Günter Huth

Der Schoppenfetzer
und die Bacchus-Verschwörung

Foto: Rico Neitzel – Büro 71a

Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben.

Er ist Rechtspfleger (Fachjurist), verheiratet, drei Kinder.

Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich (ca. 60 Bücher). Außerdem hat er bisher Hunderte Kurzerzählungen veröffentlicht. In den letzten Jahren hat er sich vermehrt dem Genre Krimi zugewandt. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi. „Der Schoppenfetzer“ war geboren.

2013 erschien sein Mainfrankenthriller „Blutiger Spessart“, mit dem er die Simon-Kerner-Reihe eröffnete, mit der er eine völlig neue Facette seines Schaffens als Kriminalautor zeigt. Durch den Erfolg des ersten Bandes ermutigt, brachte er 2014 mit dem Titel „Das letzte Schwurgericht“ den zweiten Band, 2015 mit „Todwald“ den dritten Band, 2016 mit „Die Spur des Wolfes“ den vierten Band und 2017 mit „Spessartblues“ den fünften Band dieser Reihe auf den Markt.

Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung „Das Syndikat“.

Die Handlung und die handelden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lenbens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Günter Huth

Der Schoppenfetzer und die Bacchus-Verschwörung

Der achte Fall des Würzburger
Weingenießers Erich Rottmann

Buchverlag
Peter Hellmund
im Echter Verlag

WÜRZBURG ZU BEGINN DES 17. JAHRHUNDERTS

Der einachsige Henkerskarren mit dem Verurteilten auf der strohbedeckten Ladefläche hatte das Sandertor, das südliche Stadttor von Würzburg, erreicht. Der alte Apfelschimmel, dessen Ohren gegen die lästigen Fliegen mit schwarzen Ohrenschützern überzogen waren, blieb gehorsam stehen, als der Knecht des Scharfrichters die Zügel anzog. Der Torwächter warf einen flüchtigen Blick auf die jämmerliche Gestalt auf dem Karren, dann winkte er das Gefährt durch.

Der Henker, der mit einer schwarzen Kopfhaube mit Sehschlitzen und einem gleichfarbigen Umhang bekleidet war, stapfte mit weitausholenden Schritten dem Wagen voran. Zwei seiner Knechte gingen neben ihm. Der Verurteilte auf dem Schinderkarren war Würzburger Bürger und daher in der Stadt hinzurichten.

Gebete murmelnd schritt ein Benediktinermönch dicht hinter dem Gefährt her. In einigem Abstand folgten die Richter, die das Urteil gesprochen hatten, und andere Gerichtspersonen. Außerdem wurde der Zug von zwanzig Soldaten des Fürstbischofs eskortiert, denn der Verurteilte war kein gewöhnlicher Verbrecher. Es handelte sich um eine Person von Stand, die in einem Prozess, der weit über die Stadtgrenzen hinaus bei der Bevölkerung großes Aufsehen erregt hatte, verurteilt worden war.

Die meisten Menschen am Straßenrand wichen dem Zug schnell aus. Das Kreuzzeichen schlagend, verdrückten sie sich in eine der zahlreichen Seitengassen. Sie wollten mit dem Menschen, der als Anhänger des Teufels verurteilt worden war, nichts zu tun haben. In dieser Zeit bedurfte es nur der Denunziation eines missliebigen Nachbarn und schon war jener selbst als angesehener Bürger wegen Hexerei angeklagt. Leugnete der Angeklagte, dann kam er vor den Henker, der ihn mit Folterwerkzeugen so lange quälte, bis er ein Geständnis hatte. Das war fast immer der Anfang eines grausamen Endes.

Einige Schaulustige konnten dieser Art morbider Sensationsgier nicht widerstehen und blieben stehen oder folgten dem Zug.

Die kirchliche Inquisition hatte den Mann auf dem Karren der schweren Gotteslästerung, des Mordversuchs und der Hexerei im Verbund mit dem Teufel für schuldig befunden und ihn zwei Tage zuvor dem weltlichen Gericht zur Verurteilung übergeben. Dieses zögerte zunächst, die höchste Strafe auszusprechen, die für derartige Verfehlungen vorgesehen war. Immerhin handelte es sich bei dem Angeklagten um den Freiherrn Gunther von Wolfenstein, seines Zeichens Wundarzt und Medicus im Dienst des Fürstbischofs.

Ihm war vorgeworfen worden, seinen Herrn mit verhexten Mixturen aus giftigen Traubenkernen ums Leben bringen zu wollen. Dabei habe er sich der Hilfe des Teufels versichert und diesem dafür seine Seele verschrieben. Der hohe Herr habe nach Einnahme einer bestimmten Tinktur, die er im Vertrauen auf die Kunst des Arztes zu sich genommen hatte, schweres Unwohlsein, Atemnot und schwerste Verdauungsstörungen erleiden müssen. Tagelang war er nicht vom Abort gekommen. Dies alles nur, weil er seinem Arzt vertraut hatte, der ihm versichert hatte, dass dieses spezielle Mittel nur aus zerstoßenen Traubenkernen bestünde, die aus einem nur ihm bekannten Weinberg bei Würzburg stammten. Vermischt mit Wein, sollten sie das Leben des Fürstbischofs verlängern und seinem Geist bis ans Ende seiner irdischen Tage jugendliche Frische verleihen.

Auf diskrete Nachfrage des Gerichts beim hohen Herrn auf der Feste Marienberg, ob man den Angeklagten gnädig behandeln solle, hatte Julius Echter verlauten lassen, dass von Wolfenstein das gleiche harte Urteil wie den anderen Angeklagten, die der Hexerei überführt worden waren, zuteil werden solle. Julius Echter von Mespelbrunn war ein strenger, gottesfürchtiger Mensch, der beseelt war von dem Sendungsbewusstsein, die Stadt und das Hochstift ohne Ansehen von Stand und Rang aus den Klauen des Teufels zu befreien.

Für die Straftaten, deren man den Angeklagten für schuldig befunden hatte, gab es nur einen Urteilsspruch: Tod durch das Feuer auf dem Scheiterhaufen.

Dieses Urteil sollte jetzt auf dem Sanderrasen vollstreckt werden, wo solche Hinrichtungen häufig stattfanden. Der Platz war von der Stadt ausgewählt worden, weil er sich außerhalb der Stadtmauern befand und bei der herrschenden Trockenheit der Funkenflug des Feuers keine Gefährdung für die Bürgerhäuser darstellte. Außerdem kam der Wind die meiste Zeit aus Westen, so dass der Gestank der verbrennenden Körper nicht bis in die Stadt drang.

Gunther von Wolfenstein trug seine gewöhnliche Kleidung. Man wollte nicht, dass die Bevölkerung durch übertrieben dargestelltes Elend auch noch Mitleid mit den Verurteilten empfand. Alles sollte reibungslos seinen Gang gehen. Er stand aufrecht auf dem Karren. Nachdem ihm der Henker die Folterwerkzeuge gezeigt und ihre schreckliche Funktion mit deutlichen Worten erläutert hatte, war der Leibarzt des Fürstbischofs zusammengebrochen und hatte ein Geständnis abgelegt. Dadurch war ihm die schwere Folter erspart geblieben.

Trotz seiner körperlichen Unversehrtheit wirkte er, als würde er die Vorgänge um ihn herum kaum wahrnehmen. Man hatte ihm ein reichliches Henkersmahl serviert mit einer großzügigen Menge Wein. Sein vom Alkohol vernebelter Verstand ließ ihn die Umgebung nur verschwommen wahrnehmen.

Vereinzelte Umstehende riefen Schmähworte, auf die der Todeskandidat nicht reagierte. Die Rufe erstarben jedoch schnell unter den grimmigen Blicken der Soldaten.

Als der Zug das Tor passiert hatte, öffnete sich den Männern rechter Hand der Blick auf die Feste Marienberg, wo hoch über dem Main der Fürstbischof residierte.

„Dass Sie einen von Wolfenstein auch auf den Scheiterhaufen schicken, das wundert mich schon sehr“, flüsterte Ida Krüglein ihrer Nachbarin Magdalena Röhrig ins Ohr. Die beiden Frauen waren auf dem Weg zum Markt gewesen, als ihnen der Henkerskarren entgegenkam. Aus Neugierde schlossen sie sich dem Tross der Schaulustigen an. Hinrichtungen hatten auch immer einen gewissen Unterhaltungswert.

„Er soll dem hochwürdigsten Herrn den Wein verhext haben. Der gnädige Herr soll tagelang nicht mehr vom Abort heruntergekommen sein“, erwiderte Magdalena ebenso leise. „Nur durch Gebete und eine Besprechung durch seinen Beichtvater soll der Teufel vertrieben worden sein.“ Ihr Mann war als Büttel bei der Stadt angestellt und häufig bei Gerichtsverhandlungen dabei. Daher war sie immer bestens informiert.

„Wenn es danach ginge, müssten wohl einige Winzer auf dem Scheiterhaufen landen. Wir haben letztes Jahr einen Wein gekauft, der meinem Mann und mir erhebliche Leibschmerzen verursacht hat. Weiß der Teufel …“ Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Niemand hatte sie gehört. „… weiß der Himmel, was da alles reingepanscht war.“ Sie winkte ab, dann wechselte sie wieder das Thema: „Warum brennen sie ihn eigentlich auf dem Sanderrasen und nicht vor der Marienkapelle?“

Magdalena fühlte sich sehr wichtig und gab gern Auskunft. „Der Rat hat angeordnet, dass während der herrschenden Trockenheit nur noch vor der Stadt gebrannt werden darf. Sie wollen damit verhindern, dass durch den Funkenflug ein Feuer ausbricht.“

Ida nickte. Vor Feuer hatten die Menschen in den Städten großen Respekt. Eine Feuersbrunst konnte innerhalb kürzester Zeit eine ganze Stadt vernichten.

Mittlerweile hatte der Zug die Hinrichtungsstätte erreicht. Schon aus einiger Entfernung konnte die stark angewachsene Menschenmenge den vorbereiteten Scheiterhaufen sehen. Daneben waren schwarze Aschehaufen, die Überreste früherer Verbrennungen, zu erkennen.

Wie auf einen geheimen Befehl blieb die Menge in einiger Entfernung stehen, während der Henkerskarren weiterrollte. Als er zum Stillstand kam und die Henkersknechte den Mann vom Karren zerrten, ging ein Raunen durch die Zuschauer. Sie waren enttäuscht, dass das Geschehen ganz unspektakulär und ohne Widerstände des Hinzurichtenden vonstatten ging. Unter der Aufsicht des Scharfrichters wurde Gunther von Wolfenstein von den Gehilfen auf den Scheiterhaufen geschleppt und mit Ketten an einem Pfahl festgebunden. Noch immer zeigte er keine Reaktion.

Der Scharfrichter gab seinen Gesellen einen Wink, dann erkletterte er ebenfalls den Scheiterhaufen. Er schien die Ketten zu prüfen, mit denen der Mann am Pfahl befestigt war. Da auch die Knechte noch herumstanden, konnten die Schaulustigen nicht richtig erkennen, was genau er tat. Als die Männer dann der Reihe nach von dem Holzstoß herunterstiegen, hing der Verurteilte merkwürdig schlaff in den Ketten. Offensichtlich hatte er das Bewusstsein verloren. Nur der Henker und seine Knechte wussten, dass der Bruder des Verurteilten nach inständigem Bitten beim Fürstbischof doch noch einen kleinen Gnadenerweis erwirkt hatte. Mitten in der Nacht, damit er nicht gesehen wurde, hatte er daraufhin den Scharfrichter aufgesucht und ihm einen Beutel mit Münzen in die Hand gedrückt. Verbunden mit der Bitte, seinem Bruder die Qualen einer Verbrennung zu ersparen. Der Betrag war zufriedenstellend, so dass der Scharfrichter, als er so tat, als würde er die Ketten des Verurteilten kontrollieren, dem Mann mit einem gekonnten Griff das Genick gebrochen hatte.

Der mit Pech getränkte Scheiterhaufen fing schnell Feuer und schon nach wenigen Augenblicken war der Körper des Verurteilten in dichte Rauchwolken eingehüllt, so dass nichts mehr zu erkennen war. Kurz darauf schlugen die rotgelben Flammen hoch über Gunther von Wolfenstein zusammen und taten ihr vernichtendes Werk.

Auf dem Platz herrschte eine gespenstische Stille. Nur das laute Knacken der brennenden Holzscheite war zu hören und trieb den Zuschauern eiskalte Schauer über den Rücken.

Da es nun nichts mehr zu sehen gab, verlief sich die Menschenmenge schnell und die schaulustigen Bürger von Würzburg gingen wieder ihrer Arbeit nach, begleitet von der unterschwelligen Angst, dass der Antichrist ständig unter ihnen weilte. Über der Stadt am Main lasteten die dunklen Wolken des Hexenwahns und der Teufelsangst.

IN DIESEN TAGEN

Der Mann setzte sich auf seine Kawasaki und verließ den Hof seines Kumpels Richard, von allen nur Richie genannt, und fuhr in Richtung Retzstadt. Richie hatte ein Verschrottungsunternehmen und handelte außerdem mit Gebrauchtwagen. Der Deal, den der Motorradfahrer gerade mit Richie abgeschlossen hatte, würde diesem ein ordentliches Zubrot einbringen. Sein Plan war nahezu genial. Er musste grinsen. Als die Bundesregierung die Abwrackprämie für Altautos beschlossen hatte, war bestimmt keinem der Befürworter in den Sinn gekommen, dass sie auch auf ganz andere Weise genutzt werden konnte. Richie hatte nicht lange nachgefragt, als der Mann von ihm wissen wollte, ob er sich eines der abgemeldeten Fahrzeuge ausleihen könne. Für einen Umschlag mit Euroscheinen hätte Richie noch ganz andere Dinge verliehen.

Der Motorradfahrer fuhr zügig durch die Ortschaft, bis er nach dem Ortsschild auf den Hof eines Anwesens abbog, wo er die Maschine unterstellte, wenn er sie nicht benötigte. Dieses Motorrad, das er erst vor kurzem gekauft hatte, war nur für spezielle Zwecke bestimmt und sollte daher nicht für jeden erkennbar draußen stehen. Wenn alles vorüber war, würde er es wieder abstoßen. Er schob die Maschine in die muffige, baufällige Scheune, bockte sie auf, zog seine Motorradkluft aus und steckte sie in einen Rucksack. Dann schlüpfte er in einen sportlichen Radfahrerdress. An der Scheunenwand lehnte ein Mountainbike. Er prüfte den Luftdruck der Reifen, denn am nächsten Morgen kurz vor Sonnenaufgang wollte er damit in den Wald fahren, wo er sich nach Durchführung seines Planes mit Richie treffen wollte. Mit den Reifen war alles in Ordnung. Er setzte den Rucksack auf und schwang sich auf den Sattel. Nach kurzer Fahrt kam er auf die asphaltierte Straße und trat dort kräftig in die Pedale.

Obwohl er gerade dabei war, den Tod eines Menschen zu planen, war er erstaunlich ruhig. Diese Abgeklärtheit rührte daher, dass er einige Jahre lang als Söldner an den Kriegsschauplätzen dieser Welt gekämpft hatte.

Kurze Zeit später bog der Mann in einen Feldweg ein. Von hier aus führte ein leicht gewundener Weg ständig bergauf. Als er die Anhöhe mit dem großen Kreuz erreicht hatte, ging sein Atem etwas schneller, doch war er keineswegs atemlos. Der Rest des Weges verlief durch Weinberge ständig bergab. Eine halbe Stunde später erreichte er das Haus seiner Mutter.

Innerlich beglückwünschte er sich zu seinem Plan. Er hatte ihn fast ein Dutzend Mal durchdacht. Es konnte einfach nichts schiefgehen.

Einige Tage darauf kam der alleinstehende Rentner Axel Fuller aus dem Weindorf Retzstadt in Unterfranken bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben. Fuller war Winzer und Besitzer einiger Weinberge, die er bis auf einen verpachtet hatte. Mit dem Weinberg, den er noch selbst bewirtschaftete, hatte es eine besondere Bewandtnis. Obwohl in diesem Wengert nur wenige Zeilen in steiler Hanglage wuchsen, war er mehr wert als seine übrigen Weinberge zusammen. Durch Zufall hatte er vor Jahren herausgefunden, dass dieser Weinberg ein Geheimnis barg, das er nur wenigen Männern im Dorf anvertraut hatte. Die Winzer hatten die Besonderheit dieses Weinbergs erkannt und in Gedenken an den Weingott Bacchus, dem sie ihrer Meinung nach dieses Geschenk verdankten, den Bund der Bacchus-Brüder gegründet. Sie hatten sich geschworen, das Geheimnis des Weinbergs unter allen Umständen zu wahren. Doch schon nach kurzer Zeit war bei einigen Mitgliedern der Bruderschaft der Wunsch nach einer kommerziellen Nutzung des Gottesgeschenks aufgekommen. Das hatte zum Streit geführt, infolgedessen sich jene Winzer vom ideellen Zweig der Bruderschaft abspalteten und sich fortan Retschter Bacchus-Bruderschaft nannten.

Fuller saß nun zwischen zwei Stühlen. Einerseits wollte er das wunderbare Geheimnis wahren, auf der anderen Seite sah er aber auch ein, dass man ein solches Geschenk des Bacchus allen Menschen kostenlos zur Verfügung stellen sollte. So traf er in seinem Testament eine Regelung, die er allerdings für sich behielt. Wenn er darauf angesprochen wurde, wie er sich die Zukunft seines besonderen Weinbergs vorstellte, erklärte er nur, dass er eine für alle Parteien zufriedenstellende Regelung getroffen habe.

Ein baldiges Ableben von Fuller war nicht zu befürchten gewesen, denn der alte Winzer war dank Bacchus’ Geschenk topfit. Schon seit Jahren trainierte er täglich kurz nach Sonnenaufgang in den Fluren der Gemeinde für den Würzburg-Marathon. Fuller rechnete sich gute Chancen aus, in seiner Altersgruppe auf einen der vorderen Plätze zu kommen.

Bei seinem letzten Trainingslauf hatte er wie üblich die Verbindungsstraße zwischen Retzbach und Retzstadt bei der Einmündung zum Bendelsgraben überquert, um auf der anderen Seite des Grundes die Höhen des Langenbergs zu erlaufen. Fuller trug bei seinem Training stets Köpfhörer im Ohr, weil er beim Laufen gerne Country-Musik hörte, deren Rhythmus ihm zusätzlichen Schwung verlieh. Um diese frühe Zeit war auf der Verbindungsstraße praktisch kein Verkehr, so dass er nicht sonderlich aufmerksam war.

Der starke Geländewagen tauchte so plötzlich auf, dass Fuller keine Chance hatte zu reagieren. Mit hoher Geschwindigkeit kam das Fahrzeug aus Richtung Retzbach herangerast. Fuller wurde von dem massiven Frontbügel des Wagens mit voller Wucht erfasst und mehrere Meter weit in eine angrenzende Wiese geschleudert. Er war auf der Stelle tot.

Der Fahrer des Geländewagens fuhr mit kaum verminderter Geschwindigkeit weiter. Erst am Ortsschild Retzstadt wurde er langsamer. Kurz nach dem Dorf, in Richtung Gramschatz, stand rechts in einem Waldweg ein Abschleppfahrzeug. Die Laderampe des Lkw war ausgefahren. Der Geländewagen hielt an, der Fahrer sprang hinter dem Steuer hervor, öffnete den Gepäckraum und zog ein Mountainbike heraus. Er lehnte es gegen einen Baum, dann stieg er wieder ein und steuerte den Wagen auf die Ladefläche. Er und der Lenker des Abschleppwagens zurrten das Geländefahrzeug mit wenigen Handgriffen fest, dann zogen sie eine Abdeckplane über den Wagen und die Rampe wurde eingefahren.

Der Geländewagenfahrer zog einen Umschlag aus der Tasche und übergab ihn dem Abschlepper. Dieser warf einen prüfenden Blick hinein und nickte zufrieden. Er stieg in die Fahrerkabine des Lkw und wendete. Schon nach kurzer Zeit verlor sich die Spur des Abschleppfahrzeugs auf den Straßen Unterfrankens. Der Geländewagen überlebte die Nacht nicht. Als handliches Metallpaket kam er drei Stunden später aus Richies Schrottpresse.

Wenig später ärgerte sich der Jäger Fritz Stangl, der sich in diesen nächtlichen Stunden auf der Pirsch in den Wäldern auf den Höhen rund um Retzstadt befand, über einen verrückten Mountainbiker, der „wie ein Gestörter“, wie er schimpfte, an seinem Hochsitz vorüberraste und ihm den Ansitz damit gründlich verdarb.

Der Tote in der Wiese wurde erst eine Stunde nach dem Unfall entdeckt, als sich ein Retzstadter Bürger früh auf den Weg zur Arbeit machte. Gegen den unbekannten Fahrer des Unglückswagens wurde von der Polizei ein Ermittlungsverfahren wegen Fahrerflucht und fahrlässiger Tötung eingeleitet. Aufgrund der am Unfallort vorhandenen Spuren konnte die Polizei feststellen, dass es sich bei dem Tatfahrzeug um einen Geländewagen gehandelt hatte. Auch den Typ des Geländewagens konnte man wenig später feststellen, und es wurde ein entsprechender Fahndungsaufruf eingeleitet, der aber ergebnislos verlaufen sollte.

Da für das Verfahren gegen den flüchtigen Fahrer die genaue Todesursache und der Todeszeitpunkt festgestellt werden mussten, wurde Alex Fuller im Institut für Rechtsmedizin obduziert. Wie immer, wenn der obduzierende Pathologe eine Leichenöffnung vornahm, las er zuerst die Einlieferungspapiere durch. Als er dann das weiße Leinentuch von dem Körper des Toten entfernt hatte, konnte er nicht glauben, was er sah. Vor ihm lag der durchtrainierte Körper eines wohlgenährten Mannes im besten Alter und in einer sehr guten körperlichen Verfassung. Auch die spätere Untersuchung der inneren Organe des Toten entsprach dieser Einschätzung. Mehrmals vergewisserte sich der Mediziner anhand der Papiere, dass er sich nicht getäuscht hatte. Aber die Unterlagen ergaben eindeutig, dass Fuller zum Zeitpunkt seines Ableb ens über siebzig Jahre alt war. Man musste jetzt nicht unbedingt von einem medizinischen Wunder sprechen, es war aber doch so ungewöhnlich, dass der Pathologe seine Kollegen zu sich rief und ihnen den Toten präsentierte. Diese nahmen den Zustand von Fullers Leichnam ebenfalls mit Erstaunen zur Kenntnis. Eine sofort veranlasste Überprüfung der Angaben auf den Papieren ergab, dass kein Amtsversehen vorlag. Da hier ein über das Interesse der Staatsanwaltschaft an der genauen Todesursache hinausgehendes wissenschaftliches Interesse der Pathologen vorlag, wurden die entnommenen feingeweblichen Proben der Organe einer besonders gründlichen Untersuchung unterzogen. Dabei stellte man eine große Menge einer in den Zellen eingelagerten Substanz fest, die den Wissenschaftlern einige Rätsel aufgab. Diese Substanz war nicht toxisch, so viel stand fest. Sie musste sich über einen langen Zeitraum in den Zellen des Toten eingelagert haben. Trotz dieser merkwürdigen Umstände wurde der Leichnam Fullers schließlich zur Bestattung freigegeben, allerdings nicht, ohne vorher entsprechende Proben sicherzustellen.

Das Ergebnis der Untersuchung ließ dem Pathologen keine Ruhe. Er schickte die Gewebeproben nach langen Überlegungen an einen Studienfreund nach Moskau. Dieser war Chemiker in einem bekannten Pharmaunternehmen Russlands. Er arbeitete dort in der Entwicklungsabteilung, die über ungleich feinere Untersuchungsmöglichkeiten verfügte und der ein fast unbegrenztes Budget zur Verfügung stand. Dieser Weg hatte zudem den Vorteil, dass von dem Befund vorerst kein deutsches Labor erfahren würde.

Der Pathologe hatte das Gefühl, hier etwas ganz Besonderem auf der Spur zu sein.

Es war in der Nacht nach dem Todestag von Axel Fuller, als sich eine dunkel gekleidete, kräftige Gestalt dem Anwesen des Verstorbenen näherte. Dieses grenzte direkt an den Waldrand, so dass die Person ungesehen den niedrigen Jägerzaun überwinden konnte. Als sie wenig später den Hintereingang des Hauses erreicht hatte, stellte sie fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Der Verstorbene war ein sehr vertrauensseliger Mensch gewesen.

Der Eindringling schob die Tür langsam auf. Plötzlich ertönte ein lautes Gepolter. Erschrocken wollte er, einem ersten Impuls folgend, flüchten, riss sich aber zusammen. Er ließ eine kleine Taschenlampe aufleuchten und erkannte einen Besen, der offenbar hinter der Tür angelehnt gestanden hatte. Aufatmend wischte sich der Eindringling den Schweiß von der Stirn. Er überlegte kurz, wo er zuerst nachsehen sollte, und entschied sich für das Wohnzimmer. Kaum hatte er die Schwelle zum Wohnraum überschritten, bekam er einen harten Schlag auf den Kopf und brach bewusstlos zusammen.

Eine in einen schwarzen, eng anliegenden Trainingsanzug gekleidete männliche Gestalt verstaute mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen den mit Leder umwickelten Totschläger in der Jackentasche. Die Warnvorrichtung in Form des Besens hatte bestens funktioniert. Kurz musterte der Mann das Gesicht seines Opfers im schwachen Schein seiner kleinen Taschenlampe. Ein leiser Pfiff kam über seine Lippen. Er kannte den Mann. Nach einer kurzen Überprüfung des Pulsschlags des Niedergeschlagenen nickte er zufrieden. Sicher würde dieser am nächsten Tag ziemliche Kopfschmerzen haben, aber außer einer großen Beule würde er keinen Schaden davontragen.

Der Mann machte sich im Schein seiner Taschenlampe weiter an die Untersuchung eines Faches im Wohnzimmerschrank, in dem zahlreiche persönliche Papiere aufbewahrt wurden. Das schwache Schloss hatte wenig Widerstand geleistet. Einige Minuten später hielt der Eindringling einen Umschlag mit der Aufschrift „Mein Testament“ in der Hand. Zufrieden grunzte er.

Nachdem er alle Sachen an ihren Platz zurückgelegt hatte, verschloss er den Schrank wieder, schob den Umschlag vorn in seinen Gürtel und eilte zum Hinterausgang. Auf dem Weg blieb er kurz bei dem Niedergeschlagenen stehen. Einen Augenblick überlegte er, ob er ihm nicht doch das Genick brechen sollte. Dann sah er davon ab. Es gab keine Notwendigkeit. Eine weitere Leiche hätte außerdem zu viel Unruhe ins Dorf gebracht.

Ohne Probleme erreichte er den Waldrand und tauchte in die Finsternis des Baumbestandes ein. Kaum hatte er ein paar Meter zurückgelegt, erahnte er von rechts eine Bewegung. Dennoch kam seine Abwehrreaktion zu spät. Der harte Gegenstand traf ihn voll im Genick. Mit einem leisen Ächzen ging er zu Boden.

Sprungbereit blieb die Frau, die den dicken Buchenast geführt hatte, stehen. Doch der Niedergeschlagene rührte sich nicht. Die Angreiferin drehte den am Boden liegenden Mann mit dem Fuß auf den Rücken. Dabei entdeckte sie das im Gürtel steckende Kuvert. Mit einem leisen Lachen nahm sie den Umschlag an sich. Sie vergewisserte sich kurz, dass es sich um die Unterlagen handelte, deretwegen sie hier war. Dann drehte sie sich um und verschwand als dunkler Schatten zwischen den Bäumen. Ihr Auftraggeber würde mit ihr zufrieden sein.