Niklaus Kuster

Spiegel des Lichts

Franz von Assisi – Prophet
der Weltreligionen

Franziskanische Akzente

herausgegeben von Mirjam Schambeck sf
und Helmut Schlegel ofm

Band 22

NIKLAUS KUSTER

Spiegel des Lichts

FRANZ VON ASSISI –

PROPHET DER WELTRELIGIONEN

echter

Inhalt

Einstieg: Lichtwege

1. Religionen – „Spiegel des Lichts“

Friedenszeichen der Religionen in Stein

Erstes Friedensgebet der Religionen in Assisi

Weitere Assisi-Treffen im Zeichen des Terrors

Zehn Gebote der Religionen für den Frieden

Katholische Leadership im interreligiösen Dialog

2. Franziskus – Prophet der Weltreligionen

Enge Grenzen und weite Horizonte

Befremdendes und Entfremdung

Grenzüberschreitungen zu neuer Freiheit

Fremde werden einander Geschwister

Pilgernd in der Kirche

Weltweite Friedenssendung

Begegnung mit dem Sultan in Ägypten

Gottesliebe in allen Religionen

Immun gegen religiöse Aggression

Statt „heilige Kriege“ – friedliches Zusammenleben

Was Franziskus vom Islam lernt

Verbündete: Papst Franziskus und der Großimam von Kairo

3. Heilige Texte – Universale Weite

Schöpfung und Weisheit im Judentum

Universale Weite im Christentum

Ein Gott und drei Religionen im Islam

Geschwister und ein einziger Vater im Hinduismus

Von der Weisheit der 99 Namen

4. Geschwister – Freundinnen – Gefährten

Vom statischen Friedenszeichen

… zu dynamischen Beziehungen

Gefährtenschaft zwischen Religionen

Gemeinsam vor Gott und für die Welt

Llulls „Buch der drei Weisen“

5. Interreligiöse Begegnung: Franziskanische Optionen

Nachklang: Pilgerwege

Anmerkungen

Zum Weiterlesen

Abkürzungsverzeichnis

Einstieg: Lichtwege

Klara von Assisi ermutigt ihre Schwestern am Ende ihres Weges, die gemeinsame Sendung beherzt weiterzutragen. Im Rückblick auf ihr Leben fasst sie diese in ein sprechendes Bild: Spiegel des Lichtes sein.1 Die heilige Schwester drückt damit aus, was Mystikerinnen und Gottesfreunde in verschiedenen Religionen ähnlich erleben: Echte Gotteserfahrung führt ins Licht und auf Wege des Lichts. Mit Blick auf die Geburt Jesu sagt das Lukasevangelium, Gottes Liebe lasse Licht aufstrahlen aus der Höhe, das allen leuchtet, „die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes“, und es werde die Schritte der Menschen auf den Weg des Friedens lenken (Lk 1,78–79). Wer im Licht Gottes lebt, kann zum Spiegel des Lichtes werden – in dieser Welt und für andere Menschen.

Echte Religion führt auf lichtvolle Wege und es geht ihr um Shalom – Salam – Pax: um Friede auf Erden. Im Herbst 1986 trafen sich alle Weltreligionen und großen Kirchen erstmals in Assisi, um gemeinsam für den Frieden der Welt zu beten. Nicht zufällig wählte der einladende Vertreter der größten Weltreligion, Papst Johannes Paul II., als Versammlungsort das umbrische Städtchen aus: Franziskus inspiriere als Mystiker und Bruder zu diesem gemeinsamen Beten. Tatsächlich drücken Rundbriefe des Heiligen eine weltweite Hoffnung für „alle Menschen, wo auch immer auf Erden“ (NbR 23, FQ 91) aus. Seine staunende Erfahrung, dass es Gottesliebe in anderen Religionen gibt, fließt auch in die Ordensregel der Franziskaner ein: Sie ermutigt dazu, sich mit Menschen anderen Glaubens vertraut zu machen.

Vier Jahre nach dem ersten Friedenstreffen der Weltreligionen und Kirchen in Assisi prägte Hans Küng das Motto Frieden unter den Nationen durch Frieden unter den Religionen.2 Drei weitere große Assisi-Treffen zeigen eindrücklich, welch kraftvolle Zeichen das Zusammenwirken aller Religionen setzen kann. Die Versammelten beteten jeweils erneut in prominenten Delegationen der Welt- und Naturreligionen mit ihren verschiedenen Konfessionen. Zum zweiten Friedensgebet lud 2002 Johannes Paul II. nach dem Terroranschlag von New York. 2011 war es Benedikt XVI. anlässlich des 25. Jahrestags des prophetischen ersten Friedensgebetes. 2016 versammelten sich die Religionen nach einem schrecklichen Terrorsommer in Europa und verurteilten jede Form von Gewalt im Namen Gottes. Im Februar 2018 schließlich setzte Franziskus, der Bischof von Rom, ein weiteres kraftvolles Zeichen: In Erinnerung an die prophetische Begegnung zwischen seinem Vorbild aus Assisi und dem Sultan von Ägypten vor 800 Jahren traf er die höchste Lehrautorität der islamischen Welt, Großimam Al-Tayyeb von Kairo, auf der arabischen Halbinsel und unterzeichnete mit ihm eine historische „Erklärung über die Geschwisterlichkeit aller Menschen“. Sie ruft die Religionen leidenschaftlich dazu auf, gemeinsam an einer gerechteren, menschlicheren und gewaltlosen Welt zu arbeiten.

Religionen können miteinander für den Frieden unter den Nationen einstehen. Sie können gemeinsam der ganzen Menschheit dienen. Religionskriege in der Geschichte und religiös motivierter Terror in der Gegenwart zeigen jedoch auch das Gegenteil. Religiosität kann intolerant sein und das Heil für sich allein pachten. Religiöser Fanatismus spaltet und hetzt auf, schürt Aggression und verbreitet Hass, grenzt Menschen aus und schreckt nicht vor Gewalt zurück. Atheisten fordern daher eine Welt ohne Religionen und zeigen sich überzeugt, dass eine areligiöse Menschheit friedlicher würde. Auch da warnt die Geschichte vor Illusionen. Die größten Katastrophen der Weltgeschichte wurden durch atheistische Systeme verursacht: Nationalsozialismus, Stalinismus und Maoismus suchten Religion auszumerzen und ihren Traum einer neuen Welt mit Gewalt durchzusetzen. In wenigen Jahren verursachten diese Ideologien, wie eine Ersatzreligion verkündet, gefeiert und verbreitet, Millionen von Toten. Und erinnern gewisse Atheisten, die Religionen vehement bekämpfen, nicht auch heute mit geistiger Militanz an Kreuzritter und andere „heilige Krieger“?

Dieser Band in der Reihe Franziskanische Akzente führt mehrfach nach Assisi: Es folgt den Spuren des Kleinbürgers Franziskus, dessen Horizonte sich schrittweise erweiterten, bis er die ganze Menschheit als eine einzige Familie sehen lernte. Die Wege des Poverello führen nach Ägypten, wo Franziskus beherzt in einen Religionskrieg eingriff und dabei über die religiöse Weisheit und die Alltagsspiritualität staunte, die er im Islam antraf. Genau 800 Jahre sind es im Herbst 2019 seit der prophetischen Begegnung zwischen dem Bruder aus Assisi und Sultan Muhammad al-Kāmil. Franziskaner wurden in der Folge zu Brückenbauern zwischen den Religionen: im Heiligen Land während sieben Jahrhunderten und weltweit auch in Europas Kolonien. Unser Weg führt nach Assisi zurück, das heute „Hauptstadt der Weltreligionen“ genannt wird. Wie kam es zu den großen Friedenstreffen der Religionen in der Stadt des Franziskus? Was ist ihre Botschaft? Welche Impulse gewinnt der interreligiöse Dialog an der Basis der Nationen und Religionen von diesen Gipfeltreffen? Und wie können Glaubende verschiedenster Religionen im Alltag zusammenleben und gemeinsam Spiegel des Lichtes sein?

Während Glaubenswächter aller Art dazu neigen, das Eigene und Unverwechselbare ihrer Religion zu verteidigen, erfahren Mystikerinnen und Mystiker das Verbindende. Heilige Texte aus verschiedenen Religionen bekräftigen die weite Hoffnung, die aus Wegen und Worten beider Franziskus spricht: des Franz von Assisi und des Franziskus von Rom. Auch mystische Perlen drücken ermutigende Gemeinsamkeiten aus. Ausgewählte Beispiele sollen Inspiration für beherzte und lehrreiche Begegnungen wie jene am Nil sein: in der zunehmend multireligiösen Welt von heute.

Pfingsten 2019,

800 Jahre nach Franziskus’ Aufbruch

von Assisi nach Ägypten

Br. Niklaus Kuster