Alexander Pelkim

Schwarzfahrt

Tatort: Hohenfeld

Alexander Pelkim

Schwarzfahrt

Tatort: Hohenfeld

echter

Inhalt

Auf der Jagd

Altlasten

Fragen über Fragen

In der Güllegrube

Ein zweiter Fall

Überraschungsbesuch

Gewissheit

Wendungen

Zeugen oder Verdächtige

Ortskenntnisse

Fernweh

Neue Hinweise

Taxi, Taxi

Späte Reue

Nachteinsatz

Entscheidungen

Nachwort

Auf der Jagd

Ganz gemächlich rollte der Wagen durch die nächtlichen Straßen von Kitzingen. An jeder Kreuzung oder Abzweigung hielt das Fahrzeug für einige Sekunden an. Dabei schaute der Mann hinter dem Lenkrad nach links oder rechts, scheinbar unschlüssig, wohin er sich als Nächstes wenden sollte. Andere Verkehrsteilnehmer waren zu der Zeit kaum unterwegs. Die Uhr zeigte auf kurz nach fünf Uhr in der Frühe, aber noch waren am Himmel keine Anzeichen für den anbrechenden Morgen zu erkennen. Das Oktoberwetter präsentierte sich wolkenverhangen und pechschwarz.

Der Fahrer schien kein bestimmtes Ziel zu haben. Sein Augenmerk war auf Straßenränder und Gehsteige gerichtet. Kamen menschliche Gestalten in sein Blickfeld, so wurde er noch langsamer und musterte die Personen intensiv, so als suche er jemand. Meist waren es junge Leute in kleinen Gruppen, die er zu Gesicht bekam. Vielleicht waren sie auf dem Heimweg, vielleicht zu einem frühen Vergnügen unterwegs oder zu einem Unfug, den man tags danach in der Zeitung lesen konnte. Vereinzelt wankte eine männliche Person heimwärts, den Blick starr geradeaus gerichtet, dabei nach links und rechts schwankend, als ob er die Breite des Bürgersteiges ausmessen wollte.

Gelegentlich wurde die Aufmerksamkeit des Fahrers durch eine weibliche Stimme abgelenkt, die von irgendwoher kam. Dann stieg seine Anspannung.

Da war die Stimme wieder. Dieses Mal wirkten die Worte elektrisierend auf ihn und er gab Gas. Sollte er heute Glück haben? Irgendwann musste es doch klappen. Viel zu lange war er schon auf der Suche, nein, regelrecht auf der Jagd. Er fieberte dem Erfolg entgegen. Ohne Rücksicht auf Verkehrszeichen und Geschwindigkeitsbegrenzungen preschte er los. Zwei Minuten später hatte er sein Ziel erreicht. Eine weibliche Gestalt am Straßenrand winkte und er hielt an. Kaum dass sie eingestiegen war, fuhr er los. Endlich, endlich, jubelte er innerlich. Das, was die junge Frau ihm sagte, registrierte er nur am Rande. Es war sowieso egal, sein Ziel stand fest.

Wenige Augenblicke später wurde seine Aufmerksamkeit auf die Lichter eines weiteren Fahrzeuges in seinem Rückspiegel gelenkt. Er hatte das Gefühl, der Wagen würde ihnen in einigem Abstand folgen. Immer wieder beobachtete er die Scheinwerfer. Dann kam ihm die unerklärlich orthodoxe nächtliche Ampelschaltung im Kitzinger Stadtgebiet zugute. Er näherte sich einer Kreuzung, deren Ampel in seiner Fahrtrichtung grundlos – es war weit und breit kein anderes Auto zu sehen – von Grün auf Gelb und schließlich auf Rot schaltete. Der Mann hinter dem Steuer gab Gas und brauste noch bei Gelb über die Kreuzung. Der nachfolgende Wagen musste bremsen und anhalten. Hatte der überhaupt mit ihm zu tun oder war es Paranoia, die ihn befiel? Vermutlich ein harmloser später Heimkehrer oder jemand, der sonst irgendein Ziel hatte und gar nichts von ihm wollte. Die Lichter im Rückspiegel waren verschwunden und die Gedanken daran auch. Gleich darauf verließ der Wagen mit den zwei Insassen Kitzingen in Richtung Dettelbach. Wenige Kilometer weiter – mitten in Mainstockheim – wurde das Fahrzeug langsamer, bog von der Hauptstraße ab und kam schließlich in einer Seitenstraße zum Stehen, der Fahrer stellte den Motor ab.

»Was ist? Warum halten wir?«, fragte die junge Dame auf dem Beifahrersitz irritiert.

»Der Wagen hat irgendein Problem. Vermutlich fehlt Öl«, antwortete der Mann hinter dem Steuer kurz angebunden. »Ich muss mal schnell nachschauen. Geht gleich weiter.«

Über einen Hebel im Fußraum des Wagens betätigte er die Entriegelung der Motorhaube. Mit einem metallischen Geräusch sprang sie auf. Im Licht der Innenbeleuchtung musterte die junge Frau ihren Chauffeur, als der die Fahrertür öffnete und ausstieg, gleich darauf wurde es im Inneren des Wagens wieder dunkel. Auch keines der Fenster der umliegenden Häuser war erleuchtet. In der Straße war es zu der nächtlichen Stunde totenstill. Zuerst hob der Mann die Motorhaube an, dann ging er nach hinten und öffnete den Kofferraum. Scheinbar gelangweilt beobachtete die Beifahrerin das Treiben des Mannes. Plötzlich wurde die Beifahrertür geöffnet.

»Ich könnte mal Hilfe gebrauchen, jemand, der mir die Taschenlampe hält.«

Die junge Frau stieg aus. Ein seltsamer süßlicher Geruch drang ihr in die Nase, als sie die Tür schloss. Sie kam aber nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Im gleichen Moment legte sich von hinten ein mit Chloroform getränktes Tuch auf Mund und Nase. Schreck und Überraschung ließen sie im ersten Moment erstarren. Dann erwachte ihr Überlebenswille und sie begann sich zu wehren, aber es war vergebens. Letztendlich musste sie erkennen, dass sie der Kraft des Mannes nichts entgegenzusetzen hatte. Sie hielt die Luft an, um das Betäubungsmittel nicht einzuatmen. Auch diese Bemühungen waren umsonst. Ihr wurde der Sauerstoff knapp. Schwindelgefühl stellte sich ein. Schließlich musste sie einatmen, um nicht zu ersticken, und kurz darauf begann das Mittel zu wirken. Ohnmächtig sackte sie zusammen und wäre auf den Boden gefallen, wenn sie der Mann mit seinen kräftigen Armen nicht gehalten hätte. Blitzschnell packte er die junge Frau und verfrachtete sie in den Kofferraum. Er schloss die Heckklappe und während er die schwarzen Handschuhe auszog, sah er sich einen Moment lang um, ob von irgendwoher eine Reaktion kam oder sich jemand zeigte, der den Zwischenfall beobachtet haben könnte. Doch rundherum war alles ruhig geblieben. Niemand schien aufmerksam geworden zu sein. Vorsichtig und bemüht, geräuschlos zu bleiben, verschloss er die Motorhaube wieder. Die ganze Aktion hatte höchstens zwei Minuten gedauert. Sein Herz pochte bis zum Hals, so erregt war er. Der Nervenkitzel begann ihn anzutörnen und verursachte ein angenehmes Kribbeln auf der Haut. Ohne Hast stieg er in sein Fahrzeug und wendete den Wagen. Äußerlich gelassen fuhr er den Weg zurück nach Kitzingen. Seine Gedanken waren woanders, daher schenkte er diesmal weder dem entgegenkommenden Auto noch den kurz darauf auftauchenden Lichtern im Rückspiegel Beachtung.

Einige Minuten danach bog der Wagen von einer asphaltierten Straße auf einen unbefestigten Feldweg ab. Nur wenige Meter später erreichte er ein eingezäuntes Grundstück und hielt an. Im Scheinwerferlicht tauchte ein Tor auf. Es bestand aus einem zweiflügeligen Holzrahmen mit Maschendraht. Der Mann hinter dem Steuer stieg aus, öffnete beide Flügel und fuhr aufs Grundstück, direkt vor die Feldscheune, die dort, umringt von Obstbäumen, mitten auf dem Gelände stand. Ein weiteres Mal öffnete er ein hölzernes Tor und ließ den Wagen in dem Gebäude verschwinden. Kurz darauf wanderte der Strahl einer Taschenlampe durchs Innere der Scheune. Der Mann fand den Lichtschalter. Mehrere Lampen begannen zu flackern und verbreiteten gedämpfte Helligkeit, bedingt durch Staub und Dreck, der auf der Beleuchtung hafteten. Holzgebälk und eine gemauerte Wand wurden sichtbar, an der eine hölzerne Werkzeugbank und ein Metallspind standen.

Er öffnete den Kofferraum des Wagens. Traurig und fast mitleidig blickte der Mann auf die ohnmächtige junge Frau und in das von blonden Haaren umrahmte blasse Gesicht. »Keine kann mir entkommen«, murmelte er und zog aus der Jackentasche seine schwarzen Handschuhe und einen dunkelblauen Seidenschal. Mit unbewegter Miene zog er die Handschuhe an und beugte sich in den Kofferraum. Den Seidenschal band er der jungen Frau fast liebevoll um den Hals. Anschließend nahm er von der Werkbank mehrere Kabelbinder und fesselte seinem Opfer Hände und Füße. Plötzlich verharrte er in der Bewegung und lauschte. Ihm war es, als wenn er ein Motorengeräusch gehört hätte. Regungslos stand er da, aber alles blieb still. Die Sache mit dem eingebildeten Verfolger ließ ihn erneut misstrauisch werden. Er verschob sein Vorhaben auf später. Eilig verschloss er der Frau mit einem Klebeband den Mund, dann klappte er leise den Kofferraum zu und schaltete das Licht aus. Es wurde stockdunkel in der Scheune. Trotzdem fand sich der Mann blindlings zurecht. Von der Werkbank nahm er einen schweren Schraubenschlüssel. Vorsichtig öffnete er das Tor einen Spalt und spähte hinaus. Mit unruhigen Blicken starrte er hinaus in die Nacht, bis er glaubte etwas gesehen zu haben. Eine Bewegung, einen huschenden Schatten hinter dem Zaun auf dem Feldweg. Vielleicht spielten ihm auch die Fantasie und der aufkommende Herbstnebel einen Streich? Verursachten die dichter werdenden Nebelschwaden diese verdächtigen Erscheinungen? Um sicher zu gehen, musste er nachsehen. Geräuschlos schob er das schwere Holztor weiter auf die Seite und trat nach draußen. Seine Gestalt verschmolz mit der Dunkelheit. Angespannt lauschend verharrte er an der Scheunenwand. Mit den Augen versuchte er die Nacht und ihre tiefe Schwärze zu durchdringen. Zwischendurch hielt er immer wieder kurzzeitig den Atem an und lauschte. Jedes noch so kleine Geräusch ließ ihn aufschrecken. Sein Herz pochte bis zum Hals. Trotz der nächtlichen Kühle bildeten sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn. Verdammt, war heute etwas schiefgelaufen? überlegte er angestrengt. Dabei fixierte er weiterhin die Umgebung, bereit, auf jeden Laut und jede Bewegung zu reagieren. Dann vernahm er schleifende Schritte im feuchten Gras. Es raschelte leise. Füße berührten Laubblätter. Der Mann war sich nicht sicher, von welcher Seite die Geräusche kamen, hier gab es überall Bäume und Blätter. Er entschied sich weiter bewegungslos stehen zu bleiben und der Dinge zu harren, die da kommen würden. Auf jeden Fall wollte er sich nicht bloß stellen lassen. Der unbekannte Neugierige war dabei, sein Geheimnis zu entdecken, das durfte nicht sein. Jetzt hatte er seinen Verfolger lokalisiert. Ganz vorsichtig ging er drei Schritte in die andere Richtung vom Tor weg. Dann tauchte plötzlich eine dunkle Silhouette auf, die sich zögernd der Scheune näherte. Dicht vor dem Gebäude verharrte die Gestalt. Sie schien zu überlegen, vielleicht auch nur zu zögern oder zu horchen. Bevor der Herangeschlichene das Herannahen / das Näherkommen des anderen bemerkte, machte dieser zwei, drei schnelle Schritte und schlug mit dem Schraubenschlüssel zu. Ein dumpfes Geräusch, ein kurzes Stöhnen, ein zweites Geräusch, die Gestalt sank zu Boden, dann war es wieder Totenstille, als wenn die Natur ringsherum den Atem anhalten würde.

Einen gehörigen Schreck in der Morgenstunde erlebte am Montagmorgen eine Spaziergängerin in Hohenfeld. Wie jeden Morgen wollte sie mit ihrem Vierbeiner an dem kleinen Teich vorbei in die Felder Richtung Sickershausen. Die Hände tief in den Jackentaschen vergraben spazierte sie durch den kühlen Frühnebel, der zusammen mit dem fallenden Laub den Herbst ankündigte. Nur mühsam setzte sich das aufkommende Tageslicht gegen die feuchten Dunstschwaden durch. Trotz der eingeschränkten Sicht sah sie durchs Geäst an dem Pavillon in der Nähe des Wassers etwas Helles leuchten. Neugierig näherte sie sich, den Hund an der Leine haltend, der genauso interessiert schien und kräftig zog. Beim Näherkommen erkannte sie schließlich einen menschlichen Körper in sitzender Stellung, der mit dem Rücken an dem Pavillon lehnte. Zuerst sah es so aus, als wenn sich dort jemand vor Erschöpfung niedergelassen hätte. Einige zögernde Schritte später blickte sie in das fahle, totenbleiche Gesicht einer jungen Frau. Sie war nur mit Bluse und Jeans bekleidet. Um den Hals trug sie einen dunkelblauen Seidenschal. Es dauerte einige Sekunden, bis die Spaziergängerin begriff, dass sie vor einer Toten stand. Ihr lief ein gehöriger Schauer über die Haut, sie schlug die Jacke noch enger um sich. Eilig kramte sie ihr Handy aus der Jackentasche und wählte den Notruf.

Altlasten

Die beiden jungen Kommissare Blume und Rautner betraten gleichzeitig das Büro. Ihr Chef, Hauptkommissar Theo Habich, war schon anwesend und telefonierte. Gerade als sie ihre Jacken über die Lehnen ihrer Bürostühle hängen wollten, gestikulierte Habich, mit dem Telefon am Ohr, energisch. Die beiden hielten in ihrer Bewegung inne und schauten fragend auf ihren Chef.

»Ihr braucht euch nicht auszuziehen und hinzusetzen, wir haben eine Tote in Hohenfeld bei Kitzingen«, erklärte der Hauptkommissar, während er das Telefon auf die Anlage legte.

»Nicht mal einen Kaffee bekommt man gegönnt«, maulte Rautner und klemmte sich seine Jacke unter den Arm.

»Dafür hattest du ein freies Wochenende ohne Störung. Das ist doch auch etwas wert. Es sei denn, du bist anderweitig gestört worden«, grinste Habich amüsiert. »Aber das ist dein privates Problem.«

»Es war ein perfektes Wochenende, ich hatte alles im Griff.«

»Nach viel Schlaf siehst du trotzdem nicht aus«, stichelte Jasmin Blume.

»Schlafen kann ich immer noch, wenn ich mal in Theos Alter komme und sonst nichts mehr mit meiner Freizeit anzufangen weiß«, konterte Rautner.

Der fünfzigjährige stämmige Hauptkommissar klopfte Rautner beim Hinausgehen auf die Schulter und entgegnete locker: »Das wird auch dann dringend notwendig sein.«

»So viel fehlenden Schlaf kann Chris gar nicht nachholen, selbst wenn er sich zwei Wochen in Tiefschlaf legen ließe«, stellte Jasmin lachend fest.

Die drei pflegten untereinander einen lockeren, freundschaftlichen Umgangston und duzten sich mittlerweile untereinander. Auch das »Nesthäkchen« Jasmin – die Jüngste im Team – war inzwischen voll integriert. Seit ihrem Abenteuer auf dem Schwanberg, wo man sie in einer Höhle gefangen gehalten hatte, waren die Kollegen noch fürsorglicher ihr gegenüber, obwohl sie es zu verbergen suchten.

»Okay, okay! Das war euer Wort zum Montag, das ich über mich ergehen lassen musste«, gab sich Rautner geschlagen, »aber ein Coffee to go muss doch drin sein, oder?«

»Aber beeilt euch. Ich nehme meinen Wagen und fahr vor«, nickte der Hauptkommissar und beschrieb den beiden den Weg zum Fundort der Leiche.

Habich rauschte in seinem BMW X3 davon, während Rautner und Blume einen kleinen Umweg zu einem Kaffeeshop machten.

Zwanzig Minuten später traf der Hauptkommissar am Weiher in Hohenfeld ein. Nur fünf Minuten danach erschien Kommissarin Blume mit einem fluchenden Kollegen auf dem Beifahrersitz, dessen Hosen durch Jasmins Fahrweise von Kaffeeflecken gezeichnet waren.

»Theo, dieses Weib ist verrückt. Sie fährt wie eine Irre. Und dazu in dieser Hasenkiste von Mini Cooper. Das ist Gemeingefährlich. Schau dir meine Klamotten an«, beschwerte Rautner sich lautstark.

»Ich habe dir gesagt, du sollst den Deckel auf deinen Becher machen«, verteidigte sich Jasmin achselzuckend und wand sich an Habich. »Er wollte nicht hören.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, ließ sie die beiden stehen, innerlich musste sie schmunzeln.

Mit den Worten »Wer nicht hören will, muss fühlen« zeigte auch Habich wenig Mitleid mit dem jammernden Kollegen.

Jasmin hatte sich derweil dem neuen Fall gewidmet und sprach mit den Kollegen der Kriminaltechnik, die schon an der Arbeit waren und mögliche Spuren sicherten.

»Was haben wir hier?«, erkundigte sich Habich. Er war währenddessen an ein paar Neugierigen vorbei in den von einem Polizeiband abgesperrten Bereich getreten.

»Eine tote junge Frau … zirka Ende Zwanzig … Name und Herkunft bisher unbekannt.«, informierte ihn Jasmin.

»Was sagt unsere neue Gerichtsmedizinerin dazu?«

»Das Opfer ist seit Stunden tot. Fundort ist nicht gleich Tatort, behaupten die Kollegen. Sie wurde vermutlich irgendwann in der Nacht hier abgelegt.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Die Dame dort drüben mit dem Hund.« Jasmin zeigte mit dem Kopf in Richtung einer Frau, die dort nervös rauchend stand und frierend der Dinge harrte. Der Vierbeiner neben ihr beobachtete aufmerksam das Geschehen und die Menschen, die sich am und um den Pavillon bewegten.

»Hat schon jemand mit ihr gesprochen?«

»Nein, noch nicht … Ja, doch, die Kollegen der Streife, aber nur flüchtig.«

Die Unterhaltung zwischen den beiden wurde unterbrochen. Rautner trat hinzu, immer noch mit den schwächer werdenden Kaffeeflecken auf seiner Jeans hadernd.

Intensiv musterte Rautner einen Moment die Tote. »Denkst du auch, was ich denke?«, fragte der Kommissar danach seinen Chef. Der nickte zustimmend.

»Weihen die Herren mich in ihre Gedanken ein?«, erkundigte sich Jasmin Blume, die dritte Kommissarin im Team.

»Es erinnert uns an einen älteren ungeklärten Fall«, brummte Habich nachdenklich und winkte ab. »Wir reden später im Büro darüber.« Dann stampfte er durch das feuchte Gras davon, um sich nach mehreren Schritten noch mal umzudrehen.

»Befragt die Frau, die die Leiche gefunden hat, die Gaffer dort und geht zu den letzten Häusern am Ortsende.« Dabei zeigte er mit dem Kopf in die entsprechende Richtung. »Vielleicht hat einer etwas gesehen oder gehört.«

Während Blume und Rautner sich in verschiedene Richtungen entfernten, um ihren Aufgaben nachzugehen, trat Habich noch näher an die Leiche heran. Die Frau, die vor der Toten auf der Erde kniete, hob den Kopf. Theo schaute in zwei blaue Augen, die ihn sofort faszinierten. Die dazugehörige Blondine mit dem schulterlangen gewellten Haar und den leicht hervorstehenden Wangenknochen lächelte ihn freundlich an.

»Hallo, Herr Hauptkommissar!« Theos Mund war ganz trocken und er bekam sekundenlang keinen Ton heraus. Die hübsche Frau vor ihm auf den Knien runzelte leicht die Stirn. »Sie sind doch Hauptkommissar Habich, oder?«

»Ja, ja!«, beeilte er sich zu sagen. »Woher kennen Sie mich? Wir sind uns noch nicht begegnet.«

»Oh, man hat mir schon von einem Schwergewichtsboxer und Hauptkommissar der Mordkommission mit dem Spitznamen ›Kojak‹ berichtet. Auf Grund dieser eindeutigen Beschreibung waren Sie nicht zu verwechseln«, antwortete sie schmunzelnd.

»Halbschwergewicht und ehemalig! Ist schon länger her«, murmelte er etwas verlegen. »Und Sie sind sicherlich die neue Gerichtsmedizinerin?«

Nickend erhob sich die Ärztin, zog ihre Gummihandschuhe aus und reichte ihm die Hand. »Dorothea Wollner«, stellte sie sich vor.

»Na dann, Frau Doktor Wollner, auf gute Zusammenarbeit. Können Sie mir schon etwas über Todeszeit und Todesursache sagen?«, wurde Habich jetzt dienstlich.

»Todeszeit ist schwierig, da sie vermutlich die halbe Nacht hier draußen in der Feuchtigkeit lag. Jedoch müsste der Tod schon Stunden vorher, vielleicht irgendwann am gestrigen Abend, eingetreten sein. Als Todesursache vermute ich Strangulation mit diesem Seidenschal um ihren Hals. Andere sichtbare Verletzungen habe ich nicht gefunden. Aber Genaueres kann ich Ihnen erst nach der Obduktion sagen. Sie entschuldigen mich, ich muss mich um den Abtransport der Leiche kümmern.« Damit verabschiedete sich die Gerichtsmedizinerin.

Jasmin hatte währenddessen die Frau, die das Opfer gefunden hatte, eine Mittvierzigerin, erreicht. Der Hund erhob sich schwanzwedelnd, um den Ankömmling zu begrüßen.

»Schönes Tier«, eröffnete Jasmin das Gespräch. »Was für eine Rasse?«

»Ein Beagle.«

»Darf man ihn streicheln?«

»Ja, ja, Betsy ist lammfromm.«

»Aha, eine Hundedame also«, stellte die Kommissarin fest, beugte sich hinab und strich dem Hund übers Fell. Betsy ließ es, freudig wedelnd, anstandslos über sich ergehen.

»Erzählen Sie mir bitte noch mal, was Sie heute früh hier erlebt oder vielmehr vorgefunden haben«, bat Jasmin die Frau.

Diese wiederholte erneut, was sie schon den zuerst eingetroffenen Polizisten in Kurzform geschildert hatte. Außer dem Leichenfund habe sie keine Wahrnehmung gemacht und nichts Verdächtiges gesehen, erzählte die Frau. Kommissarin Blume war schnell klar, dass die Hundebesitzerin nichts zur Klärung des Falles beitragen konnte. Sie nahm ihre Personalien auf, entließ die Frau und marschierte auf die Häuser zu, um dort ihre Befragung fortzusetzen.

Sowohl sie als auch ihr Kollege Rautner bekamen keine wertvollen Aussagen oder Hinweise. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Ergebnislos brachen sie ihre Ermittlungen ab.

Die Kollegen der Spurensicherung konnten ebenfalls mit wenig bis gar keinen nützlichen Anhaltspunkten aufwarten. Lediglich zwei Reifenabdrücke konnten sichergestellt werden. Aber ob einer oder alle beide vom Fahrzeug des Täters stammten, war völlig ungewiss. Die These erhärtete jedoch den Verdacht, dass die Leiche mit einem Wagen an die Fundstelle gebracht worden war.

»Was war eigentlich mit diesem alten Fall, von dem Theo vorhin sprach?«, fragte Jasmin auf der Rückfahrt.

»Eigentlich gibt es da noch zwei ungeklärte Morde, die dem von heute ähneln. Aber warte, bis wir im Büro sind, Theo kann dir sicherlich mehr dazu sagen.«

So war es dann auch. Hauptkommissar Habich hatte schon die fahrbare Tafel aus Plexiglas hervorgeholt und war gerade dabei, dort Tatortbilder und Fotos der Toten zu befestigen. Daneben hängte er Aufnahmen zweier fremder weiblicher Gesichter und Örtlichkeiten.

»Sehr gut, ihr kommt genau richtig«, wandte sich Habich an die beiden, als sie das Büro betraten. Den fragenden Blick Jasmins ignorierte er und fuhr mit seiner Arbeit fort. »Setzt euch, ich bin gleich fertig, außerdem erwarte ich unseren Chef.«

Kaum ausgesprochen, öffnete sich die Tür. Eine blasse und schmächtige Gestalt mit Anzug und Krawatte trat in den Raum: Hans Schössler, Kriminaloberrat und Leiter der Mordkommission. Immer piekfein und korrekt gekleidet, sah er trotzdem so aus, als wenn er gerade halbverhungert einem feuchten, dunklen Verlies ohne Licht und Sonne entkommen wäre. Unaufgefordert setzte er sich auf einen der freien Bürostühle, schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück.

»So, dann lassen Sie mal hören, was Sie schon haben«, sagte er in seiner ruhigen, gelassenen Art. Seine Aufforderung galt allerdings Rautner und nicht dem Hauptkommissar. Dieser kam seinem jungen Kommissar aber zu Hilfe, nachdem er dessen betroffenen Blick aufgefangen hatte.

»Chef, lassen Sie mich das machen. Die beiden Kollegen sind gerade erst von ihren Befragungen zurückgekommen. Ich habe den vorläufigen KTU-Bericht schon gelesen, die zwei noch nicht. Außerdem …,« er zögerte den Satz fortzuführen, »außerdem glaube ich an einen Zusammenhang mit einem alten ungeklärten Fall. Darüber wissen die beiden Youngster sowieso wenig bis nichts.«

»Von was für einem ungeklärten Fall reden Sie?« Man merkte es Schösslers Tonfall an, dass das Wort ungeklärt ihm ein Dorn im Auge war. Unter seiner Leitung hatte er die Abteilung zu einer vorzeigbaren Aufklärungsrate geführt. Dank seiner intensiven Bemühungen konnten seine Beamten mit jeglicher Unterstützung rechnen, die Schössler ermöglichen konnte.

Habich räusperte sich. »Eigentlich sind es sogar zwei alte Fälle, aber ich habe so eine Vermutung, dass sie alle zusammengehören könnten.«

»Ah ja, ich weiß, wovon Sie sprechen.« Der Kriminaloberrat nickte, während er die Bilder auf dem Plexiglas betrachtete. Sein Gedächtnis war phänomenal. Was er mal gehört oder gesehen hatte, vergaß er nicht mehr. »Sie meinen den Mord vor etwa acht Jahren in Würzburg und die Tote in Repperndorf.«

»Richtig!«, nickte Habich zustimmend. Er sah in die Gesichter seiner beiden Mitarbeiter. Rautner war die Sachlage halbwegs bekannt, aber aus Jasmins Mimik las er, dass sie nicht wusste, wovon Schössler und er sprachen. »Am besten ist es, ich gebe noch mal einen kurzen Überblick, damit wir alle auf dem gleichen Stand sind.« Er stellte sich an die Tafel und begann. »Am 19. Mai vor acht Jahren fand man auf der Würzburger Talavera die 23-jährige Studentin Monika Storke.« Mit einem ausziehbaren Zeigestab deutete er auf das Bild der Toten und die Fotos der Umgebung. »Sie lehnte an der Rückseite der dortigen Waldschenke Dornheim, mit einem Gürtel erdrosselt. Alle Ermittlungen liefen ins Leere. Ihr Mörder wurde bis heute nicht gefunden.« Habich deutete auf die Bilder rechts daneben. »Am 10. August vor drei Jahren dann die zweite Ermordete, Sylvia Harms, 24 Jahre alt, eine Verwaltungsangestellte aus dem Landkreis Kitzingen. Ihre Leiche wurde sitzend am Rande eines Gebüsches in der Nähe des Repperndorfer Sportplatzes gefunden. Sie hatte, so wie unser letztes Opfer, einen Seidenschal um den Hals, mit dem man sie laut Gerichtsmedizin erdrosselt hat.«

Habichs Chef nickte heftig. »In beiden Fällen läuft der Mörder noch frei herum. Diese zwei Morde sind ein schwarzer Fleck auf unserer sonst makellos weißen Statistikweste hinsichtlich erfolgreicher Verbrechensaufklärung«, erinnerte Kriminaloberrat Schössler. »Und Sie glauben, die drei Taten hängen zusammen?«

»Der Verdacht liegt nahe. Alle jungen Frauen wurden auf dieselbe Art und Weise umgebracht. Der Mord mit dem Gürtel war wahrscheinlich der Anfang, aber mit dem Seidentuch hat er jetzt sein Mordwerkzeug gefunden. Warum auch immer es so ein Schal sein muss.«

»Ein Serienmörder also! Das wäre fatal. Glauben Sie, er macht weiter?«

»Keine Ahnung! Dazu müssten wir wissen, was ihn antreibt.«

»Aber wieso diese zeitlichen Abstände? Zuerst fünf Jahre, jetzt drei Jahre dazwischen.«

»Vielleicht fehlten ihm die Gelegenheiten … Vielleicht war er im Ausland oder im Gefängnis … Vielleicht gibt es einen oder mehrere spezielle Auslöser für seine Taten.«

Schössler überlegte kurz und fragte dann: »Verrennen wir uns da nicht in eine Vermutung?«

»Nach den beiden ersten Morden wäre ich auch nicht auf diese Theorie gekommen, aber jetzt …«

»Okay!« Kriminaloberrat Schössler erhob sich. »Ich möchte aber, dass Sie alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, also in sämtliche Richtungen ermitteln. Meinetwegen beziehen Sie die beiden alten Fälle in Ihre Ermittlungen mit ein.« Er hob mahnend den Finger. »Aber versteifen Sie sich nicht zu sehr nur auf die eine Theorie.« Mit diesen Worten verließ er den Raum.

Einen Moment herrschte Schweigen im Büro. Jeder der drei hing seinen Gedanken nach und verarbeitete das Gehörte. Jasmin war die Erste, die ihre Sprache wiederfand. Sie wandt sich den beiden Kollegen zu.

»Habt ihr damals … ?«

»Nein! Nicht ihr, nur ich«, unterbrach sie Habich. »Ich kenne beide Fälle gut. Beim ersten Mord war mein Vorgänger, Hauptkommissar Pfaff, noch im Amt und leitete die Ermittlungen. Ich war auf Fortbildung und Chris war zu der Zeit noch nicht in unserer Abteilung. Als ich zurückkam, waren schon viereinhalb Monate vergangen. Trotzdem habe ich mich mit dem Fall vertraut gemacht. Leider gab es damals sehr wenig Hinweise und die brachten uns alle nicht weiter. Wenn die Spuren kalt werden und man keine Sonderkommission bildet, dann holt uns unser Alltagsgeschäft ein. Irgendwann haben aktuelle Dinge mehr Priorität und die Altfälle werden automatisch vernachlässigt. Vieles hängt dann von Kommissar Zufall ab.« Er zuckte mit den Schultern. »Es ist nun mal so. Deshalb müssen wir jetzt intensiv dranbleiben. Ähnlich war es vor drei Jahren. Die Spuren- und Hinweislage war genauso dürftig. Es soll keine Entschuldigung sein, aber dazu kam, dass ich damals etwas überfordert war, da ich in der Abteilung alleine Dienst schob. Der alte Hauptkommissar war gerade in Rente gegangen, mein langjähriger Kollege und Partner starb kurz zuvor durch einen Autounfall und unser Ersatz«, dabei deutete er auf Rautner, »Chris hier, war erst seit ein paar Tagen neu im Dienst. Also noch keine sooooo große Hilfe. Es war somit vielleicht auch etwas unserer Personalnot geschuldet. Obwohl wir uns intensiv in den Fall hineinknieten und uns die Nächte um die Ohren schlugen.« An Jasmin gerichtet meinte er: »Das ist auch der Grund, warum du da bist. Wir haben es unserem Kriminaloberrat zu verdanken, dass wir dich als dritte Kraft ins Team bekamen. Er hat sich für die Planstelle eingesetzt und sie durchgeboxt.«

»Das bedeutet, wir werden zusammen mit dem neuen Fall die beiden anderen Fälle noch mal akribisch durchleuchten«, stellte Jasmin sachlich fest.

Der Hauptkommissar nickte. »Ihr werdet beide nacheinander die alten Fallakten durchforsten, ob wir damals etwas übersehen haben. Sucht nach Übereinstimmungen, Querverbindungen oder sonstigen Ähnlichkeiten. Ich gewinne immer mehr die Überzeugung, dass wir es mit nur einem Täter zu tun haben. Alles junge Frauen …, die gleiche Mordmethode …, die öffentliche Präsentation der Leichen. Diese Gemeinsamkeiten sind schon auffällig.

Habich wurde in seinen Anweisungen unterbrochen. Ein uniformierter Kollege kam herein und schwenkte eine dünne Akte. »Wir haben die Identität der Toten. Hier ist die Vermisstenakte dazu.« Er übergab die Unterlagen dem Hauptkommissar und verschwand wieder.

»Die Ermordete heißt Tanja Böhmert, ist 25 Jahre alt und kommt aus Dettelbach. Sie wird seit über einer Woche vermisst«, las Habich laut vor. Er klappte den Aktendeckel zu und murmelte leicht frustriert: »Dann werde ich mich mal aufmachen, die schlimme Nachricht zu überbringen.«

Dies war für ihn immer noch eine der schwersten Aufgaben. Die Reaktionen der Angehörigen gingen ihm jedes Mal nahe: Von tiefster Betroffenheit über Wein- und Schreikrämpfe bis hin zu Ohnmachtsanfällen hatte er alles schon mitgemacht. Dann war viel Taktgefühl gefragt, um bei diesen Menschen, die gerade die Hiobsbotschaft bekommen hatten, dass eine oder einer ihrer Liebsten gestorben war, über den Toten und dessen Umfeld Informationen zu erhalten.

In Dettelbach traf Habich auf die verzweifelten Eltern, von denen die Vermisstenanzeige stammte. Der Vater wirkte geschockt, die Mutter war nach der schrecklichen Gewissheit, dass ihre Tochter tot war, in Tränen aufgelöst. Erst nach endlos dauernden Minuten konnte Habich ein Gespräch mit Tanjas Vater führen. Darin erfuhr der Hauptkommissar, dass die Eltern ihre Tochter am Samstag vor acht Tagen zum letzten Mal gesehen hatten. Sie sei auf die Arbeit gegangen, um ihren Nachmittagsdienst anzutreten.

»Wo arbeitete Ihre Tochter?«

»Sie kellnerte in einer hiesigen Gaststätte.« Vater Böhmert nannte Namen und Adresse des Lokales, in dem Tanja bedient hatte.

»Hatte sie einen Freund?«

»Seitdem sie wieder zu uns gezogen war, nicht mehr.«

»Was ist vorgefallen?«

»Tanja ist gelernte Grafikerin. Sie hatte eine Anstellung in Würzburg, wurde aber dort zum Ende des letzten Jahres gekündigt. Personaleinsparung oder so. Na ja, wie das halt so ist. Mit der Arbeitslosigkeit kommt Unzufriedenheit auf. Tanjas Stimmungen waren schwankend, mal zuversichtlich, mal depressiv. Sie schrieb Bewerbungen, erhielt Absagen, ging zu Vorstellungsgesprächen und bekam wieder Absagen. Hinzu kamen die finanziellen Einbußen durch den fehlenden Job. Ihr damaliger Freund war im Elektrohandwerk tätig. Die schöne Wohnung in Würzburg wurde zu teuer. Daraufhin schlug Tanja vor … Nein, eigentlich haben wir vorgeschlagen, sie sollten beide zu uns ziehen. Wir haben oben noch eine kleine Wohnung frei. Die hätte fürs Erste mal gereicht. Ihr Freund wollte nicht, Tanja schon und so kam es zum Bruch.«

»Gab es seither Probleme mit dem Ex?«, erkundigte sich der Hauptkommissar. »Ich meine, ob er die Trennung anstandslos akzeptiert hat?«

»So etwas ist nie angenehm, aber nicht dass ich wüsste.«

»Wissen Sie denn jemand anderen, mit dem Ihre Tochter vielleicht Ärger hatte, von dem sie womöglich sogar bedroht wurde oder der ihr nachstellte?«

Zuerst wirkte der Vater bei der Frage ratlos, dann meinte er zögernd: »Ja gut, da gab es hin und wieder ein bisschen Belästigung in ihrem Job, durch alkoholisierte Gäste. Ich habe es nicht gerne gesehen, dass sie als Bedienung arbeitete. Aber sie wollte niemandem auf der Tasche liegen und meinte, ihr fiele die Decke auf den Kopf, wenn sie nichts zu tun habe, nur herumsäße und auf bessere Zeiten warten würde. Also haben wir es akzeptiert und sie gelassen. Nebenbei hat sie aber weiter versucht wieder in ihrem alten Beruf Fuß zu fassen.«

»Dieses gockelhafte Getue von eingebildeten oder alkoholisierten Gästen gegenüber Bedienungen meine ich nicht. Ich denke eher an jemand, der sie vielleicht massiver oder intensiver bedrängte.«

Böhmert überlegte und nickte dann. »Es gab da tatsächlich jemanden, der Tanja ein bisschen Stress bereitete. Ein ehemaliger Freund, mit dem sie mal vor Jahren zusammen war, fing wieder an ihr nachzustellen und machte sich nach Tanjas Trennung erneut Hoffnungen. Aber ich hielt es für harmlos«, er schüttelte den Kopf, »obwohl Tanja genervt war und eine lautstarke Auseinandersetzung mit ihm hatte. Wir haben es gehört, als er sie mal besuchte. Das alte Haus ist nicht sehr gut isoliert«, meinte er entschuldigend und deutete mit dem Zeigefinger zur Zimmerdecke.

»Wie heißt der junge Mann?«

»Peter Lackner.«

»Wissen Sie auch, wo ich ihn finden kann?«

»Glauben Sie wirklich, er hat etwas mit Tanjas Tod zu tun?«

»Nein, so weit sind wir noch lange nicht. Ich will nur mit ihm reden. Wenn er sich so um Ihre Tochter bemüht hat, hat er womöglich etwas mitbekommen, das für uns wichtig sein kann.«

»Ach so!« Böhmert schien nicht glauben zu können, dass jemand aus dem näheren Umfeld seiner Tochter ihr so etwas angetan haben könnte. Er wirkte weiterhin extrem fassungslos, während seine Frau immer noch schluchzend danebensaß.

Der Hauptkommissar hatte da ganz andere Erfahrungen. Er wusste, dass man in den meisten Fällen die Täter im Verwandten-, Bekannten- oder Freundeskreis zu suchen hatte. Diese Erkenntnisse behielt er aber lieber für sich, um bei den armen Eltern kein Kopfzerbrechen zu verursachen.

»Soweit ich weiß, arbeitet er bei einer Baufirma in Kitzingen.« Er beschrieb Habich den Weg dorthin.

Zuerst fuhr der Hauptkommissar in die Gaststätte, in der die Ermordete gearbeitet hatte. Dort konnte man ihm auch nicht weiterhelfen. Größeren Ärger oder Streit zwischen Tanja und Gästen habe es seines Wissens nach nie gegeben, berichtete ihr Chef. Der Wirt wusste nur, dass Tanja nach ihrem letzten Arbeitstag noch mit einer Freundin in eine Disco wollte, leider nicht mit wem und wohin.

Bei der Baufirma erfuhr Habich, dass Lackner seit letzter Woche Montag nicht zur Arbeit erschienen war und sich auch nicht krankgemeldet hatte. Zuhause traf er den Gesuchten nicht an. Zumindest öffnete ihm auf sein Läuten niemand die Tür. Weder Wohnungsnachbarn noch der Vermieter wussten, wo sich Lackner aufhielt. Er warf ihm eine Visitenkarte in den Briefkasten mit der Aufforderung, sich bei ihm auf der Dienststelle in Würzburg zu melden. Daraufhin kehrte Habich ins Büro zurück.

»Seid ihr beiden weitergekommen?«

»Nein! Bei den Altakten haben wir nichts Auffälliges gefunden, was eventuell übersehen worden wäre, und in unserem neuen Fall gibt es auch nichts Neues.«

»Dann möchte ich mehr über diesen Lackner und ihren letzten Freund, Dieter Ranko, erfahren«, sagte Habich an Jasmin gewandt. Den Namen hatte er ebenfalls von Tanjas Vater erfahren. »Außerdem müssen wir herausbekommen, wer die Freundin war, mit der Tanja nach ihrem Dienst noch ausgegangen ist«, überlegte er laut. »Vielleicht kennen Tanjas Eltern ihren Namen.«

Ein kurzer Anruf im Hause Böhmert brachte ihn nicht weiter. Dort ging jetzt niemand ans Telefon.