Christoph Heizler

Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz

Studien zur systematischen und spirituellen Theologie

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Begründet von Gisbert Greshake,

Medard Kehl und Werner Löser

Herausgegeben von Eberhard Schockenhoff,

Jan-Heiner Tück und Klaus Vechtel

Christoph Heizler

Beten bei Edith Stein
als Gestalt kirchlicher
Existenz

echter

Vorwort

Die vorliegende Studie ist eine geringfügig überarbeitete Fassung der im Sommersemester 2018 von der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommenen Inauguraldissertation mit gleichlautendem Titel. Die Veröffentlichung der mit summa cum laude benoteten Studie gibt mir Gelegenheit vielen zu danken. Auf dem Weg der Ausarbeitung und Fertigstellung durfte ich oft wertschätzende Begleitung und hilfreiche Unterstützung erfahren. Dank gilt Prof. em. Dr. Peter Walter für die Begleitung beim Anfertigen der Studie und die Erstellung des Erstgutachtens. Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff danke ich für das Zweitgutachten. Bei beiden akademischen Lehrern der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau konnte ich Einblicke in Theologie erlangen, die sich der Tradition der Kirche und dem heutigen Menschen gleichermaßen verbunden weiß.

Dank gilt auch Freunden, die in interessierten Gesprächen und wohlwollendem Mittragen im Gebet das Promotionsvorhaben immer neu unterstützt haben. Dazu gehören Diakon Dr. Joachim Kittel, Diakon Michael Schlör, Pfarrer Tobias Merz und Pfarrer Martin Patz sowie viele, die zum erfolgreichen Gelingen in unterschiedlichsten Formen im Großen und im Kleinen beigetragen haben. Dr. Katharina Seifert, der Präsidentin der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland, gilt mein Dank für die Durchsicht des Manuskripts vor der Abgabe.

Den Herausgebern der Reihe „Studien zur systematischen und spirituellen Theologie“, Prof. Dr. Jan-Heiner Tück (Wien), Prof. Dr. Klaus Vechtel (Frankfurt St. Georgen) und Prof. Dr. Schockenhoff (Freiburg im Breisgau), danke ich für die Aufnahme in die wissenschaftliche Buchreihe des Würzburger Echter Verlags und für wertvolle Anregungen. Dem Lektor Heribert Handwerk und den Mitarbeitern des Verlags danke ich für die Begleitung bei der Veröffentlichung. Druckkostenzuschüsse der Edith Stein-Stiftung (Köln) und der Erzbischof Hermann Stiftung (Freiburg) haben die Veröffentlichung finanziell unterstützt.

Besonderer Dank gilt den Schwesterngemeinschaften im Karmel St. Therese in Kirchzarten bei Freiburg im Breisgau und im Karmel Himmelspforten in Würzburg. In beiden Konventen durfte ich nicht nur herzliche, wertschätzende Aufnahme und beständige Unterstützung im Gebet erfahren. Es hat mich auch immer neu beschenkt, dort den lebendigen Geist des Karmel erleben zu dürfen, von dem Edith Stein so tief berührt war. Dass ich auf verschiedenen Wegen nach Kirchzarten und Würzburg gelangen durfte, erkenne ich rückblickend als geistlichen Fingerzeig, der meiner Arbeit wichtige Impulse verliehen hat. Mit dem Wunsch, dass die vorliegende Studie im Orden einen Beitrag leistet, das reiche Erbe von Sr. Teresia Benedicta a Cruce weiter zu entdecken und fruchtbar werden zu lassen, sei diese Studie den genannten Schwesterngemeinschaften herzlich gewidmet.

Freiburg im Breisgau, am 14. Dezember 2018

Christoph Heizler

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Hinführung zum Thema

Aktueller Forschungsstand

2.1 Positionen zum Thema Gebet in der Systematischen Theologie

2.1.1 Der aktuelle Stand der Diskussion in geschichtlicher Verortung

2.1.2 Zugänge zum betenden Geschehen bei Bernhard Welte und Bernhard Casper

2.1.2.1 Das Gebet bei Bernhard Welte

2.1.2.2 Das Gebet bei Bernhard Casper

2.1.3 Ertrag und Bedeutung für die Fragestellung der Studie

2.2 Das Thema Gebet in der Edith Stein Forschung.

2.2.1 Forschungsbeiträge von Josephine Koeppel OCD, Joanne Mosley und Dianne Marie Traflet

2.2.2 Gründe für die geringe Anzahl an Forschungsbeiträgen

Handlungsleitendes Interesse, methodische Ausrichtung und geschichtliche Situierung der Untersuchung

3.1 Handlungsleitendes Interesse und methodische Ausrichtung der Studie

3.1.1 Methodische Abfolge der Untersuchung

3.1.2 Begründung für die Auswahl der Methodik

3.1.3 Nähe zu belegbaren Quellen statt hagiographischer Verzeichnung

3.2 Geschichtlicher Standort der Studie: Theologie nach Auschwitz

3.2.1 Theologische Deutungsversuche und Sprachzeugenschaft für die Opfer

3.2.2 Theologische Gebetshermeneutik bei Johann Baptist Metz

Begriffliche Klärungen

4.1 Zum Begriff Gebet

4.1.1 Grenzen einer Gebetsdefinition

4.1.2 Erste Annäherung: Unabschließbare Antwort auf eine innere Berührung

4.1.3 Zweite Annährung: Manifestationen im Sichtbaren

4.1.4 Dritte Annäherung: Verweischarakter der sichtbaren Seite als Spur

4.1.5 Statt einer Definition: Deskription eines Grundaktes menschlicher Freiheit

4.2 Zum Begriff Gestalt

4.2.1 Bedeutung und Funktion des Gestaltbegriffs bei Hans Urs von Balthasar

4.2.2 Eingestaltung in Jesus Christus und Teilhabe an seiner Sendung der Liebe

4.2.3 Einbezug in die exklusive Stellvertretung Jesu Christi

4.2.4 Sein als Liebe und Beten als Anerkenntnis göttlicher Liebe

4.2.5 Integration der Gestaltüberlegungen in eine Gebetstheologie nach Auschwitz

4.3 Zur Formulierung „Kirchliche Existenz“

4.3.1 Kirche als „Klangraum“ und Existenz als „Tonart“ des Gebets der Edith Stein

4.3.2 Die Begriffe Existenz und Existenzphilosophie.

Sichtung der Konturen des Gebets im Lebensvollzug der Edith Stein

5.1 Orte des Gebets

5.1.1 Nachweis von Gebetsorten

5.1.2 Äußerlich situierbarer und innerer Ort des Gebets

5.1.2.1 Der innere Ort des Betens in der Diktion der Karmelheiligen

5.1.2.2 Der innere Ort des Gebets bei Edith Stein

5.1.3 Orte in den Jahren bis zur Taufe in Bergzabern am 1. Januar 1922

5.1.3.1 Beten in der Familie in Breslau

5.1.3.2 Mit 15 Jahren eine betonte Abwendung vom Beten

5.1.3.3 Begegnungen mit dem Gebet bis zur ihrer Taufe

5.1.3.4 Taufe und erste heilige Kommunion in Bergzabern

5.1.4 Gebetsorte vor dem Eintritt in den Karmel

5.1.5 Gebetsorte im Karmel

5.1.6 Orte des Gebets außerhalb der klösterlichen Gemeinschaft

5.2 Zeiten des Gebets

5.2.1 Gebetszeiten im Tages- und Jahresverlauf

5.2.2 Tägliche Gebetszeiten

5.2.3 Nächtliches Beten in der Kirche und in der Klosterzelle

5.2.4 Feier von hohen Festen und geprägten Zeiten im Kirchenjahr

5.2.5 Ausgedehnte Gebetszeiten: „Wesenlose Multiplikation“ religiöser Praxis?

5.2.6 Gebetszeiten als Karmelitin in Köln und Echt

5.3 Formen des Gebets

5.3.1 Mündliches Gebet der Kirche (Brevier und Grundgebete)

5.3.2 Schweigendes Gebet und Formen der Kontemplation

5.3.2.1 „Ruhen in Gott“ – eine unthematische Erfahrung des „Ruhegebets“ bei Teresa von Ávila?

5.3.2.2 Meditative Schriftbetrachtung mit Dialogaufnahme

5.3.2.3 Beten in Stille

5.3.3 Feier und Verehrung der Eucharistie

5.4 Themen und Anliegen des Gebets

5.4.1 Gebet als bräutliche Hingabe an das Gegenüber und seine Anliegen

5.4.2 Gottvertrauen als Thema des Betens und als Gebetswunsch für andere

5.4.3 Gebet als Anbetung, Lob und Dank

5.4.4 Das Bittgebet und Stellvertretung für andere

Aufweis sinndeutender Horizonte

6.1 Die Bedeutung der sinndeutenden Horizonte

6.2 Sinndeutende Horizonte

6.2.1 Betende Philosophin: Auf der Suche nach Wahrheit, Sinn und dem Wesen der menschlichen Person

6.2.1.1 Schulischer und akademischer Werdegang bis zur Promotion

6.2.1.2 Modifizierte Aufnahme der Phänomenologie Edmund Husserls

6.2.1.3 Einflüsse von Max Scheler und Adolf Reinach

6.2.1.4 „Meine Sehnsucht nach ahrheit war e n einziges Gebet“

6.2.1.5 Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins

6.2.1.6 Die menschliche Person als liebende ist Abbild der Dreifaltigkeit

6.2.2 Betende Jüdin: Als Tochter Israels mit Elia und Esther in der Tradition des auserwählten Volkes vor Gott stehen

6.2.2.1 Mit Elia, dem gottergebenen „Führer“ der Karmeliten vor Gott stehen

6.2.2.2 Mit Esther berufen, für ihr Volk einzutreten

6.2.2.2.1 Erste Begegnungen mit der biblischen Gestalt der Esther

6.2.2.2.2 Das Theaterstück „Nächtliche Zwiesprache“ aus dem Jahre 1938

6.2.2.2.3 Biographische Einordnung des Theaterstücks

6.2.3 Betende Frau: Das Urbild Mariens als Braut, jungfräuliche Mutter, Schwester und als Patronin der karmelitanischen Gemeinschaft

6.2.3.1 Frömmigkeitsgeschichtlicher Hintergrund: Marianisches Jahrhundert und Privilegienmariologie

6.2.3.2 Marienverehrung im Karmel: Maria als „Patrona“, „Mutter“, „Schwester“ und „Jungfrau“

6.2.3.3 Marienfrömmigkeit als Ausdruck von Christusfrömmigkeit

6.2.3.4 Akzente marianischer Frömmigkeit bei Edith Stein

6.2.3.4.1 Akzente und inhaltliche Grundzüge der Mariologie Edith Steins

6.2.3.4.2 Maria als „Mittlerin“ und „Miterlöserin“

6.2.3.4.2.1 Maria als Miterlöserin in der Heilsordnung als „neue Eva“ und durch Beteiligung am heiligen Messopfer

6.2.3.4.3 Zusammenfassung

6.2.4 Betende Karmelitin: Mit Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz eremitisch-kontemplativ leben und sich von Gott zur Liebe hin „umformen“ lassen

6.2.4.1 „Inneres Beten“ bei Teresa von Ávila als „Verweilen bei einem Freund“

6.2.4.2 „Gleichgestaltung aus Liebe“ auf dem Wege der „Dunklen Nacht“ der Sinne und des Geistes bei Johannes vom Kreuz

6.2.4.2.1 Biographische Gemeinsamkeiten zwischen Edith Stein und Johannes vom Kreuz

6.2.4.2.2 Affinität zur lyrischen Verschriftlichung der geistlichen Erfahrungen

6.2.5 Betendes Glied am Leib Christi: Einbezogen in die Hingabe Jesu Christi an den göttlichen Vater und dessen Verherrlichung

6.2.5.1 Das Gebet der Kirche als Ehre und Verherrlichung Gottes im fortlebenden Christus der Liturgie und Eucharistie

6.2.5.2 Die einsame Zwiesprache mit Gott als Gebet der Kirche – „lernen“ im eigenen Herzen wie der Hohepriester mit Gott zu sprechen

6.2.5.3 Inneres Leben und äußere Form und Tat – vom mystischen Strom der Kirche getragen sich dem Apostolat hingeben und Gott loben

6.2.5.4 Einordnung des Gedankengangs und Aufweis theologischer Einflüsse

6.2.5.4.1 Parallelen zur Theologie und Begrifflichkeit des Augustinus

6.2.5.4.2 Weitere Einflussgrößen auf den Beitrag „Das Gebet der Kirche“

6.2.5.4.3 Parallelen zur Theologie und Begrifflichkeit des Thomas von Aquin

6.2.6 Betend dem „liebevollen Einströmen Gottes“ entgegen sterben und sich der Nacht der Sinne, des Geistes und des Glaubens ausliefern

6.2.6.1 Negative und mystische Theologie des Dionysius Areopagita

6.2.6.1.1 Werkgeschichtliche Situierung der Studie

6.2.6.1.2 Grundzüge des Gedankengangs: Aufstieg zur mystischen Theologie

6.2.6.2 Nacht und Gottesvereinigung bei Johannes vom Kreuz

6.2.6.2.1 Zielgruppe und Anliegen der Studie

6.2.6.2.2 Grundzüge des Gedankengangs: Durch Kreuz und Nacht zur Vereinigung mit Gott gelangen

6.2.6.2.3 Kontrahierte Darstellung des Gedankengangs in Briefkorrespondenz

Theologische Auslegung der geistlichen Texte „Ostermorgen“ und „Braut des Heiligen Geistes“

7.1 Zugänge zu den geistlichen Texten Edith Steins

7.1.1 Literarische Stilmerkmale einer sprachgewandten Autorin und Übersetzerin

7.1.2 Die geistlichen Texte im Lebenskontext der Autorin

7.2 Methodische Ausrichtung bei der Auslegung geistlicher Texte

7.2.1 Grundsätze im Umgang mit lyrischen Texten

7.2.1.1 Analyse oder Interpretation des Textes?

7.2.1.2 Verwobenheit des Rezipienten in das Textgebilde

7.2.1.3 Mehrdeutigkeit lyrischer Texte und das Zusammenspiel von Erwartung und Überraschung

7.2.2 Methodische Anregungen für die Textbegegnung

7.2.2.1 Sprache aus dem Verweilen

7.2.2.2 Aufmerksamkeit für die zeitliche Struktur „verdichteter“ Sehnsucht

7.2.2.3 Offenheit für die innere Virulenz und Transitivität des Begegnenden

7.2.2.4 Achtsamkeit des Beschreibens

7.2.2.5 Theologische Sprache des Bezeugens

7.2.2.6 Vom Schweigen und vom wortlosen Geheimnis her sprechende Auslegung

7.3 Auslegung des Textes „Ostermorgen“

7.3.1 Biographisch-werkgeschichtliche Situierung

7.3.1.1 Wachsende Nähe Edith Steins zum monastischen Tagesablauf

7.3.1.2 Profunde Kenntnisse lateinischer Hymnik bei Edith Stein

7.3.2 Textgestalt

7.3.3 Sprachliche Merkmale

7.3.3.1 Kombination der sprachlichen Betrachtung mit den sechs methodischen Anregungen zur Auslegung geistlicher Texte

7.3.3.2 Die Primärebene des Textes: Ostervision des lyrischen Ichs

7.3.3.3 Sprachliche Merkmale und literarische Stilmittel

7.3.3.3.1 Zur literarischen Herkunft der im Text verwendeten Stilmittel

7.3.3.4 Sekundärebene des Textes: Eine sprachliche Anspielung auf eine geistlich verstandene Geburt in Aufnahme antiker Topoi des „Aphrodite/Venus“-Mythos?

7.3.3.4.1 Grenzen einer Herleitung des Sujets aus den Schriften des Johannes vom Kreuz

7.3.3.4.2 Sprachliche Nähe zur lyrischen Diktion im Gedicht „Geburt der Venus“ bei Rainer Maria Rilke?

7.3.3.4.3 Mögliche Motivaufnahmen aus Rilkes Gedicht „Geburt der Venus“?

7.3.3.4.4 Parallelen im Textkörper von „Ostermorgen“ und „Geburt der Venus“

7.3.4 Theologische Auslegung

7.3.4.1 Die Primärebene der Auferstehungsvision

7.3.4.2 Das lyrische Ich im Text „Ostermorgen“: Die Gottesmutter Maria als erste Auferstehungszeugin

7.3.4.3 Auferstehung Jesu Christi als lyrisches Sinnbild für die eigene Taufe der Autorin?

7.4 Auslegung des Textes „Braut des Heiligen Geistes“

7.4.1 Biographisch-werkgeschichtliche Situierung

7.4.2 Textgestalt

7.4.3 Sprachliche Merkmale

7.4.4 Theologische Auslegung

7.4.4.1 Auffällige direkte Anrede an den Heiligen Geist als Adressat des Gebets

7.4.4.2 Mariologische Prädikationen

7.4.4.3 Brautschaft mit dem Heiligen Geist als Vermittlung der Vermählung Mariens mit dem göttlichen Logos in Jesus Christus

7.4.4.4 „Braut des Heiligen Geistes“ – Eine Meditation über das Gebet?

Zusammenfassung und Ertrag der Studie

8.1 Integration der Erkenntnisse auf der Makro- und Mikroebene

8.1.1 Zusammenschau der Konturen und der sinndeutenden Horizonte

8.1.2 Zusammenschau der beiden geistlichen Texte

8.2 Eine kritische Würdigung der pneumatologisch akzentuierten Mariologie bei Edith Stein

8.2.1 Grundzüge der Verhältnisbestimmung von Kirche und Maria in der Kirchenkonstitution „Lumen Gentium“

8.2.2 Die Mariologie Edith Steins im Kontext mariologischer Aussagen der Kirchenkonstitution

8.2.3 Die Bedeutung der Mariologie Edith Steins für eine peumatologisch und personal sensibilisierte Ekklesiologie

8.2.4 Heutiges Beten und das Gebet Edith Steins

Quellen

10 Siglen

Siglen der Werke von Teresa von Jesus

Siglen der Werke von Johannes vom Kreuz

Siglen der Werke von Therese vom Kinde Jesu

11 Literaturverzeichnis

Hinführung zum Thema

Eine besondere Stille prägt den Konzertsaal, wenn eine Aufführung zu Ende geht. Es verklingen die letzten Töne, die Instrumente verstummen. Wenn auch die Konzertbesucher noch für einen Augenblick schweigen, um dieser Stille zu lauschen, dann ist die Aufführung noch nicht vorüber. Was sie in diesem Moment vernehmen, das ist nicht in Tönen zu beschreiben. Doch das Begegnende ist noch zutiefst Teil der Aufführung und des lebendigen Ganzen, das sich darin artikuliert. Schon im Durchgang durch alle Töne macht es sich vernehmbar, jedoch auf andere Weise als diese selbst. In den phonetischen Gestalten der einzelnen Töne klingt es stets mit. Jeder Ton spricht davon, doch keiner allein nur für sich. Auch alle Töne gleichzeitig zu hören, es könnte nicht offenbaren, was zwischen ihnen, aus ihnen, durch sie hindurch ans Ohr dringen will. Was aber ist es, das sich erst im Durchgang durch alle Töne und schließlich im Schweigen zu Gehör bringt?

Diese Frage mag ein Gespür dafür wecken, was sich im Beten der Edith Stein vernehmbar machte. 51 Jahre an Lebenszeit waren Edith Stein gewährt, in denen Beten in verschiedener Manifestation bei ihr lebendig wurde. Diese fünf Jahrzehnte werden begrenzt vom 12. Oktober 1891, dem Tag ihrer Geburt in Breslau, und dem 9. August 1942, ihrem mutmaßlichen Todestag in Auschwitz. Auf diesem Lebensweg hat Beten in vielfältiger Form „Klangfarbe“ und eigene Stimme angenommen. Zuerst waren es Worte anderer Menschen, die Edith Stein beten hörte. Jüdische, deutsche und lateinische Gebete der jüdischen und christlichen Glaubenstradition drangen an ihr Ohr, bis ihre eigene Stimme Beten als besonderes Geschehen der Sprache lebendig werden ließ. Dabei war es gleichermaßen der öffentliche Raum des Betens in Gemeinschaft wie derjenige des privaten Gebets, der ihr zum geistlichen Lebensraum wurde. Dass Worte bisweilen nicht imstande gewesen sein mögen, noch zu fassen oder zu tragen, wessen diese Frau aus Breslau inne war, das zeigt nicht allein das auffällig lange und häufige schweigende Gebet, das von Edith Stein berichtet wird. In ihrer privaten und beruflichen Korrespondenz, ihren Gebeten und geistlichen Texten sucht Erfahrung nach Ausdruck, die Worte nicht erschöpfend oder gar nicht mitteilen können. Die Leserin und der Leser1 erfahren von Dank, Freude, tiefem Glück, das jeden Ausdruck übersteigt. Zum Geheimnis der Eucharistie etwa schreibt Edith Stein: „Wie wunderbar sind Deiner Liebe Wunder, / Wir staunen nur und stammeln und verstummen, / weil Geist und Wort versagt.“2

Unsagbares, das Worte nicht fassen können, rührt leider nicht alleine auf diese Weise an Edith Stein. Ihr Tod in einer Gaskammer in Auschwitz ist im letzten Moment ein erzwungenes Verstummen. Es ist ein Schweigen, das sich ihr angesichts des abgründigen „Nichts“ der Vernichtung unausweichlich auferlegte. Edith Stein lässt jedoch ein aktives Übernehmen dieser Konfrontation erkennen. Ihr Tod ist in diesem Sinne ein passives und ein aktives Geschehen zugleich. Diese Doppelpoligkeit spiegelt sich in ihrem geistlichen Testament vom 9. Juni 1939, das sie im Karmel in Echt drei Jahre vor ihrem Tode verfasste. Sie schreibt am Freitag in der Fronleichnamsoktav jenen Jahres: „Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter Seinen heiligsten Willen mit Freude entgegen.“3 Ist es von daher gesehen das Schweigen, das ihr betendes Leben nicht nur im biographischen Sinne verstanden am Ende unerbittlich beschließt, sondern das auch schon zuvor bei ihr der unüberbietbare aktive Ausdruck der Selbstzurücknahme aus der Berührung mit dem Endgültigen gewesen war?

In jedem Falle scheint es zu wenig tiefgehend, wollte man sagen, Edith Stein habe unter anderem, neben und zwischen manch anderem gesprochenem Wort „auch“ noch geschwiegen, wo ihr Beten zum Ausdruck ihres Lebens wurde. Vielmehr hat sie schweigend die Grenze der Sprache und darin zugleich deren ganze Positivität erlebt und einen geistlichen Umgang damit nach außen hin vernehmbar gemacht, dass gerade ihr betendes Schweigen und ihr schweigendes Beten zutiefst „beredt“ sind, und zwar auf eine Weise, die nur vom Geschehen des Gebets her begreifbar und beschreibbar ist. Das schweigende Gebet dieser Frau kann man am allerwenigsten „überhören“. Ohne diesen „Klang“ vernommen zu haben, bleibt das Gehör taub für die unvertauschbar eigene Stimme der betenden Edith Stein. Sich ohne Eile in die Steinsche Sprachgeste des Schweigens einzustimmen und einzufühlen ist daher der kürzeste und unmittelbarste Weg, der zu ihrem Beten hinführt.4

Vor dem Hintergrund des Gesagten wird das Beten Edith Steins allerdings nur dann in einem wissenschaftlichen Sinne beschreibbar, wenn eine bleibende und unhintergehbare Begrenzung beachtet wird. Diese ist im Geschehen des Gebets selbst grundgelegt und hat mit einer fundamentalen Entzogenheit zu tun. Unsere Autorin kommt selbst darauf zu sprechen: „Was auf dem Grund einer Seele vorgeht, das kann die irdische Sprache nicht schildern.“5 Mit diesen Worten zitiert Edith Stein ihre Mitschwester Maria von der Heiligsten Dreifaltigkeit (Marie Antoinette de Geuser), deren Schrift „Briefe in den Karmel“ sie rezensiert. Folgt man der Einschätzung, die im Zitat zum Ausdruck kommt, dann gilt auch für ein suchendes Hingehen zum Gebet bei Edith Stein: Weil das auf dem Grund der Seele Edith Steins Verborgene überhaupt nicht angemessen beschrieben werden kann, deswegen muss anderes und kann eben nur dieses gesichtet und untersucht werden. Welche Sprachgeste wäre diesem Vorhaben angemessen?

In der Rezension gibt Edith Stein Hinweise, in welcher Richtung Antworten zu finden sind. Unsere Autorin lässt im Umgang mit geistlicher Lyrik Haltungen der einfühlenden Annäherung erkennen, die entlang der Grenze des Unsagbaren entstehen. Aus dieser Fühlungnahme heraus findet Edith Stein dann eigene, auslegende Worte. Sie zitiert zunächst ihre Mitschwester: „Die ganze letzte Zeit hindurch bin ich bei dem Wort geblieben: Nostra conversatio in coelis est, … aber was es enthält, das ist unsagbar: Me decet silentium.“6 In der gleichen Rezension von 1934 greift Edith Stein schließlich zu einem musikalischen Vergleich für das, was mit der Seele ihrer Mitschwester geschieht: „Und ihre Seele ist wie ein Instrument, wie eine Harfe, die von unsichtbaren Händen unentwegt gespielt wird, so daß sie sich in Lob und Dank und Anbetung verströmt.“7 Die Seele des Lesers dieser Briefe nimmt, so Edith Stein weiter, „mit Ergriffenheit und sehr stiller Freude“ wahr, „daß sie ganz und gar in die Atmosphäre des Heiligen, des Geweihten hineingehoben wird, durch die Berührung mit der Gnadenfülle eines wahrhaft gottliebenden Menschen“.8 Was Edith Stein hier von ihrem Umgang mit den Briefen einer Karmelitin schreibt und wie sie sich bei der Lektüre unmittelbar vom Text anrühren lässt, wäre das nicht die ideale Form, sich auch der geistlichen Literatur Edith Steins anzunähern? Spricht etwas dagegen, sich bei der Lektüre ihrer Texte einfach in entsprechender Weise unmittelbar anrühren zu lassen vom Lob, vom tiefen Dank, von der Freude, die sie lyrisch artikuliert? Bei dieser unbefangenen Weise von Textrezeption wäre der staunend-einfühlende Umgang Edith Steins mit einem geistlichen Text das Modell für eine heutige Rezeption ihrer geistlichen Texte.

Dagegen kann sich Zurückhaltung zu Wort melden. Diese ist begründet in der heutigen, gegenüber derjenigen der Edith Stein wesentlich veränderten Situation. Der theologisch andere Ort, vom dem aus ein heutiger Blick auf das Werk unserer Autorin blickt, ist derjenige einer Theologie „nach Auschwitz“, wie auch immer man diesen Ort theologisch näher qualifizieren und von seiner Bedeutung her situieren will.9 Sind die Worte, so kann man sich nachdenklich fragen, die Edith Stein unbefangen wählt, um vom Loben, Danken, Anbeten zu sprechen, von „sehr stiller Freude“, nach 1945 überhaupt noch in der Form ungebrochen zu verwenden? Sind sie noch stimmig? Es kann der Gedanke aufkommen, dass eine solche Diktion angesichts des brutalen Todes dieser Frau – und mit ihr10 der ungezählten11 Menschen, die zum Teil als Kinder12 ihr Leben lassen mussten – ein Ausweichen vor dem Unfassbaren wäre. Man kann sich fragen: Übertönt nicht dieser grauenhafte13 Tod gleichsam mit einem überlauten schrillen Ton und Schrei alles, was bei Edith Stein in leisen Tönen anklingen möchte? Ist somit jene Harfe der menschlichen Seele, von der Edith Stein in obiger Rezension bildhaft spricht, nicht doch eine grundlegend andere geworden in Auschwitz? Das Gedichts „Ein Lied vom letzten Juden“ von Jizchak Katzenelson rückt jedenfalls eine Harfe in den Blick, die gänzlich anders gestimmt ist. Entstanden ist die Lyrik des weißrussischen Dichters und Dramatikers vom 3.–5. Dezember 1943 im KZ Vittel. Ein Jahr vor seinem Tod im KZ Auschwitz formuliert er: „Sing, Nimm / die hohle, ausgehöhlte Harfe. Qual / Durchpulst / die dünnen Saiten. Wirf die Finger, bang / Wie Herzen schwer, / auf sie. Dann: sing ein letztes Mal. / Sing. Sing / des letzten Juden letzten Grabgesang.“14 Eine heutige Rede vom Gebet der Edith Stein wird vor dem Hintergrund des Dargelegten dann in einem unvermeidlichen Sinne falsch und insgesamt abwegig, wenn sie obigen, von Leid geprägten, schrillen Ton ausblendet und von ihm absieht. Denn er mischt sich für jeden heutigen Interpreten unabweisbar in das, was bei Edith Stein in den geistlichen Texten Ausdruck sucht und vor ihrem Tod in Auschwitz zu Papier gebracht wurde. In jedem Fall scheint dem Verfasser der vorliegenden Studie unmöglich, dass ein interpretierendes Interesse auf die geistliche Lyrik der Karmelitin hinblickt, ohne stets den geschichtlichen Kontext zu beachten, in dessen Licht sie dem heutigem Auge „nach Auschwitz“ unumgänglich erscheinen und zu Gesicht kommen muss. Daher wird den Bedingungen einer Gebetstheologie nach Auschwitz im Verlauf der Studie Augenmerk geschenkt. Vorblickend kann für die Studie insgesamt festgehalten werden: Das Beten Edith Steins in Worten darzustellen und auszulegen, das wird wesentlich und zuinnerst zurückhaltend geschehen müssen, in einer Sprachgeste diskreten Interesses. Gerade darin jedoch kann die sprachliche Darstellung sich als geschichtlich situiert und sensibilisiert erweisen. Überschwängliches Pathos ist dieser Sprachgeste fremd. Ein sprachlicher Duktus, der den geschichtlichen Standort vergisst, wird unmöglich. Was Paul Celan für die lyrische Rede formuliert, das bleibt auch für die in dieser Studie gesuchte theologische Rede beachtenswert: „Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren; ja, trotz allem. Aber sie musste hindurch gehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Antwort für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ‚angereichert‘ von all dem.“15

Eine Gebetstheologie, die auf Edith Stein hinblickt, ist somit zu einer „verhaltenen“ Weise des Sprechens gerufen, die gerade darin geschichtlich „angereichert“ in Erscheinung tritt. In dieser Frage kann Bernhard Welte bezüglich der theologischen Diktion als Modell gelten. An seinem Werk fällt auf, dass in seiner philosophischtheologischen Rede das Moment der „Verhaltenheit“ das Arrangement seiner Worte und Gedanken wesentlich prägt. Dieses Moment scheint mir eine sprachliche Geste der Diskretion zu sein, die aus der Berührung mit der menschlichen Verfasstheit und deren Charakter eines Geheimnisses ebenso herrührt wie aus der Nähe zum Mehr- als-Menschlichen. Insofern ist es eine ursprünglich „fromme“, von Ehrfurcht orientierte Sprachform, die im Werk und Vortrag Bernhard Weltes erkennbar wird. Bernhard Casper bemerkt zu seinem Sprachstil: „Es ist sicher einer der wichtigsten Leistungen Bernhard Weltes, daß er einen neuen Stil des theologischen Denkens und Sprechens geschaffen hat. Wir können diesen Stil den Stil der Verhaltenheit nennen. Oder auch den Stil der Scheu. Sprechen geschieht hier so, daß es in dem, was es vorbringt, zugleich Zeugnis ablegt von dem Verhältnis des Sprechenden zu dem unendlichen und die Geschichte einfordernden Geheimnis, von dem der Sprechende zu sprechen hat.“16 Darin darf eine Entsprechung zu Edith Stein gesehen werden. In ihrem Kommentar zur geistlichen Lyrik ihres Ordensvaters Johannes vom Kreuz schreibt sie: „Die Seele ist der Nacht entronnen. Was nun in ihr vorgeht, das ist viel mächtiger, als alle Worte es sagen können.“17 Daraus ergibt sich für die Karmelitin: „So können auch wir nur mit heiliger Scheu diesen göttlichen Geheimnissen im Innersten einer Seele nahen.“18 Meine Studie versucht in allen Worten und Überlegungen dieser Scheu nicht im Wege zu stehen, sondern sie vielmehr zu artikulieren und einen Sinn für ihre wertfühlende Bedeutung und Angemessenheit zu wecken.

Dass eine noch näher zu qualifizierende Rede vom Gebet überhaupt möglich ist, und zwar auch eingedenk dessen, was in den Lagern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geschehen ist, das legitimiert vor allem unserer Autorin selbst. Sie selbst ist es, die noch in Gefangenschaft – täglich bedrängt von unsäglichem Leid bei sich und anderen – vom Gebet schreibt, und zwar ihrem eigenen. Hastig geschrieben sind entsprechende Sätze aus der Baracke 36 im Lager Westerbork das letzte schriftliche Zeugnis von ihr, das heute noch erhalten ist. Auf einem kleinen Zettel, flüchtig an die Priorin in Echt adressiert und erkennbar in Eile geschrieben, bittet sie am 6. August 1942, also drei Tage vor ihrem mutmaßlichen Tod in einer Gaskammer: „Ich hätte gern den nächsten Brevierband (konnte bisher herrlich beten)“.19

Das Adjektiv „herrlich“ liest man mit nachdenklicher Beachtung. Umso mehr, wenn man im Blick behält, dass die Ordensfrau zur Zeit der Abfassung dieser Zeilen ein tief trauernder Mensch war, dem die Aporie der Gefangenschaft hellsichtig einleuchtete. Einer Mitinhaftierten im Lager Amersfoort erscheint die Karmelitin in jenen Tagen gar wie eine „Pieta ohne Christus“. Johannes Hirschmann SJ, der Edith Stein im Karmel Echt in den Jahren vor ihrer Verhaftung wiederholt getroffen hatte, gibt diese Zeugenaussagen wieder: „Es gibt einige Berichte von letzten Begegnungen mit ihr im holländischen Konzentrationslager. Zwei Worte sind mir dabei vor allem unvergesslich geblieben. Das erste Wort von dem Eindruck, den sie im Lager machte: Viele der jüdischen Mütter, die mit ihr verhaftet worden waren, lebten ganz in der Not und Verzweiflung jener Tage – so sehr, daß sie fühllos wurden angesichts des Leids ihrer eigenen, mit ihnen im Lager gequälten Kinder. In dieser Situation, da übernahm diese beschauliche Schwester jene kleinen alltäglichen Dienste an Menschen in Not und Verzweiflung, die selbst in solchen Stunden das Zeichen und die Bewährung großer Liebe sind. Ein zweites Wort sagte eine Frau von dem Eindruck, den sie damals auf sie machte: Sie kam ihr vor wie die Pieta unter dem Kreuz, aber ohne den toten Sohn auf dem Schoß.“20

Beim Wort „Pieta“ schwenkt der Blick des posthumen Betrachters von ihrem Todesjahr 1942 etliche Jahre zurück und an einen anderen Ort. In den Jahren 1928 bis zum Eintritt in den Karmel betete die jungen Edith Stein wiederholt stundenlang vor einer Pieta, und zwar dem Gnadenbild in der Benediktinerabtei Beuron.21 Könnte es sein, dass etwas von diesem Beuroner Bildnis, von dieser Imago einer trauernden Mutter mit ihrem Kind im Schoß, im Leben der Edith Stein geistgewirkte Gestalt angenommen hatte? Dann träfe für diesen Menschen zu, was Heinrich Spaemann formuliert: „Was wir im Auge haben, das prägt uns, dahinein werden wir verwandelt. Und wir kommen, wohin wir schauen.“22

Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch, auf die betende Erscheinung der Edith Stein zu schauen. Sie ist geleitet vom Anliegen, die dabei erblickte Kontur im Lichte der sie auslegenden, sinndeutenden Horizonte zu verstehen, und von dort aus die Entfaltung ihrer Gebetsexistenz aufzuweisen. Im Zuge dieser Betrachtung mag sukzessive die geistliche Gestalt ihres betenden Menschseins zu Gesicht kommen. Wo das gelingt, geleitet die Lektüre dieser Untersuchung in innere Nähe zu den eingangs angeführten Konzertbesuchern. Analog zu diesen tritt im Durchgang durch die Sichtung wesentlicher Facetten ihres Betens etwas nahe, das nicht in den einzelnen Gebetsmomenten aufgeht, wenn es sich auch in allen je neu zu Wort meldet. Es begegnet schließlich noch im Verschwinden aller Artikulationen ihres Betens, das im Tode vollends geschieht, etwas, das in allen Einzelaspekten den Charakter einer bedeutungserfüllten Spur aufweist. In diese Spur zu geraten, das sei der Lektüre der nachfolgend versuchten Darstellung des Betens im Leben der Edith Stein gewünscht.

1 Im Folgenden wird aus Gründen der Leserfreundlichkeit nur noch die männliche Form verwendet.

2 Stein, E.: „Ich bleibe bei Euch …“, in: Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 19. Edith Stein. Geistliche Texte II. Bearbeitet von S. Binggeli, unter Mitwirkung von U. Dobhan und M. A. Neyer, Freiburg im Breisgau 2007, S. 179–182, hier S. 182. Die Formulierung „stammeln“ erinnert an den „Geistlichen Gesang“ des Johannes vom Kreuz. Er formuliert: „ein ‚ich-weiß-nicht-was‘, das sie ständig stammeln“ (CA 7). Johannes vom Kreuz. Der Geistliche Gesang (Cántico A).Vollständige Neuübertragung. Gesammelte Werk Bd. 3. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Ulrich Dobhan OCD, Barbara Henze, Elisabeth Peeters OCD, Freiburg 1997, S. 70. Das Wortspiel, in dem kunstvoll Stammeln und Sprechen verbunden werden, weckt im Spanischen Anklänge an Stottern. Edith Stein gelang eine meisterhafte Übersetzung, wie Ulrich Dobhan OCD hervorhebt: „Was Johannes vom Kreuz in seiner Muttersprache mit der Anhäufung des que erreicht, klingt in Edith Steins deutscher Übersetzung mit der Wiederholung des w und v an, was auch den Eindruck eines stammelnden und stotternden Redens hervorruft“. Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 18. Edith Stein. Kreuzeswissenschaft. Studie über Johannes vom Kreuz. Neu bearbeitet und eingeleitet von Ulrich Dobhan OCD, Freiburg 2003, Vorwort S. XXIX. Edith Stein übersetzt: „Ich weiß nicht was, wovon sie stammelnd sprechen.“ (ebd. S. 186).

3 Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 1. Edith Stein. Aus dem Leben einer jüdischen Familie und andere biographische Beiträge. Neu bearbeitet und eingeleitet von M. A. Neyer, Fußnoten und Stammbaum unter Mitarbeit von H.-B. Gerl-Falkovitz, Freiburg im Breisgau 2002, S. 374–375, hier S. 375.

4 Sich immer neu nach der je individuellen „Tonlage“ und Gestimmtheit dessen zu fragen, was im Gebet nahe kommen will, das ist wie bei der Sichtung und Rezeption von Lyrik unverzichtbar, soll es zu einer echten Begegnung kommen.Vgl. dazu Sorge, B.: Lyrik interpretieren. Eine Einführung, Berlin 1999, S. 8–9.

5 Stein, E.: Rezension zu „Briefe in den Karmel“ von Marie Antoinette de Geuser, in: ESGA 19, S. 211–216, hier S. 214.

6 Ebd.

7 Ebd. Die Steinsche Wortwahl lässt erneut Anklänge an die Lyrik des Johannes vom Kreuz erkennen. Der Kirchenlehrer zitiert im „Geistlichen Gesang“ die Schriftstelle Offb 14, 2 und greift die dortige Rede von spielenden Harfen in zweifacher Hinsicht auf. Zum einen wird ihm das Harfenspiel zum Bild für die Lobgesänge der Seligen, die „der heilige Johannes in der Offenbarung im Geist gesehen hat, nämlich die Stimme vieler Harfenspieler, die auf ihren Harfen spielten (Offb 14,2).“ (CA 13–14, 26). Zum anderen veranschaulicht dieses Bild von Instrumentalmusik die Stimme Gottes: „diese selbe Stimme sei so zärtlich gewesen, daß sie war sicut citharoedorum citharizantium in citharis suis. Das heißt, sie war wie die von vielen Harfenspielern, die auf ihren Harfen spielten.“ (CA 13–14,11). Johannes vom Kreuz, Der Geistliche Gesang, S. 117 und S. 105.

8 ESGA 19, S. 211.

9 Zu den verschiedenen Ortsbestimmungen einer Theologie nach Auschwitz im jüdischen und christlichen Kontext vgl. Tück, J.-H.: Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz, Freiburg 2016 sowie Reck, N.: Festhalten an der Unströstlichkeit: Die Gottesfrage in der katholischen Theologie nach Auschwitz, in: StZ 121 (1996) S. 186–196.

10 „Im Holocaust kamen 30% der jüdischen Weltbevölkerung um, darunter 80% aller Rabbiner, Gelehrten und Tora-Schüler, die Mehrheit aller mitteleuropäischen jüdischen Gemeinden wurde für immer ausgelöscht“. Reck, Festhalten, S. 186.

11 „Nimmt man die Zahl der Toten von Auschwitz, die allein zwischen 3,5 und 4,5 Millionen zu liegen scheint, sowie anderer ähnlicher Lager zum Ausgangspunkt eines Berechnungsversuchs, so ist leicht zu sehen, dass es insgesamt mindestens 8–10 Millionen Menschen gewesen sein müssen.“ Kogon, E.: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1974, S. 66.

12 Im Holocaust kamen schätzungsweise eine Million Kinder zu Tode. Vgl. Reck, Festhalten, S. 187.

13 „Nicht selten wurden Kleinkinder, wenn die Kammern vollgepfercht waren, noch durch die Fenster hineingeworfen. Je nachdem wie viel Gas vorhanden war, dauerte der Erstickungstod bis zu vier und fünf Minuten. Währenddessen hörte man von drinnen das entsetzliche Schreien der Kinder, Frauen und Männer, denen es langsam die Lungen zerriss.“ Kogon, Der SS-Staat, S. 186.

14 Lau, E./Pampuch, S. (Hg.): Draußen steht eine bange Nacht. Lieder und Gedichte aus deutschen Konzentrationslagern, Frankfurt 1994, S. 23.

15 Zitiert nach Lenzen, V.: Sprache und Schweigen nach Auschwitz. in: Lesch,W. (Hg.): Theologie und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Begegnung von Theologie und Kunst, Darmstadt 1994, S. 183–200, hier S. 196.

16 Casper, B.: Verhaltenheit – Zum Stil des Denkens Bernhard Weltes, in: Wenzler, L. (Hg.): Mut zum Denken, Mut zum Glauben. Bernhard Weltes Bedeutung für eine künftige Theologie, Freiburg im Breisgau 1994, S. 148–162, hier 162.

17 ESGA 18, S. 156.

18 Ebd. S. 157.

19 Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 3. Edith Stein. Selbstbildnis in Briefen. Zweiter Teil: 1933–1942. Einleitung von H. B. Gerl-Falkovitz, Bearbeitung und Anmerkungen von M. A. Neyer, 2. Auflage durchgesehen und bearbeitet von H. B. Gerl-Falkovitz, Freiburg 2002, S. 575.

20 Hirschmann, J.: Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz, in: Herbstrith, W. (Hg.): Edith Stein. Ein Lebensbild in Zeugnissen und Selbstzeugnissen, Würzburg 2001, S. 131–136, hier S. 135–136.

21 Es handelt sich um eine oberschwäbische, um 1440 entstandene und aus Lindenholz geschnitzte Pieta. Siehe dazu Neyer/Müller, Edith Stein, S. 184.

22 Spaemann, H.: Orientierung am Kinde, Düsseldorf 1967, S. 29.