze 3 registriert, dass das Fahrzeug so abgestellt wird, dass er noch Sicht auf den Eingangsbereich hat. Der Fahrer lässt den Motor laufen, steigt aus, geht um das Fahrzeug herum und öffnet sämtliche Türen, dann entfernt er sich hastig.

Im Kopfhörer von Schütze 3 rauscht es, dann vernimmt er die Stimme des Einsatzleiters: „Es kommt jetzt eine Geisel heraus und setzt sich hinter das Steuer. Keine Aktionen! Ich wiederhole: keine Aktionen!“

Kaum war die Stimme verstummt, als die Tür der Bank langsam aufgeht und ein Mann zögernd das Gebäude verlässt. Nachdem er sich nach allen Seiten umgesehen hat, rennt er in gebückter Haltung zu dem Kleinbus und setzt sich hinter das Steuer. Schütze 3 kann durch sein Zielfernrohr deutlich seine verängstigten Gesichtszüge erkennen.

Wenige Sekunden später öffnet sich erneut die Tür der Bank und mehrere Menschen treten, dicht aneinandergedrängt, auf den Gehsteig.

Schütze 3 ist jetzt in äußerster Konzentration. Welcher in dem Knäuel verängstigter Menschen war der Täter? Er presst sein rechtes Auge an das Okular. Langsam gleitet der Zielstachel suchend über die Köpfe der Gruppe. Sie sechsfache Vergrößerung des Glases bringt die verzerrten Gesichter der Geiseln in brutaler Schärfe vor das Auge des Beobachters. Der Mann in der Mitte der Gruppe trägt eine Militäruniform. Er drückt sich dicht an die Geiseln. Seine Hände sind von den Körpern verdeckt. Es ist nicht zu sehen, ob er tatsächlich eine Handgranate hält. So kann Schütze 3 keine eindeutige Information an die Einsatzleitung weitergeben. Er hat diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als der Geiselnehmer plötzlich beide Hände über den Kopf hebt. Mit einem schnellen Blick durch das Zielfernrohr kann Schütze 3 sich davon überzeugen, dass der Mann tatsächlich eine Granate in der einen Hand hält. Den Abzugsbügel hat er umschlossen und den Zeigefinger der anderen Hand durch den Ring des Sicherungsstiftes geführt. Abgezogen hat der Geiselnehmer noch nicht. Der Scharfschütze gibt eine entsprechende Meldung an den Einsatzleiter weiter.

„Verstanden, Schütze 3. Haben Sie ein freies Schussfeld?“, kommt die Frage des Einsatzleiters.

„Grundsätzlich ja“, gibt dieser zurück. „Ein sicherer Schuss ist aber nicht möglich, solange sich der Täter mit den Geiseln bewegt.“

Kurze Pause, dann kommen die schicksalsschweren Worte aus dem Kopfhörer: „Schütze 3, Sie haben den finalen Rettungsschuss nach eigenem Ermessen frei! Der Täter ist extrem angespannt. Es besteht die Gefahr, dass er ein Blutbad anrichtet. Es muss unter allen Umständen verhindert werden, dass er die Handgranate entsichert.“

„Verstanden! Finaler Rettungsschuss nach eigenem Ermessen frei“, bestätigt Schütze 3 den Befehl, dann verstummt der Funkverkehr. Der SEK-Mann ist nun völlig auf sich gestellt. Von einem Augenblick auf den anderen ist er zur letzten Instanz geworden. Für solche Augenblicke ist er ausgebildet worden.

Er atmet tief durch. Sein rechtes Auge saugt sich regelrecht am Okular des Zielfernrohrs fest.

Die Geiseln mit dem Täter nähern sich mittlerweile zentimeterweise dem Kleinbus. Schütze 3 folgt mit seiner Waffe, das Fadenkreuz ständig auf den Kopf des Mannes gerichtet.

Der Blick von Schütze 3 konzentriert sich auf den Hinterkopf. Der Geiselnehmer trägt keine Kopfbedeckung, so dass sein militärisch kahlgeschorener Nacken gut zu erkennen ist. Das Fadenkreuz des Zielfernrohrs richtet sich auf die Stelle des Kopfes, an der sich das Kleinhirn befindet. Nur eine exakte Zerstörung dieses Teils des Gehirns gewährleistet, dass der Straftäter durch sofortige Zerstörung des zentralen Nervensystems praktisch ohne Zeitverlust ausgeschaltet wird, er also keinerlei Handlungen mehr vornehmen kann. Auch das Abziehen eines Sicherungsstiftes aus einer Handgranate ist ihm dann nicht mehr möglich.

Die Schwierigkeit für Schütze 3 besteht nach wie vor darin, dass sich der Täter mit den Geiseln immer noch bewegt. Für einen sicheren Schuss muss er zumindest für einen kurzen Moment stillstehen.

Der SEK-Mann atmet tief durch, dann legt er das letzte Glied des Zeigefingers der rechten Hand auf den Abzug seines Gewehrs. Dabei lässt er die eingeatmete Luft langsam wieder entweichen, bis seine Hand völlig ruhig ist. Langsam erhöht der Zeigefinger den Druck auf den Abzug.

Überraschend kommt die Gruppe zum Stillstand. In der gleichen Sekunde bricht der Schuss. Schütze 3 ist so konzentriert, dass er den Schussknall überhaupt nicht wahrnimmt. Sofort repetiert er die nächste Patrone in das Patronenlager. Dabei nimmt er das Auge nicht vom Okular. So kann er sehen, dass der Geiselnehmer wie vom Blitz getroffen zusammenbricht, gleich einer Marionette, die man schlagartig von ihren Fäden getrennt hatte.

Die Geiseln bleiben eine Schrecksekunde lang wie gebannt stehen, dann springen sie nach allen Seiten auseinander. Gleichzeitig stürmen maskierte SEK-Männer aus dem Nichts hervor und ziehen sie mit sich.

Schütze 3 holt Atem und hebt den Kopf. In diesem Augenblick ertönt der Knall einer lauten Explosion, und die Gestalt des zusammengebrochenen Täters wird ein Stück emporgehoben und zur Seite geschleudert. Dann tritt für Sekunden bleierne Stille ein. Wie gelähmt starrt Schütze 3 hinunter auf die Szene, die für einen Moment wie ein eingefrorenes Standbild wirkt.

Nun setzen mehrere Reaktionen gleichzeitig ein: Die Schreie der Geiseln erfüllen die Luft. Männer des SEK führen die Befreiten zu den Bussen der Rettungsdienste, die herangefahren kommen. Wieder andere Einsatzkräfte stürzen sich auf den Täter, der sich nicht mehr rührt. Rund um seinen Kopf und seinen Leib breitet sich eine Blutlache aus. Einer der Notärzte und Männer des Rettungsdienstes nähern sich auf ein Zeichen der SEK-Männer dem Geiselnehmer. Wie sie feststellen müssen, hatte der Täter beim Fallen den Sicherungsstift aus der Granate gezogen und war auf den Sprengkörper gestürzt. Dieser war unter seinem Körper explodiert, so dass praktisch keine Granatsplitter nach außen traten. Als sie den Mann herumdrehen, bietet sich ihnen ein schlimmer Anblick. Die Granate hatte ihre schreckliche Wirkung entfaltet.

Schütze 3 löst sich aus seiner Erstarrung und beginnt mit routinierten Bewegungen sein Gewehr zu entladen und es im Koffer zu verstauen. Seine Aufgabe ist erledigt. Es dauert nur wenige Minuten, dann kommt die ruhige Stimme des Einsatzleiters aus dem Kopfhörer. „Sondereinsatzkräfte zurückziehen und an den Fahrzeugen sammeln. Der Täter ist ausgeschaltet. Alle Geiseln konnten unverletzt befreit werden. In der Bank befindet sich niemand mehr. Der Schuss, den der Täter abgegeben hatte, ist Gott sei Dank nur ein Bluff gewesen.“

Nachdem Schütze 3 seine Utensilien wieder eingepackt hat, schließt er das Fenster und schiebt den Tisch an seinen Platz zurück. Dann zieht er wieder die Maske über sein Gesicht und verlässt die Wohnung. In seinem Inneren herrscht eine schwer erklärbare Leere. Nun muss er das Erlebte für sich verarbeiten.