Gisbert Greshake

Kleine Fuge in g-moll

Ein Kirchenkrimi aus dem Vatikan

Gisbert Greshake

Kleine Fuge in g-moll

Ein Kirchenkrimi aus dem Vatikan

echter

Vorbemerkung

Der vorliegende „Kirchenkrimi“ wurde schon vor mehr als zehn Jahren geschrieben und später unter dem Autoren-Pseudonym Roman Carus veröffentlicht, bisher aber nur an einige wenige Leser weitergegeben.

Angesichts der gegenwärtig wieder in die Öffentlichkeit getretenen Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche erhält der Roman eine ganz neue Aktualität. Er zeigt nämlich, dass die verbreitete Reaktion der kirchlichen Hierarchie auf diese Fälle, nämlich Vertuschen und Verheimlichen um des „Ansehens“ der Kirche willen, bereits vor mehr als einem Jahrzehnt von mir exakt so vorausgesehen wurde (siehe S. 36 f, 68 f). Deshalb erscheint der Roman nun unter meinem wirklichen Namen, um so auch persönlich dafür einzustehen, dass es mit der Ideologie von der Kirche „als Haus voll Glorie“, das „weit über alle Land“, sprich: weit über den Niederungen der Welt, steht, ein Ende haben muss und eine neue, auf S. 69ff angedeutete Sicht und Form der Kirche unbedingt erforderlich ist.

Inhalt

Vorspiel

Erstes Kapitel
Im Vatikan brennt’s

Zweites Kapitel
Nichts passt hier zusammen

Drittes Kapitel –
„Da waren’s jetzt schon sechs!“

Viertes Kapitel
Musik wird jählings abgebrochen

Fünftes Kapitel
Eine kleine Fuge kommt groß heraus

Hinweise

Vorspiel

Samstag, 9. Oktober

„Und du bist ganz sicher, ganz, ganz sicher, dass da niemand im Haus ist und dass die Sicherheitsanlage wirklich nicht funktioniert?“ Die Frage war so leise geflüstert, dass Chicco sie trotz der nächtlichen Stille kaum verstand. Denn obwohl es soeben aus der Ferne von einigen Kirchtürmen zwei Uhr geschlagen hatte, konnte von einem „Schweigen der Nacht“ keine Rede sein. In Rom gab es ohnehin als ständige akustische Hintergrundkulisse das Rauschen einer nie abbrechenden Verkehrslawine. Hinzu kamen die typischen Nachtgeräusche einer Großstadt: Zuschlagen von Autotüren und Hochdrehen anfahrender Motoren, Geschimpfe und Geschreie von Streithähnen, Gekreische und Gestöhne von liebestrunkenen Paaren, gelegentlich auch einige Takte Musik, wenn Türen von Nachtclubs oder Diskos kurz geöffnet wurden.

„Was hast du gesagt?“, fragte Chicco zurück. Aber Pepe wiederholte die Frage nicht. Ihm war bewusst geworden, dass er sie schon oft, viel zu oft gestellt hatte und sein Spezi immer wütender darauf reagierte. Der empfand das ständige sorgenvolle Nachfragen als Kritik an seinen „strategischen Fähigkeiten“. Schließlich war er es, der alles gründlichst recherchiert und vorbereitet hatte; schließlich hatte er die Luxusvilla ausgemacht, die zwar keine völlig einsame Position hatte – wie sollte das in der Ewigen Stadt möglich sein? –, die aber doch durch ein paar Grünstreifen ringsherum und durch ihre Lage in einer Sackgasse äußerst isoliert war. Schließlich hatte er herausgebracht, dass sie nur von einem einzigen Mann bewohnt war, der vorgestern für ein paar Tage einen Urlaub angetreten hatte. Und das wusste Chicco nicht nur von Palli, einem ehemaligen Klassenkameraden, er hatte selbst aus gebührendem Abstand die Abfahrt des Villenbesitzers im vollbepackten Range Rover beobachtet. Von seinem früheren Schulfreund hatte er auch in Erfahrung gebracht, dass es im Haus keinen eigenen Hausmeister gab, denn diesen Job erledigte der gleiche Palli neben seiner Stelle am Institut sozusagen „mit der linken Hand“ mit. Auch das übrige Personal wohnte nicht im Haus, sondern kam stundenweise von außerhalb und verließ spätestens am Abend die Villa. All diese und andere Informationen hatte er über einen längeren Zeitraum so ganz „nebenher“ von Palli, den er regelmäßig „in der Szene“ traf, erfahren, ohne dass der auch nur im entferntesten ahnte, dass Chicco damit etwas anfangen wollte und dunkle Pläne schmiedete.

Alles in allem also: Ideale Verhältnisse! Natürlich wurde die Villa nachts regelmäßig von einer Wachfirma kontrolliert, und überdies war sie vom Keller bis zum Dach extrem alarmgesichert: Da gab es eine Unmenge von Bewegungsmeldern rings um das Haus. Alle Türen und Fenster hatten Sensoren, die durch eine Standleitung mit der größten Wachdienst-Firma Roms verbunden waren; diese konnte sich auch über verschiedene Nachtsichtkameras jederzeit über die momentane Sicherheitslage im Außenbereich der Villa informieren. Schließlich war der Besitzer ja nicht „irgendwer“.

Aber gerade in Sachen Sicherheit kannte Chicco sich hervorragend aus. Er hatte vor seinen ersten Straftaten – einigen Betrügereien und einem mittelschweren Einbruch – bei einer Wachdienst-Firma gearbeitet und sich dabei entsprechende Kenntnisse angeeignet, die er dann bei seinen Zellennachbarn im Knast, einem ausgesprochenen Sicherheitsfachmann, noch vertieft hatte. Im übrigen war er ein begeisterter Computer-Freak, der sich regelmäßig in Zeitschriften aus dem IT-Bereich über neuere Entwicklungen kundig machte. Vor nunmehr drei Tagen hatte er mit angeklebtem Oberlippenbart und leicht getönter Brille an der Villa vorgesprochen, an seinem schwarzen Wams das Logo der früheren Wachfirma, in der Hand einen Ausweis, eine überaus echt erscheinende Fotokopie seines früheren Dokuments. So legitimiert; erklärte er der Hausdame, er müsse kurz die Anschlüsse der Kameras überprüfen, da einige von ihnen keine brauchbaren Bilder mehr abgäben. Unter den kritischen Blicken dieser Dame machte er sich an der Zentrale des Sicherheitssystems zu schaffen, schaltete dieses aber beileibe nicht ab – das wäre ja spätestens am Abend aufgefallen –, sondern baute eine vorher präparierte Miniatur-Zeituhr ein, die in dieser Nacht ab 2 Uhr das ganze System abstellte.

Jetzt also war es so weit. Die Bewegungsmelder blieben tatsächlich ohne jede Reaktion, als sie den Vorgarten durchschritten. Das Öffnen der Tür war reine Routine. Nun hieß es, konzentriert zu arbeiten. Chicco hatte von Palli gehört und bei seinem kurzen „Besuch“ auch selbst bestätigt gefunden, dass die Villa äußerst luxuriös eingerichtet und mit Kunstwerken, kostbaren Teppichen und Möbeln aus dem Sei- und Settecento vollgestopft war. Aber weder er noch Pepe standen auf größere Gemälde, Holz- und Metallplastiken, Teppiche oder Mobiliar. Deren Transport war viel zu gefährlich, und bei den Verhandlungen mit dubiosen Kunsthändlern zog man immer den Kürzeren. Denn die wussten genau, dass Diebe bei Unzufriedenheit mit dem angebotenen Preis die einmal vorgeführten Sachen schon allein wegen ihrer Größe und ihres gefährlichen Transports normalerweise nicht wieder mitnahmen, um sie einem anderen Hehler zu präsentieren. Deswegen waren Chicco und Pepe nur an kleineren Pretiosen und Schmuckstücken, an Münz- oder Briefmarkensammlungen, an hochwertigen Kameras und – natürlich! – an Geld interessiert. Palli hatte einmal erzählt, in der Villa gäbe es einen Tresor von solchem Ausmaß, wie er ihn noch nirgendwo sonst gesehen hätte außer in Kriminalfilmen, wenn da gelegentlich große Tresorräume von Banken gezeigt würden. Chicco hatte nicht weiter gefragt, um keinen Verdacht zu erregen. Wenn der Tresor wirklich so groß war, würde man ihn auch finden, und irgendwas Brauchbares würde sicher drin sein.

Aber man fand ihn nicht, so sehr man auch suchte. Sie inspizierten alle Räume, öffneten Schränke und schoben sie beiseite, brachen die Holzverkleidung einiger Wände auf, schauten hinter riesige Wandgobelins und große Gemälde und hebelten sogar den elektrischen Schaltschrank weg. Alles vergebens!

Pepe griemelte hämisch: „Na, wo bleibt denn dein großer strategischer Wurf?“

„Chiudi il becco! (Halt dein Maul!)“, brüllte Chicco. „Porco Giuda! (Verdammte Scheiße!). Das Ding muss es doch geben. Schauen wir noch in den Keller. Wenn wir auch da nichts finden, brech’ ich dem Palli alle Rippen im Leib. Wir nehmen dann halt ein paar andere Kleinigkeiten mit.“

Doch siehe da! Neben der Kellertür befand sich eine weitere Tür, der innere Zugang zur Garage, der weit offen stand. Und durch diesen hindurch fiel der Blick auf die Seitenwand eines Tresors von wahrhaft gigantischen Ausmaßen: Er reichte vom Boden bis zur Decke, war über 1,50 m breit und ragte mindestens 80 Zentimeter aus der Wand, in die er hineingemauert war, heraus, so dass er insgesamt auch eine beträchtliche Tiefe haben musste. Jagdfieber ergriff die beiden Ganoven. In diesem Tresor musste doch wohl einiges zu holen sein! Und das Öffnen sollte dabei eigentlich keine allzu großen Schwierigkeiten machen.

Die Zeiten waren vorbei, in denen man mit Schweißbrennern arbeitete. Das machte zu viel Lärm und dauerte bei Tresoren dieser Größe, deren Stahlwände und -türen normalerweise auch eine außergewöhnliche Dicke aufwiesen, viel zu lange. Auch das Knacken der Schlösser mit Nachschlüsseln, Werkzeug und Stethoskop gehörte der Vergangenheit an, jedenfalls was die neuesten Tresore anging. Im Allgemeinen hatten die nämlich ein digitales Code-Schloss, d.h. sie waren durch die Eingabe eines fünf- oder sechsstelligen, jederzeit zu variierenden Codes zu öffnen, wobei die Eingabe am Tresor-Schloss selbst oder/und mithilfe einer Art „Fernbedienung“ zu geschehen hatte. Damit man aber den Code nicht durch systematisches Durchprobieren aller nur denkbaren Möglichkeiten herausfinden konnte (was bei einem sechsstelligen kombinierten Zahlen- und Buchstaben-Code die Zahl 366, eine elfstellige Ziffer, ergab, sodass das Durchprobieren ohnehin nur mithilfe eines Computers durchgeführt werden konnte), waren Zeitsperren eingebaut. Nach drei Fehlversuchen konnte man erst nach einigen Stunden oder sogar Tagen einen neuen Versuch machen. Doch seit einigen Monaten gab es ein neues, in Amerika entwickeltes und unter kleinen und großen Ganoven sogleich weltweit verbreitetes Software-Programm, das solche Sperren überwinden konnte, indem es dem programmierten Tresorschloss nach jeweils drei Fehlversuchen den Ablauf einer langen Zeitspanne „vorgaukelte“. Man brauchte jetzt also nur noch mittels Notebook, das mit einem kleinen Sender versehen war, die 366 Möglichkeiten mit einem kleinen Verzug nach je drei Versuchen automatisch durchgehen. Das dauerte etwa zwei Stunden, und schon war der Tresor geöffnet. Sollte allerdings der Code nicht nur aus Zahlen und Buchstaben, sondern auch aus Sonderzeichen bestehen oder sollte der Code gar achtstellig sein (was vermutlich jetzt noch nicht der Fall war, womit man aber in Zukunft nach weiterer Entwicklung des besagten neuen Software-Programms sicher zu rechnen hatte), konnte bei dann gegebenen 458 Möglichkeiten, d. h. einer vierzigstelligen Zahl der ganze Vorgang dann vielleicht auch Tage in Anspruch nehmen.

Pepe startete seinen Laptop. Beide machten sich auf eine längere Wartezeit gefasst. Doch bereits nach ungefähr 20 Minuten gab es einen leisen Knacks; der Computer hatte den richtigen Code offenbar schon erwischt. Mehr gierig als nur neugierig öffneten sie die Tür und wollten mit einer Taschenlampe den riesigen Stahlschrank ausleuchten, doch halt! … sie strauchelten beide wie auf Kommando zurück. Vor ihnen standen, an die Rückwand des Tresors gelehnt, zwei leblose menschliche Gestalten ohne Kopf, genauer: an Stelle der Köpfe sah man, in einer Art durchsichtiger Plastiktüte eingewickelt, einen absolut formlosen Brei aus Blut, Haut, Gehirnmasse, Knorpeln und Knochen. Ein grauenhafter Anblick, der bei beiden sofort einen grellen Schrei auslöste! In was war man da hineingeraten?

„Nichts wie weg!“, schrie Pepe. Aber ehe die zwei sich zur Flucht auch nur umwenden konnten, spürten sie als Letztes, bevor sie ihr Bewusstsein verloren, einen betäubenden Geruch …