JOSEF IMBACH

Sternstunden und Schandflecke der Kirchengeschichte

JOSEF IMBACH

Sternstunden und Schandflecke der Kirchengeschichte

Echter

Inhalt

Zur Einführung: Göttliches Feuer und menschlicher Rauch

Machtkämpfe oder Seht, wie sie miteinander streiten!

Papst und Kaiser oder Eine Fälscherwerkstatt am päpstlichen Hof

Die Stunde der Aussteiger oder Gottsuche unter der Wüstensonne

Abschied von der Welt oder Die Grünen sind im Kommen

Isidor von Sevilla oder Der erste »Brockhaus«

Die Leichensynode oder Schändung der Totenruhe

Das »Dunkle Zeitalter« oder Wie es zum Konklave kam

Fußkuss für den Papst oder Canossa und die Folgen

»Deus lo vult« oder Die Gier nach Macht und Geld

Thomas von Aquin oder Ein Leuchtstern am Gelehrtenhimmel

Der mächtige Papst und der bärtige Bettler oder Der Konflikt zwischen Gott und Geld

Klara und ihre mutigen Schwestern oder Eine Adelstochter probt den Aufstand

»Eine höchst verhasste Institution« oder Wie die Verfolgten zu Verfolgern wurden

Ein Kirchenfürst auf Reisen oder Der Bischof nimmt ein Bad

Fürstinnen im Petersdom oder Frauen und Politik

Fijo de mignotta oder Ein Papst erfindet die Musiktherapie

Das Kloster als Alternative oder Das Zeugnis der Frauen

»Concilium superat Papam« oder Das letzte Wort dem Konzil

Jan Hus und Michel Servet oder Ketzerverbrennung auf Katholisch und auf Calvinistisch

Der Mönch und der Mammon oder Ein Kreuz auf dem Kontobuch

Papstkinder oder Das ›Erbe des Petrus‹ geht an den Familienclan

Andere Zeiten, andere Unsitten oder Venus im Kirchenstaat

San Giovanni Decollato oder Trost am Schafott

Zucht und Unzucht oder Blick ins Vatikanische Geheimarchiv

Verurteilt zum Klosterkerker oder Sadismus im Namen des Glaubens

Gaukler oder Mystiker? oder Filippo lacht und Gott lächelt

Freikarten fürs Himmelreich oder Das Geschäft mit der Jenseitsangst

Der Streit um die Bilder oder Die Schandtaten der Reformer

Ein Papst macht Ernst oder Die Römer begehren auf

Bartolomé de Las Casas oder Machtwissen und Dienstwissen

Erasmus von Rotterdam oder Der Satiriker als Seher

»Geh in dein Herz und denke nach …«oder Ein Liederdichter für alle Konfessionen

Neues zum Fall Galilei oder Wie Aristoteles einen Gelehrten beinahe auf den Scheiterhaufen brachte

»Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?« oder Ein Verzweifelter kämpft gegen den Hexenwahn

Klamotten und Küchenzettel oder Die Faszination von Statussymbolen

»Ein Geläute von Narrenschellen und Kirchenglocken« oder Von einem, der aufrichtet statt abkanzelt

»Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan« oder Weihnachten in Trastevere

Was ist evangelisch? oder Woran christliche Identität sich misst

Literaturhinweis (Auswahl)

Dank

Zur Einführung: Göttliches Feuer
und menschlicher Rauch

»Jésus annonçait le royaume, et c’est l’Église qui est venue – Jesus verkündete das Reich Gottes, und dann kam die Kirche.« Diese oft zitierte Äußerung des französischen Theologen und Historikers Alfred Loisy bringt das Problem auf den Punkt. Tatsächlich hat Jesus nicht daran gedacht, eine Kirche zu gründen. Er hat Menschen in seine Nachfolge gerufen. Und die sich ihm beigesellten, bildeten eine Gemeinschaft, die sich bald einmal institutionalisierte. Die Frage ist daher nicht, ob Jesus eine Kirche wollte, sondern ob die Menschen, die sich auf ihn berufen, tatsächlich seine Absichten verwirklichen und entsprechend handeln. Dass es innerhalb der Jesusbewegung schon früh zu Kontroversen kam, was im konkreten Fall dem Willen des Nazareners entspreche, verwundert nicht. Nachdenklich stimmt jedoch die Tatsache, dass bei der Umsetzung des Jesusprogramms längst nicht immer uneigennützige Motive, sondern oft auch Machtgelüste, Geldgier und persönliche Rivalitäten eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten.

Was ist die Kirche? Auf diese Frage antwortet der 1566 im Anschluss an das Reformkonzil von Trient herausgegebene Catechismus Romanus: »Die Kirche ist das Reich Gottes auf Erden.« Womit sie sich praktisch gegen jede Art von Kritik immunisierte.

»Kirche? Was ist denn das?« Diese Frage stellt auch Friedrich Nietzsche in seiner Schrift Also sprach Zarathustra. Dort lautet die Antwort: »Kirche – das ist eine Art von Staat, und zwar die verlogenste.«

Auch wenn man Nietzsches Behauptung mit guten Gründen widersprechen kann, bedeutet das noch lange nicht, dass man sich deswegen die erwähnte Katechismusantwort zu eigen machen muss. Ausdrücklich wurde diese quasi häretische Ansicht erst vom Zweiten Vatikanischen Konzil zurückgenommen, wenn es in seinem Grundsatzdokument Über die Kirche lehrt, dass diese auf dem Weg zum Gottesreich ist, bis zum Ende der Zeiten. Weiter unterstreicht das Konzil, dass die Kirche eine »komplexe Wirklichkeit« ist, »die aus göttlichen und menschlichen Elementen zusammenwächst«. Ins Alltagsdeutsch übersetzt: Aus dem von Jesus entfachten göttlichen Feuer züngeln nicht nur geistliche Flammen; vielmehr steigt daraus auch viel garstiger menschlicher Rauch empor. Was das praktisch bedeutet, hat Joseph Ratzinger vor Jahren, als er in Regensburg noch Theologie unterrichtete, so formuliert:

Es ist nicht zu verkennen, dass auch von Amts wegen vieles in der empirischen Kirche geschieht, was, theologisch gesehen, unkirchlich oder gar antikirchlich ist. Die Folgen dieser für unser heutiges Empfinden ob ihrer Selbstverständlichkeit beinahe banal klingenden Aussage sind schwerwiegend. Denn wenn es so steht, und zwar nach kirchlicher Lehre so steht, dann kann und darf gerade die Kirche selbst eine Totalidentifikation mit der jeweiligen empirischen [d. h. konkreten] Kirche nicht wollen.

Kurzum, das göttliche Wesen der Kirche ist an allen Orten und zu allen Zeiten von menschlichem Unwesen durchsetzt. Daraus folgt, dass sich die Treue zur Kirche nicht in blinder Ergebenheit, sondern in kritischer Loyalität manifestiert. Denn nicht mit der Kirche schlechthin, sondern mit Christus (und seiner Vorstellung von Gemeinschaft) können und sollen sich die Getauften vollumfänglich identifizieren. Diese Identifikation bildet gleichzeitig das kritische Korrektiv gegenüber der konkreten Kirche, die (wie schon die Kirchenväter betonten) ständig der Umkehr und der Erneuerung bedarf.

Seit jeher hat es Rufer und Mahnerinnen gegeben, die im Namen Jesu, im Namen des Evangeliums und im Namen Gottes Missstände anprangerten und zu Reformen aufriefen. So wird denn hinsichtlich der Geschichte der römischen Kirche (von ihr ist in diesem Buch die Rede) nicht nur deren Größe, sondern auch ihr Elend augenscheinlich. Dabei kann es nicht darum gehen, Sternstunden gegen Schandtaten aufzurechnen. Vielmehr werden im Folgenden ruhmreiche Ereignisse und Ärgernis erregende Entwicklungen nach Möglichkeit in chronologischer Reihenfolge dargestellt (wobei jedes Kapitel ein Ganzes bildet, sodass mit der Lektüre auch in der Buchmitte begonnen werden kann). Gelegentlich kommt gar beides in ein und derselben Geschichte zur Sprache – etwa wenn Papst Hadrian VI. die Laster der Kurie geißelt und gleichzeitig eine Reform des Klerus anmahnt. Die Blütezeiten verdienen es durchaus, großgeschrieben zu werden, allerdings ohne dass die Skandale im Kleingedruckten verkrümeln. Stets handelt es sich um Momentaufnahmen von Höhen und Tiefen einer Glaubensgemeinschaft, die wie jede menschliche Institution immer wieder hinter ihren eigenen Ansprüchen zurückbleibt.

Machtkämpfe
oder Seht, wie sie miteinander streiten!

Jesus zufolge misst sich die Autorität im Reich Gottes nicht an irgendwelchen gesellschaftlichen Positionen, sondern am beharrlichen Einsatz für die Mitmenschen, vorab für die Bedürftigen.

Eine diesbezügliche Erläuterung findet sich im Markusevangelium an jener Stelle, die davon berichtet, wie Jesu engste Vertraute sich um einen Spitzenposten balgen:

Jesus und seine Jünger kamen nach Kafarnaum. Und als er im Haus war, fragte er sie: Was habt ihr auf dem Weg besprochen? Sie aber schwiegen, denn sie hatten auf dem Weg miteinander besprochen, wer der Größte sei. Und er setzte sich und rief die Zwölf und sprach zu ihnen: Wenn jemand will der Erste sein, der soll der Letzte sein von allen und aller Diener (Markus 9,33–35).

Es scheint, dass die Jünger der Ansicht waren, dass diese Wegleitung nicht für sie, sondern lediglich für alle anderen gelte. Haben sie Jesu Mahnung geflissentlich überhört? Waren sie auf beiden Ohren taub? Aufschlussreich ist, dass der Evangelist schon im folgenden Kapitel berichtet, wie sich die Jünger erneut zu übervorteilen suchen:

Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, traten zu Jesus und sagten: Meister, wir möchten, dass du uns eine Bitte erfüllst. Er antwortete: Was soll ich für euch tun? Sie sagten zu ihm: Lass in deiner Herrlichkeit einen von uns rechts und den andern links neben dir sitzen! Jesus erwiderte: Ihr wisst nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde? Sie antworteten: Wir können es. Da sagte Jesus zu ihnen: Ihr werdet den Kelch trinken, den ich trinke, und die Taufe empfangen, mit der ich getauft werde. Doch den Platz zu meiner Rechten und zu meiner Linken habe nicht ich zu vergeben; dort werden die sitzen, für die es bestimmt ist. Als die zehn anderen Jünger das hörten, wurden sie sehr ärgerlich über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele (Markus 10,35–45).

Bevor wir näher auf diesen Sendungsauftrag eingehen, ist auf ein pikantes Detail zu verweisen. Bekanntlich hat der Verfasser des Matthäusevangeliums den Markustext als Vorlage benutzt und dabei nicht gezögert, die beiden Zebedäussöhne in ein etwas günstigeres Licht zu stellen; ihm zufolge nämlich ist es die Mutter des Jakobus und des Johannes, welche Jesus bestürmt, ihren Söhnen im Reich Gottes eine Vorrangstellung einzuräumen (vgl. Matthäus 20,20–21)! Damit zanken sich also ›nur‹ noch zehn Jünger um die besten Plätze!

Jesu »Kelch trinken« und seine »Taufe empfangen« – das bezieht sich nicht etwa auf das Tauf- und das Altarssakrament, sondern meint das ›Sterben mit (oder wie) Christus‹, womit der Evangelist aber nicht das blutige Martyrium, sondern die tägliche und tätige Nachfolge im Glauben meint. Die aber besteht nicht einfach im Machtverzicht, sondern darin, dass die Menschen ihre ›Macht‹ – und das bedeutet ihr Können und ihre Kräfte – zum Wohl der Allgemeinheit einsetzen: Macht als Ermächtigung zum Dienst!

Das Markusevangelium lässt durchblicken, dass diese Dienstanweisung sogar Jesu Jüngern zu schaffen machte. Und dass selbst in diesem Kreis eine offensichtliche Diskrepanz besteht zwischen Postulat und Realität.

Ungefähr anderthalb Jahrzehnte nach Jesu Tod, vermutlich ums Jahr 48 oder 49, beginnt es unter den Jerusalemer Jesusleuten so richtig zu brodeln. Dabei geht es um die Frage, ob die nichtjüdischen, zum Christentum übergelaufenen Gläubigen vor dem Empfang der Taufe zuerst beschnitten werden müssen und damit auf die mosaische Weisung zu verpflichten sind.

Angesichts der herrschenden Meinungsunterschiede sehen sich die Jerusalemer Gemeindemitglieder gezwungen, die Angelegenheit in einem größeren Kreis zu diskutieren. Prompt kommt es bei dieser Veranstaltung zum Eklat. Als einige Judenchristen dafür plädieren, strikt an der Beschneidung aller Neubekehrten festzuhalten, entsteht, so der Verfasser der Apostelgeschichte, »ein heftiger Streit« (Apostelgeschichte 15,7). Wohlgemerkt, wir befinden uns hier nicht in einem Kreis von Regenschirm tragenden englischen Gentlemen, sondern in einer Versammlung von gutturallautigen und wild gestikulierenden Orientalen. Petrus vermittelt. Das letzte Wort hat Jakobus, der Vorsteher der Jerusalemer Gemeinde; er entscheidet, offenbar ohne auf Widerspruch zu stoßen, dass auch Unbeschnittene ein anständiges Christenleben führen können.

Allerdings war der Konflikt damit nicht endgültig beigelegt, sondern schwelte weiter. Das geht aus der Auseinandersetzung zwischen Petrus und Paulus, den beiden Säulen der Urkirche, hervor, von der Letzterer in seinem Schreiben an die Gemeinde im kleinasiatischen Galatien berichtet. Paulus war ein Hitzkopf, Petrus ein Eiferer. Das konnte nicht gut gehen; prompt gerieten sie aneinander. Dabei ging es scheinbar bloß um Tischmanieren. Bekanntlich hatte Petrus keinerlei Hemmungen, in Antiocheia zusammen mit den dortigen Heidenchristen zu tafeln, was naturgemäß eine Übertretung der jüdischen Speisegesetze beinhaltete. Später jedoch, als einige aus dem Judentum zugewanderte Christen auftauchten, welche die besagten Speisevorschriften weiterhin beobachteten, ging Petrus auf Distanz zu seinen bisherigen Tischgenossen, damit die Neuangekommenen von seinen veränderten Essgewohnheiten nichts mitbekämen. Ein solches Verhalten kann ein Paulus partout nicht billigen, weshalb er Petrus glattweg der »Heuchelei« bezichtigt. Auch andere Judenchristen, wettert Paulus, hätten sich vom Beispiel des Petrus anstecken und fortreißen lassen (Galater 2,13–14).

Schon fast anekdotisch mutet es an, dass die Kontroverse zwischen Petrus und Paulus gut drei Jahrhunderte später einem Augustinus und einem Hieronymus nicht nur einiges Kopfzerbrechen, sondern vermutlich auch ein paar schlaflose Nächte bereitete. Ist es überhaupt denkbar, dass die zwei Ur- und Erzheiligen Petrus und Paulus so unfreundlich miteinander umgegangen sein sollen? Dass Heilige sich gelegentlich die Haare raufen, mag ja noch angehen. Aber dass sie einander in die Haare geraten? Tatsache ist, dass der Verfasser der Apostelgeschichte und Paulus im Galaterbrief diesen Tatbestand mit schwarzer Tinte auf blassgelbem Pergament festgehalten haben. Indessen steht für Hieronymus und für Augustinus außer Zweifel, dass Petrus und Paulus, diese beiden Tragpfeiler der Kirche, sich nicht wie zwei verkrachte Erben überworfen haben konnten.

Diese Möglichkeit war für die beiden Kirchenväter absolut undenkbar. Das geht aus ihrem in dieser Sache geführten Briefwechsel hervor. Schließlich kamen sie überein, dass es sich nicht um eine wirkliche, sondern lediglich um eine fingierte Auseinandersetzung gehandelt habe, gewissermaßen um eine didaktische Übung oder um eine dialektische Lektion, um den die Frage der Beschneidung diskutierenden Christenleuten den Willen Gottes vor- und sie selber zur Einsicht zu führen. Nach Ansicht der beiden Kirchenmänner haben Petrus und Paulus mit dieser angeblich künstlich inszenierten Auseinandersetzung so etwas wie ein pädagogisches Gesellen- oder Meisterstück geliefert.

Selbst wer nicht zur Gilde der Schriftgelehrten gehört, hört aus diesen Mutmaßungen schnell heraus, was die beiden erlauchten Vordenker der abendländischen Christenheit bewegt, nämlich dass nicht sein kann, was ihrer Meinung nach nicht sein darf, will sagen, dass die zwei heiligen Apostelfürsten innerhalb der heiligen Kirche in einen unheiligen Streit verwickelt waren und diesen auch noch öffentlich austrugen.

Leider verhält es sich so, dass wir mit den Begriffen Konflikt oder Streit fast ausschließlich Negatives assoziieren: Hader und Hass, Zänkereien und Zerwürfnisse, Zwietracht und Niedertracht, Arglist und böses Blut und boshafte Gesinnung… Das hat zur Folge, dass man meint, in der Kirche Gottes dürften wohl Kerzen brennen, aber keine Funken sprühen.

In Wirklichkeit kommt es doch gerade darauf an, dass man Konflikte weder unterdrückt noch bagatellisiert, sondern dass man sie austrägt, und zwar frank und frei, wie das damals in Jerusalem und Antiocheia geschah.

Bemerkenswert ist, dass die Auseinandersetzung um die Notwendigkeit der Beschneidung bloß auf verbaler Ebene ausgetragen wurde. Das sollte sich aber schon bald ändern, als zu Beginn des 5. Jahrhunderts ein Theologe namens Nestorios im kleinasiatischen Antiocheia ein derartiges Aufsehen erregte, dass sogar der Kaiser, Theodosios II., auf ihn aufmerksam wurde. Dieser ernennt den berühmten Mann im Jahr 428 zum Patriarchen von Konstantinopel. Dort ist gerade ein heftiger Streit im Gang, den ein paar eifrige Marienprediger entfacht haben, weil sie Maria als Gottesgebärerin preisen. Nun gibt es aber unter den Gläubigen welche, denen durchaus nicht einleuchten will, dass Gott eine Mutter haben sollte; sie betrachten Maria lediglich als Menschengebärerin. Nestorios versucht zu vermitteln und schlägt die Bezeichnung Christusgebärerin vor. Weil aber keine der Parteien nachgeben will, hat Nestorios jetzt alle gegen sich. Längst nimmt auch das einfache Volk lebhaften Anteil an diesen Auseinandersetzungen. Auf dem Markt kommt es zu Tumulten, in den Gassen zu Schlägereien, die Gottesdienste werden gestört, organisierte Sprechchöre unterbrechen die Prediger.

Weil der Streit sich immer mehr ausweitet und schließlich die ganze damalige Christenheit in zwei Lager zu spalten droht, beruft der Kaiser auf das Pfingstfest des Jahres 431 eine allgemeine Kirchenversammlung in die kleinasiatische Stadt Ephesos, welche die Einheit wiederherstellen soll. Dort entscheiden die Konzilsväter, dass der Ehrentitel Gottesgebärerin Maria angemessen ist – und setzen Nestorios als Patriarchen von Konstantinopel ab.

Wie aus der Entscheidung des Konzils eindeutig hervorgeht, ging es in dieser ganzen Auseinandersetzung nicht um Maria, sondern um die Person Christi: »Wer nicht bekennt, dass Emmanuel wahrhaftig Gott und deshalb die heilige Jungfrau Gottesgebärerin (theotókos) ist (denn sie hat das Wort, das aus Gott ist und Fleisch wurde, dem Fleisch nach geboren), der sei von der Kirche ausgeschlossen.« Obwohl dieses Dogma sich nicht auf die Rolle Marias innerhalb der Heilsgeschichte, sondern auf Christus – genauer: auf die Gottheit Jesu – bezieht, rückt in der Folge die Gottesgebärerin immer mehr in den Mittelpunkt. Was zur Folge hat, dass sie nach dem Konzil von Ephesos der dort verehrten Muttergöttin Artemis den Platz streitig macht und diese schließlich ganz verdrängt – aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Spannungen in Sachen Glaubenslehre und Kirchendisziplin, die immer häufiger zu Spaltungen führen, bleiben auch in der Folge nicht aus.

Als im 4. Jahrhundert der Grundbesitz der römischen Kirche durch Schenkungen zahlreicher Güter in Süd- und Mittelitalien und auf Sizilien anwächst, sind die Grundlagen für den späteren Kirchenstaat mit dem Papst als oberstem Herrscher gelegt. Damit erscheint das Papsttum vor allem den römischen Baronen besonders attraktiv, die sich fortan um den Stuhl Petri streiten. Im 11. Jahrhundert trennt sich die Ostkirche von Rom. Letztere wiederum spaltet sich zur Zeit Luthers (dessen zu einem guten Teil begründete Anliegen Papst Leo X. als frattate, als Klosterkram, abqualifiziert) in verschiedene Konfessionen auf. Als sich die Römische Kirche zur Zeit der Aufklärung gegen manche fundierte Forderungen sperrt (ein Stichwort unter anderen: Religions- und Gewissensfreiheit), kommt es zu verheerenden Auseinandersetzungen. Papst Pius X. wiederum bringt mit seinem Antimodernistenfeldzug vorab katholische Intellektuelle in massive Gewissenskonflikte, eine Tragödie, die sich unter Pius XII. mit dessen Kampagne gegen die Vertreter der Nouvelle théologie wiederholt, was erneut eine gewaltige Erschütterung auslöst.

Wer in der Kirchengeschichte einigermaßen bewandert ist, erinnert sich, dass im Anschluss an jedes ökumenische Konzil eine Minderheit die getroffenen Entscheidungen nicht akzeptierte, was jeweils zu weiteren Abspaltungen führte.

Das alles zeigt: Die ganze Kirchengeschichte ist nicht nur eine Glaubens-, sondern auch eine permanente Krisengeschichte.

Glaubensgeschichten verlaufen längst nicht immer gradlinig, weder im persönlichen noch im kirchlichen Leben. Was weiter nicht verwundert, weil angesichts veränderter Situationen und der daraus resultierenden neuen Fragestellungen mancherlei Unsicherheiten und damit verbundene Querelen nie auszuschließen sind.

Solange die neue, sich auf Jesus berufende Glaubensgemeinschaft eine Minderheit darstellte, war sie wiederholt Verfolgungen ausgesetzt. Kaum aber hatten sich die ehemals Verfolgten gesellschaftlich integriert und politisch etabliert, wurden sie ihrerseits zu Verfolgern. Bereits gegen Ende des vierten Jahrhunderts beschränkten sich die Nachfolger der Apostel nicht mehr auf die Verbreitung der Frohen Botschaft, sondern beteiligten sich eifrig am Poker um die Macht, wobei ihnen oft jedes Mittel recht war, um ihre Ziele zu erreichen. Gelegentlich erlagen Kirchenleute der Versuchung, ihre Vorstellungen (die sie in der Regel mit dem Willen Gottes identifizierten) mit klirrenden Waffen statt mit klaren Worten durchzusetzen. Dabei scheuten sie sich nicht, selbst die schlimmsten Gewalttaten als gottgewollt hinzustellen.

Dem Johannesevangelium zufolge fordert Jesus die Seinen auf, einander zu lieben: »Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt« (13,35). Sobald es aber vorzugsweise oder gar ausschließlich um die Macht ging, war dieses Kriterium Makulatur.

Das Christentum kann auf eine zweitausendjährige Krisen- und Glaubensgeschichte zurückblicken. Die eine bedingt die andere. Bedauerlich ist, dass Krisen oft eher vom Machtstreben als vom Willen zur Rechtgläubigkeit ausgelöst wurden. Und dass man der Rechtgläubigkeit nicht selten mit Mitteln und Methoden zum Durchbruch verhelfen wollte, welche dem von Jesus verkündeten Glauben entgegenstanden.

Überdies müsste die Kirche (und nicht nur sie!) eine Streitkultur pflegen, die diesen Namen verdient – der Akzent liegt auf Kultur.

Dass es die nicht (oder nicht hinreichend) gibt, hängt auch damit zusammen, dass wir mit dem Begriff Konflikt immer gleich Hader und Hass, Zwietracht und Niedertracht, fehlgeleitete Ansichten und böswillige Absichten assoziieren; offenbar hat die Christenheit seit Hieronymus und die Menschheit seit Augustinus in dieser Hinsicht wenig dazugelernt.

Auseinandersetzungen sind unerlässlich, wenn es darum geht, die evangelische Botschaft unter sich wandelnden sozialen Bedingungen und wechselnden kulturellen Umständen zu verkünden und zu aktualisieren. Wenn man jedoch jede ungewohnte Ansicht gleich als Attentat auf das Glaubensgut interpretiert, entartet der notwendige Streit zur gehässigen Streiterei. Wahrheitsfindung kommt zustande nur auf dem Weg der Toleranz, des Dialogs, der Versöhnlichkeit und – dies vor allem – bei gegenseitigem Respekt. Wo lediglich die Bestätigung seitens Gleichgesinnter gefragt ist, geht es entgegen allem äußeren Anschein weder um den Glauben, noch um die Kirche und schon gar nicht ums Christentum – also nicht mehr um die Sache, sondern um die eigene Person und Position.

Diskussionen um theologische oder kirchendisziplinarische Fragen laufen so letztlich auf Machtfragen hinaus. Das führt dazu, dass einzelne Gläubige nur deshalb bestimmte Lehrmeinungen verteidigen, weil sie es unter ihrer Würde finden, sich von anderen informieren zu lassen; dass Christusjüngerinnen und Jesusnachfolger anderen lieber den Kopf als die Füße waschen; dass kirchliche Amtsträger es vorziehen, ein Exempel zu statuieren, statt ein Beispiel zu geben.

An sich ist Streit durchaus nichts Verwerfliches. Auseinandersetzungen, auch und gerade um religiöse Fragen, sind ein Zeichen von Anteilnahme am kirchlichen Leben. Besser eine streitende als eine schlafende Kirche! Damit aber eine Debatte nicht in kleinliches Gezänk ausartet, brauchen wir eine Streitkultur. Und die setzt die Bereitschaft voraus, die eigenen Ansichten, und seien sie noch so altvertraut und herzenslieb, zu hinterfragen und notfalls zu revidieren.

Streit, wenn er denn sachlich ausgetragen wird, ist nicht nur nicht schädlich; er ist darüber hinaus auch zuträglich. Für Menschen mit einem halbwegs gesunden Herz-Kreislauf-System ist es schon aus rein medizinischen Überlegungen ratsam, gelegentlich zu streiten; das fördert die Blutzirkulation. Darüber hinaus sprechen auch soziale Gründe für das Streiten. Denn nur durch gemeinsame Überlegungen, die Auseinandersetzungen zwingend mit einschließen, überwinden wir die heute weitverbreitete zwischenmenschliche Gleichgültigkeit und kommen einander näher. Ja: näher! Naturgemäß geht es auch innerhalb der Kirche nicht ohne Meinungsverschiedenheiten und die damit verbundenen Konflikte ab, wie gerade das Apostelkonzil zeigt. Einvernehmen erreicht man nicht, indem man blind dem Papst gehorcht oder blindwütig gegen ihn ankämpft, auch nicht, indem man einen Bischof danach beurteilt, ob er einer Ansicht zustimmt, die man selber vertritt. Natürlich verhält es sich nicht so, dass bloß der Kopf des Papstes oder der des Bischofs oder jener des Lieblingstheologen einen geeigneten Landeplatz darstellt für die Taube des Heiligen Geistes. Ein Windhauch seines Flügelwehens kann grundsätzlich jede Stirn streifen. Dennoch sollten wir nicht in jedem Luftzug einen Unfehlbarkeitsbeweis für etwaige persönliche Erleuchtungen sehen, sondern stets bereit sein, die eigenen Überzeugungen mit den Argumenten anderer zu konfrontieren und mit ihnen zu debattieren, mit Ernst und Eifer, mit Überzeugungskraft und Vehemenz. Dabei dürften wir, wir haben ja nur einen Mund, aber zwei Ohren, über dem Sprechen das Zuhören nicht vergessen.

Wenn immer dies zutrifft, werden die Menschen aufhorchen und staunen und sich erinnern, was der afrikanische Kirchenschriftsteller Tertullian (um 150 – nach 220) seinerzeit feststellte: »Seht, wie sie einander lieben!« Was in diesem Zusammenhang besagt: »Seht, wie vorbildlich sie miteinander streiten!«

Papst und Kaiser
oder Eine Fälscherwerkstatt am
päpstlichen Hof

Im Jahr 366 steht in Rom wieder einmal eine Bischofswahl an. Zwei Männer, Damasus und Ursinus, streiten sich um den Posten. Eine Minderheit setzt sich für den Diakon Ursinus ein und lässt ihn in der Basilika Santa Maria in Trastevere weihen. Die Mehrheit stellt sich hinter den populären Diakon Damasus. Um seinen Anspruch auf den Bischofsstuhl von Rom durchzusetzen, heuert Damasus einen Schlägertrupp an, der unter den Anhängern des Ursinus ein drei Tage währendes Massaker anrichtet. Am 1. Oktober besetzt Damasus mit seiner Meute die Lateranbasilika und lässt sich dort zum Bischof von Rom weihen. Anschließend veranlasst er den Stadtpräfekten, Ursinus zu verbannen. Es ist dies das erste Mal, dass ein Nachfolger des Petrus die weltliche Obrigkeit für seine persönlichen Interessen in Anspruch nimmt. Die Unruhen indessen halten bis zum 26. Oktober an. An diesem Tag stürmen die Leute des Damasus die Basilika Santa Maria in Trastevere, wo die Anhänger des Ursinus Zuflucht gefunden haben. Bilanz dieser gewaltsamen Auseinandersetzung: 127 Tote und der Verlust der Glaubwürdigkeit.

Diese Dinge gehen sogar dem freigeistigen Historiker Ammianus Marcellinus ein bisschen zu weit: »Sie brannten in unmenschlicher Gier darauf, sich des Bischofssitzes zu bemächtigen und bekämpften sich aufs Erbittertste. Ihre Anhänger lieferten sich regelrechte Straßenschlachten mit Toten und Verwundeten.« Irgendwie versteht der Chronist zwar, dass, wer in der Reichshauptstadt Bischof werden will, ein gewisses Durchsetzungsvermögen benötigt, um dieses Ziel zu erreichen. Aber dann kommt’s knüppeldick: »Haben sie es erreicht, dann gehen sie einer sicheren Zukunft entgegen. Sie werden reich durch die Spenden adeliger Matronen.«

Tatsächlich versteht sich Damasus meisterhaft darauf, wohlhabende Damen und vermögende Witwen in kleinen feinen Zirkeln um sich zu scharen, die ihm, dem geselligen und gern gesehenen Gastgeber da ein Erbe überschreiben, dort eine Spende zukommen lassen und hier ein Geschenk übergeben, in der Hoffnung, dass vom Glanz dieses anerkannten Gesellschaftslöwen ein kleiner Lichtstrahl auch auf sie abfalle. Damasus’ späterer Sekretär Hieronymus, der unter anderem als Bibelübersetzer große Bedeutung erlangen wird, scheint in dieser Beziehung ebenfalls nicht ganz ungeschickt gewesen zu sein.

Ammianus Marcellinus weiß ferner zu berichten, dass auch andere höhergestellte Kleriker den Witwen jeden Alters gern zur Seite stehen, insbesondere dann, wenn es gilt ein Testament aufzusetzen. Dass es sich dabei keineswegs um üble Nachrede handelt, geht aus einem Erlass des Kaisers Valentinianus aus dem Jahr 370 hervor, der dem Klerus den Zutritt zu den Häusern der Witwen strikt untersagte. Aber nicht nur Erbschleicherei, sondern auch der prunkvolle Lebensstil des römischen Bischofs und seiner Umgebung sind vielen ein Dorn im Auge. Ammianus Marcellinus wundert sich, dass diese Leute jetzt » nur noch im Wagen sitzend in der Öffentlichkeit erscheinen, sie tragen prächtige Kleider und halten üppige Mahlzeiten ab, sodass ihre Gastereien sogar eine königliche Tafel übertreffen.« Nicht nur Machtgier und Skrupellosigkeit, sondern auch Luxus und Völlerei also wirft der Chronist den christlichen Würdenträgern in der Hauptstadt vor. Und hält ihnen gleichzeitig das Beispiel der »kleinen Provinzbischöfe« vor Augen, »die sich durch ihre äußerste Bescheidenheit in Speise und Trank der ewigen Gottheit und ihren wahren Verehrern als reine und tugendhafte Männer empfehlen«. Dass Damasus es trotz seiner zweifelhaften Lebensweise schafft, ins kirchliche Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen zu werden (im liturgischen Heiligenkalender hat er seinen festen Platz am 11. Dezember), erstaunt nicht weiter. Tatsächlich gelten die ersten 35 Vorsteher der römischen Gemeinde, angefangen von Petrus bis Julius I. († 352), allesamt als heilig. Unterbrochen wird die Reihe erst von Damasus’ Vorgänger, dem etwas wankelmütigen Liberius († 366). Es war eben nicht die Lebensführung, sondern das höchste Amt, welches den Nimbus gewissermaßen ex nihilo, also ganz von selbst zum Leuchten brachte.

Bekanntlich ist Rom nicht an einem Tag erbaut worden. Das gilt auch für das Rom der Päpste. Allmählich nur vermochte sich die ehemals verfolgte Minderheit der Christen in der Hauptstadt des römischen Kaiserreiches zu etablieren. In dem Maße als die Neugläubigen dort Fuß fassten, verstanden es die Päpste, die Hauptstadt schrittweise zu einem Machtzentrum auszubauen, indem sie ihre anfänglich rein geistliche Autorität zusehends weltlich vermummten.

Diese politische Entwicklung wird später mit der berühmten Verheißung religiös verbrämt, die Jesus dem Matthäusevangelium zufolge an Petrus gerichtet hatte: »Du bist Petrus [d.h. der Fels], und auf diesem Felsen werde ich meine Gemeinde bauen« (16,18). Allerdings hat der Verfasser des Matthäusevangeliums dabei den persönlichen Glauben des Petrus im Blick und nicht einen Sonderstatus im juristischen Sinn, der sich auch auf die Nachfolger des Apostels erstreckt (wie manche Interpreten später entgegen jeder historischen und exegetischen Evidenz behaupten werden). Erst in nachkonstantinischer Zeit, also um die Mitte des 4. Jahrhunderts, beginnt sich die Vorrangstellung des Bischofs von Rom in der gesamten Kirche durchzusetzen. Vorher waren es die römischen Kaiser (die sich zunächst als Schutzherren der neuen Glaubensgemeinschaft ausgaben), welche sich als Herren über die Kirche gebärdeten (das Konzil von Nikaia wird vom Kaiser einberufen und tagt im Jahr 325 unter seinem Vorsitz!). Nachdem durch die Verlegung des kaiserlichen Hofes nach Konstantinopel in Rom ein Machtvakuum entstanden ist, verlangt die neue Konstellation nach einem Gegenspieler. Naturgemäß fällt diese Rolle dem geistlichen Oberhaupt der Christen zu, das inzwischen eine nicht unbedeutende gesellschaftliche Position erlangt hat. Ein erstes Zeichen dafür bildet ein 343 erlassenes Dekret der Kirchenversammlung von Sardica (heute Sofia), welches abgesetzten Bischöfen die Appellationsmöglichkeit beim Bischof von Rom ermöglicht. Wenig später verfällt Damasus I. (366–384) auf den Gedanken, die an Petrus ergangene Verheißung auch auf die späteren Vorsteher der Christengemeinde auszuweiten. Von Damasus stammt auch die Idee, die Bezeichnung Apostolischer Stuhl für den römischen Bischofssitz zu reservieren. Bis dahin nämlich schmückten auch andere Bischöfe, deren Gemeinden angeblich von einem Apostel gegründet worden waren, ihren Amtssitz mit diesem Titel.

Im Römischen Reich ist die Kirche inzwischen in fünf Großräume aufgegliedert, an deren Spitze ein Patriarch steht. Der einzige und alleinige Patriarch im Westreich ist der Bischof von Rom, während das Ostreich unter vier Patriarchen aufgeteilt ist, die in Alexandreia, Jerusalem, Antiocheia und Konstantinopel residieren.

Siricius, der 384 zum Bischof von Rom gewählt wird, verfolgt die Linie seines Vorgängers Damasus konsequent weiter. Kaum im Amt, kramt er aus Schränken und Schubladen die alten Dokumente seiner Vorgänger hervor und stößt dabei auf einen Erlass, mit dem Kaiser Gratianus (367–383), ein erklärter Förderer des Christentums, allen römischen Bischöfen die oberste Gerichtsbarkeit und Entscheidungsgewalt über die Kirchen im westlichen Reich zugestanden hat. Der Fund bleibt nicht ohne Folgen. Kleriker aus der Provinz, die mit irgendwelchen Anfragen an ihn gelangen, werden fortan nicht mehr wie bisher üblich mit Ermahnungen oder Ratschlägen überhäuft, sondern mit amtlichen Verordnungen eingedeckt. Dabei weist Siricius ausdrücklich darauf hin, dass seine Entscheidungen ebenso verbindlich sind, wie die Verordnungen von Synoden. Logische Folge: Liturgische, theologische oder disziplinarische Bestimmungen, die für eine einzelne Kirchenprovinz gefällt werden, sind jetzt für alle anderen gleichfalls bindend.

Siricius ist es auch, der sich als erster Nachfolger Petri mit dem Titel Papa (Papst, vom griechischen pappas) schmückt, mit dem die Mitglieder der östlichen Kirchenprovinzen ihre Bischöfe anreden. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts gilt der Papsttitel als Monopol des »Apostolischen Stuhls«.

Hatte die Bezeichnung Papa unter Siricius noch etwas Ehrerbietig-Väterliches an sich, so ändert sich das mit Innozenz I., welcher im Jahr 401 als direkter Nachfolger seines Vaters Anastasius I. (399–401) zum Bischof von Rom gewählt wird. Die 36 von ihm erhaltenen Briefe sind allesamt in einem Ton gehalten, der keinerlei Zweifel lässt, wer in der gesamten Westkirche das Sagen hat. Glaubenslehre, Kirchendisziplin und Liturgie haben sich fortan an der römischen Kirche, will sagen an den diesbezüglichen päpstlichen Vorstellungen zu orientieren. Wichtige Streitfragen werden vom römischen Bischof entschieden. Damit ist die Marschrichtung vorgegeben, in der sich die künftigen Päpste beim Ausbau ihrer Jurisdiktionsgewalt fortbewegen werden. Begreiflich daher, dass manche Kirchenhistoriker und -historikerinnen Innozenz I. als den ersten eigentlichen Papst bezeichnen.

Wie seine Vorgänger ist auch Leo I. (der Große; 440–461) ein Anhänger der Petrusdoktrin. Von einer – und sei es bloß relativen – Autonomie der übrigen Bischöfe will er nichts wissen. Der römische Bischof steht über allen, er ist vicarius Petri, der Stellvertreter des Petrus – so der Titel, den Leo I. für sich beansprucht. Die neue Bezeichnung geht auf das römische Erbrecht zurück, welches den Erben als vicarius bezeichnet, der zusammen mit den materiellen Gütern auch den juristischen Status (d. h. alle Rechte und Pflichten) des Erblassers übernimmt. Entsprechend diesem juristischen Modell hinterlässt der ›Erblasser Petrus‹ alle seine Rechte, Pflichten und Privilegien seinem einzigen und rechtmäßigen Erben, nämlich dem Bischof von Rom. Allerdings erbt der Papst nur das Amt und nicht etwa die persönlichen Vorzüge oder Verdienste des Petrus. Die Person, auf welche das Erbe übergeht, ist zweitrangig. Moralische Defizite fallen so wenig ins Gewicht wie menschliche Qualitäten. Das Amt ist entpersonalisiert. Der Form nach ist es zu vergleichen mit der Monarchie der römischen Kaiser. Ein qualitativer Unterschied ergibt sich jedoch aus der Sache. Während das kaiserliche Imperium historisch gewachsen ist, ist das päpstliche Imperium von Jesus gestiftet. Offen bleibt, ob Leo sich darüber Rechenschaft gab, dass er mit dieser Argumentation vom juristischen in den theologischen Bereich hinüberwechselte. Fest steht nur, dass diese neue Sicht faktisch das hierarchische Prinzip impliziert. Der aus dem Griechischen stammende Begriff Hierarchie bedeutet nicht nur heilige Herrschaft (wie manche meinen), sondern auch heiliger Anfang, heiliger Ursprung oder heilige Ordnung. Aber so unheilig die Methoden sein mögen, mittels derer diese Herrschaft ausgeübt wird, geheiligt ist sie nach Leo I. dennoch, und zwar aufgrund ihres göttlichen Ursprungs. Was die praktischen Konsequenzen aus diesen Prämissen betrifft, kann sich Leo auf die Kirchengeschichte des theologischen Wendehalses Eusebius von Caesarea (um 265–339) berufen: »Wer Petrus [d. h. dem jeweiligen Papst] den Vorrang abzustreiten wagt, kann dessen Würde in keiner Weise mindern, sondern stürzt sich, vom Geiste des Hochmutes gebläht, selbst in die Hölle.« Um ihre Macht abzusichern, werden spätere Päpste dieser Aussage Nachdruck verleihen, indem sie Andersdenkende mit der Strafe der Exkommunikation belegen.

Die östlichen Kirchen nehmen den neu entstehenden römischen Zentralismus und die damit verbundenen Ansprüche anfänglich nicht allzu ernst. In Konstantinopel, dem ›Zweiten Rom‹, gilt neben dem Kaiser nicht etwa der Papst als höchste Autorität, sondern das vom Kaiser (!) einberufene Ökumenische Konzil, dem sich auch der Bischof von Rom zu fügen hat. Den Papst betrachtet man im Osten lediglich als Patriarchen des Westens; tatsächlich stellt ihn das Konzil von Chalkedon (451) auf eine Ebene mit dem Patriarchen von Konstantinopel. Das ändert nichts daran, dass die Päpste ihre Position zunächst festigen und sogar ausbauen können. Äußerlich kommt diese Stärkung auch im päpstlichen Hofzeremoniell zum Ausdruck, in welches jetzt vermehrt vormals dem Kaiser vorbehaltene Elemente integriert werden. Bei liturgischen Feiern schreiten dem Papst Kerzen- und Weihrauchträger voran; begrüßt wird er mit der Prokynese, dem bislang dem weltlichen Herrscher reservierten Kniefall, und wie der Kaiser unterzeichnet der Papst seine Erlasse nun mit roter Tinte. Schließlich übernimmt der römische Bischof auch den ursprünglich dem heidnischen Oberpriester vorbehaltenen Titel eines Pontifex maximus (›oberster Brückenbauer‹).

Schon zu Zeiten Leos I. war Rom längst keine Weltmacht mehr. Nach dem Tod Kaiser Theodosios’ I., der 394 das gesamte Reich unter seiner Herrschaft vereinigte, wurde dieses unter seinen beiden Söhnen aufgeteilt. Honorius regierte über den Westen, Arcadius hingegen über die östlichen Gebiete. Die zunehmende Bedrohung durch die Germanenstämme, einander in rascher Folge ablösende Herrscher im Westen und Rivalitäten zwischen den beiden Reichsteilen beschleunigten Roms Niedergang.

Die Lage verbesserte sich nur kurzfristig, als Iustinianos I. (der Große) im Jahr 527 als letzter römischer Kaiser in Konstantinopel den Thron bestieg. Gleich nach seinem Amtsantritt begann er mit der Wiederherstellung des Römischen Reiches, dessen westlicher Teil während des 5. Jahrhunderts an die Barbaren gefallen war. Gemäß seiner Losung »ein Kaiser, ein Reich, eine Kirche« wurde Rom eng in den Osten eingebunden. Der Kaiser behielt sich das Recht vor, die Papstwahl zu bestätigen.

Im 7./8. Jahrhundert dann, als die Muslime Konstantinopel bedrohten und die Kaiser zur Sicherung der Grenzen wieder einmal Geld brauchten, verfielen sie auf den Gedanken, auch für die kirchlichen Besitztümer Steuern einzufordern. Papst Gregor III. (731–741) reagierte empört; die Lage zwischen Konstantinopel und Rom spitzte sich zu. Als der Papst Kaiser Leon III. die Unterstützung in seinem Kampf gegen die Bilderverehrung versagte, konfiszierte dieser alle päpstlichen Ländereien in Süditalien und Sizilien. Damit war der Papst fast ohne Einkommen. Gleichzeitig war Mittelitalien wieder einmal von den Langobarden bedroht, die sich nach der Völkerwanderung im Norden der Halbinsel niedergelassen hatten.

In dieser schwierigen Situation richtete sich die Hoffnung der Päpste auf Pippin III. (den Jüngeren). Der war nach dem Verzicht seines Bruders Karlmann, des Hausmeiers von Austrien (die Gebiete um Aachen, Tournai, Köln, Fulda und Metz), seit 747 alleiniger Hausmeier und faktisch Regent im ganzen Frankenreich. 751 setzte er Childerich III., den letzten merowingischen Herrscher, ab und ließ sich in Soissons zum König ausrufen. Ende 753 fasste Papst Stephan II. den Entschluss, Pippin um Hilfe zu bitten. Als erster Nachfolger Petri überquerte er die Alpen. Pippin empfing ihn am 6. Januar 754 in der champagnischen Pfalz Ponthion. Der König demonstrierte bei dieser ersten Begegnung keine Macht, sondern zeigte Stil. Er fiel vor dem Papst auf die Knie und führte das Pferd des Besuchers ein Stück weit am Zügel. Dieser ›Stratordienst‹ hatte vermutlich im (byzantinischen?) Kaiserzeremoniell seinen Ursprung. Schon am folgenden Tag jedoch bot sich den Höflingen ein völlig anderes, realistischeres Bild. Der Papst erschien im Bußgewand vor dem König und bat ihn, die Stadt Rom von den Langobarden zu befreien. Die Entscheidung fiel am 14. April 754. Pippin verpflichtete sich, und das sollte auch für seine Söhne gelten, die römische Kirche und die Vorrechte des heiligen Petrus in der Gestalt des Papstes zu schützen. Außerdem versprach er, diese Gebiete in Mittelitalien dem Papst wieder zuzuführen. Dieses Versprechen wurde 754 und 756 in zwei Feldzügen eingelöst. Die eroberten Gebiete machte Pippin dem »heiligen Petrus« (beziehungsweise seinen legitimen Erben) zum Geschenk. Diese sogenannte Pippinische Schenkung bildete die Grundlage für den späteren Kirchenstaat, der bis 1870 Bestand haben sollte.

Dass Pippin keineswegs aus purer Kirchentreue oder aus reiner Glaubensüberzeugung handelte, zeigt der weitere Verlauf der Ereignisse. Am 28. Juli 754 salbte Papst Stephan II. Pippin in Saint-Denis zum König. Außerdem verlieh er ihm und seinen Söhnen den Ehrentitel Patricius Romanorum, (militärischer) Schutzherr der Römer. Bis dahin war diese Ehrenbezeichnung, welche die Schutzgewalt über Rom implizierte, den kaiserlich-byzantinischen Statthaltern in Italien vorbehalten. Für die Byzantiner bedeutete die Neuvergabe des Titels, dass sie in Italien nichts mehr verloren und dort auch nichts mehr zu suchen hatten.

Zwar war Pippin schon einmal, nach seiner Machtergreifung im Jahr 751, mit dem heiligen Öl gesalbt worden, vermutlich durch Erzbischof Bonifatius. Die neuerliche Salbung durch den ›Stellvertreter Gottes auf Erden‹ bildete nicht nur einen Ersatz für das fehlende königliche Geblüt, sondern diente gleichzeitig der Legitimation. Andererseits konnte der Papst mit diesem Weiheakt demonstrieren, wer einzig befugt war, die Königswürde zu verleihen. Im Grunde waren beide, König und Papst, aufeinander angewiesen. Auf Dauer konnte das nicht gut gehen.

Durch die Pippinische Schenkung entstand für den Papst eine völlig neue Situation – er war jetzt nicht mehr bloß das geistliche Oberhaupt der Christenheit, sondern gleichzeitig auch politischer Machthaber mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Wie der König benötigte er seinerseits eine Legitimation für seine weltliche Herrschaft.

Heute nehmen die meisten Geschichtsforschenden an, dass das damit verbundene Problem von einem findigen Kopf aus der Umgebung Papst Pauls I. (757–767), dem Bruder und Nachfolger Stephans II., einer Lösung zugeführt wurde. Einem vom päpstlichen Hof gestreuten Gerücht zufolge nämlich hatte irgendein Kopist oder Skribent oder sonst ein Federspitzer in einer Schublade oder hinter einem Wandschrank einen alten Schriftsatz entdeckt, der sich als Abschrift eines noch älteren Dokuments erwies, das, man staune, angeblich aus der Kanzlei Kaiser Konstantins des Großen stammte. Das Dokument schien zu bestätigen – es gibt da nicht etwa verschiedene Lesarten oder Rezensionen, wie die Fachleute das später nennen werden –, dass Kaiser Konstantin seinem Zeitgenossen Papst Silvester I. und dessen Nachfolgern nicht nur die mittelitalienischen Ländereien, sondern auch seine Kaiserkrone geschenkt hatte. Nicht dass die Päpste dieses Dokument nun sämtlichen Sendboten anderer Fürstenhöfe vorgezeigt hätten (so plump verhält sich selbst der unbedarfteste Fälscher nicht), noch wurde der fragliche Wisch in einem offiziellen Text erwähnt. Vielmehr verwahrten die Päpste das Pergament sorgfältig in der Schublade; die Rede davon verbreitete sich ganz von selbst. Mit dem Herzeigen konnte man ruhig zuwarten, bis die Papstanhänger vom Wahrheitsgehalt überzeugt waren; die Gegner ließen sich dann leichter widerlegen. Und wer später immer noch an der Echtheit des ominösen Schriebs zweifelte, war für die Folgen solchen Unglaubens selber verantwortlich (wie ein gewisser Johannes Drändorf, der 1425 in Heidelberg als Ketzer verbrannt wurde, weil er die sogenannte Konstantinische Schenkung als Fälschung bezeichnet hatte).

Zu Zeiten eines Damasus’ I. war die Inbesitznahme des Apostolischen Stuhls, soziologisch betrachtet, eine reine Macht- und Prestigefrage. Seit der Pippinischen Schenkung aber waren die Päpste Herren über ein Territorium; fortan ging es nicht mehr bloß um die geistliche Leitung und um den Zusammenhalt einer Glaubensgemeinschaft, sondern auch um territoriale Ansprüche. Diese neue Konstellation bot vor allem für die Mitglieder der römischen Aristokratie verlockende Aussichten. Denn wer in der Hauptstadt etwas galt, beteiligte sich seit jeher am Poker um die besten Positionen. Vor allem die Adelsdynastien waren jetzt daran interessiert, ein Mitglied ihres Familienclans auf den Stuhl Petri zu katapultieren.

Wie es dabei zuging, zeigt ein Vorfall, der sich am 25. April 799 ereignete, als Papst Leo III. während einer Prozession angegriffen und gefangen gesetzt wurde. Die Angreifer rekrutierten sich aus der Familie seines Vorgängers Hadrian, die unter diesem einträgliche Ämter innegehabt hatte. Leo indessen gelang die Flucht. Mithilfe von fränkischen Großen kam er nach Paderborn, wo sich zu diesem Zeitpunkt Karl der Große aufhielt. In der Folge ließ Karl auch Leos Gegner kommen, um sie anzuhören. Da die Sache nicht geklärt werden konnte, wurde Leo nach Rom zurückgeschickt, damit alles vor Ort geklärt werde. Als die weiteren Untersuchungen ebenfalls ergebnislos verliefen, entschloss sich Karl, im Jahr 800 nach Rom zu ziehen und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Bei dieser Gelegenheit krönte der Papst den Frankenherrscher am 25. Dezember zum Kaiser und machte ihn damit gleichzeitig zu seinem Verbündeten.

Über das Prozedere informiert uns der Chronist:

Als der König am heiligen Weihnachtstage bei der Messe sich vor dem Grab des seligen Apostels Petrus erhob, setzte ihm Papst Leo die Krone aufs Haupt, und das Volk rief aus: Dem erhabenen Karl, dem von Gott [!] gekrönten großen und friedbringenden Kaiser der Römer Leben und Sieg! Und nach diesen Lobrufen wurde er vom Papst nach der Sitte der alten Kaiser durch Kniefall geehrt und fortan Kaiser und Augustus [d. h. der Erhabene] genannt.

Aufgrund einer Notiz von Karls Hofchronisten Einhard neigen die Geschichtsforschenden heute zu der Annahme, dass Karl der Große überrascht war, dass ihm der Papst die Kaiserkrone aufsetzte. Das würde bedeuten, dass Leo durch den Krönungsakt unterstreichen wollte, dass die geistliche Autorität über jeder weltlichen Macht steht, und dass alle irdische Herrschaft der Legitimation durch den obersten Sachwalter Gottes auf Erden bedarf. Ob der Papst diese Botschaft vermitteln wollte, muss offenbleiben. Fest steht hingegen, dass Leo III. als erster Papst das Recht der Kaiserkrönung für sich in Anspruch nahm.

Sein Beispiel machte Schule. 813, ein Jahr vor seinem Tod, krönte Karl der Große seinen Sohn Ludwig I. zum Mitkaiser. Dieser übernahm nach dem Tod des Vaters die Nachfolge. 816 reiste Papst Stephan IV. nach Reims, um Ludwig seinerseits zum Kaiser zu krönen. Da die Frankenkaiser über keinerlei geschichtliche Legitimation verfügten (Pippin III. war ursprünglich nur Hausmeier unter dem letzten merowingischen König Childerich III.), waren sie durch die päpstliche Krönung wenigstens theologisch legitimiert. Ludwigs Sohn Lothar wiederum wurde 823 von Papst Paschalis I. in Rom gekrönt. Die folgenden Kaiserkrönungen fanden in der Peterskirche statt – aber erst nachdem die fränkischen Könige den Papst jeweils demütig darum gebeten hatten.