MARKUS GRIMM

Abdulmesih und der liebe Gott

Eine wahre Geschichte von Fremde und Heimat

MARKUS GRIMM

Abdulmesih

und der

liebe Gott

Eine wahre Geschichte
von Fremde und Heimat

echter

Kapitel 1

Das Land ist groß, weit und alt.

Vom Turm der Kirche aus geht der Blick wie in eine lange Vergangenheit, berührt die Dächer der sich türmenden sandfarbenen Häuser, wandert die hellgrauen Gassen entlang bis hinaus vor die Stadt und verliert sich in den sanften Wellen des Tur Abdin. So kann man in der milden, klaren Luft für Ewigkeiten stehen und schauen, ruhig und wartend, nicht verloren oder ratlos. Dieses große, alte Land trägt und hält die Menschen seit unvordenklichen Zeiten, seit den Zeiten der Akkadier, der Assyrer, der Perser, der Aramäer, der Römer, der Osmanen. Dieses Land, das sich im äußersten Norden des Zweistromlandes dem Himmel entgegenhebt, ruht, als hätte es schon Weltuntergänge überstanden. Es hat Menschen eingeladen und ausgeschickt, willkommen geheißen und verabschiedet. Seit vielen tausend Jahren leert und füllt es sich immer wieder mit Menschenleben, leert und füllt sich, ein zeitlos schlagendes Herz im Südosten der Türkei.

Auf dem Kirchturm in seiner Heimatstadt Midyat steht und schaut Abdulmesih. Es ist eine syrisch-orthodoxe Kirche, und Abdulmesih ist trotz seinem arabischen Namen kein Moslem, sondern Christ.

Wenn er die Augen ein wenig zusammenkneift und nach Osten schaut, wo in der Frühe die Sonne aufgeht und wohin sich die Christgläubigen beim Gottesdienst wenden, dann glaubt er zu erkennen, woher er kommt und was ihn zu dem Menschen gemacht hat, der hier steht. Doch im Westen türmt sich groß und dunkel etwas ganz Unbekanntes vor ihm auf, ein fernes, fremdes Land. Er fürchtet dieses Kommende nicht, aber er liebt es auch nicht, und wenn es nach ihm ginge, käme etwas anderes. Aber das Leben liegt nicht ganz in des Menschen Hand, nur was er daraus macht, nicht die Bedingungen. Abdulmesih ist entschlossen, etwas daraus zu machen, komme, was da wolle, und wo auch immer das sein mag.

Es ist Februar 1966, der Winter ist mild hier oben in Midyat. Die große Abreise steht unmittelbar bevor. Er denkt an seine junge Frau und seine beiden kleinen Söhne, an seine Eltern, seine Freunde. Er erinnert sich an den Jahreswechsel, seinen neunundzwanzigsten Geburtstag und das Hochfest der Taufe des Herrn: den langen, heimatlichen Gottesdienst, den Weihrauch, die Gesänge, die uralte Sprache. Abdulmesih gehört zum Volk der Aramäer, zu den ältesten Christen der Welt, ihre Sprache ist die Sprache Jesu, dreitausend Jahre alt, sie war jahrhundertelang die Verkehrssprache im Vorderen Orient und ist immer noch in täglichem Gebrauch. Sein Leben bis heute hat ihm gezeigt: Wo auch immer er hingeht – sein Volk, seine Sprache werden ihn überall begleiten, und sein Christus wird ihn nirgends im Stich lassen. Abdulmesih bedeutet »Diener des Messias«, »Christusdiener«.

Wie ist nur alles gekommen? Wie hat das Leben ihn hierhergestellt, und wo schickt es ihn jetzt hin?

Er atmet durch und blickt sich um, er sieht noch einige andere Kirchtürme, es gibt hier mehr Kirchen als Moscheen. Seit wann seine eigenen Vorfahren hier im Grenzgebiet von Türkei und Syrien wohnen, weiß er nicht, mit Sicherheit seit vielen Jahrhunderten. Aber den Christen ging es nicht immer gut in diesem Winkel der Welt. Besonders schlecht geht es ihnen seit Beginn des Jahrhunderts, das weiß Abdulmesih aus eigener Erfahrung und aus den Geschichten, die ihm erzählt wurden. Damals wurden Armenier und Aramäer verfolgt und umgebracht, man machte wenig Unterschied, es genügte, dass es Christen waren. Das war noch im Osmanischen Reich. Und heute, in der Türkei? Die Stadt leert sich von christlichen Familien, sie ziehen weg, um anderswo ein Leben zu finden – und Abdulmesih ist drauf und dran, dasselbe zu tun.

Seine Großeltern hat er nie erlebt. Seine Eltern haben durch Gottes Schutz, durch Glück und das Eingreifen von beherzten Menschen die Verfolgung von 1915 überlebt, wenn auch mit knapper Not. Der kleine Bruder seiner Mutter wird erschossen, als sie ihn auf dem Rücken in Sicherheit bringen will, auch ihr Vater stirbt durch eine Kugel. Sie heißt Sara, nach der Frau Abrahams im Alten Testament. Es gibt viele Witwen und Waisen damals, es herrschen Hunger und Elend, und die Menschlichkeit bleibt auf der Strecke: wenn es ums eigene Überleben geht, ist man mit dem Leben und Eigentum anderer nicht zimperlich. Wie soll man sich und seine Familie ernähren? Später findet Abdulmesihs Vater Davut eine Arbeit in der örtlichen Mehlfabrik – und verliert im offenen Riemenantrieb der Getreidemühle seine linke Hand. So wechseln Glück und Unheil in jenen Tagen. Der Firmenchef bittet ihn, die unzulässigen Arbeitsbedingungen nicht anzuzeigen, und sichert im Gegenzug lebenslange finanzielle Unterstützung zu. Nur ein Jahr lang hält er sich an die Zusage. Dann muss Davut für sich und die Seinen wieder ums Überleben kämpfen, als einarmiger Landwirt mit überschaubarem Ackerland, zwei Ochsen zum Pflügen, einem Lastesel, einer Milchkuh und ein paar Schafen und Ziegen. Sara hilft mit, fängt an, Bienen zu züchten, und verkauft Honig. Die Familie wächst, vier Kinder sind es jetzt, zwei Mädchen, zwei Jungen.

Dann kommt Abdulmesih. Niemand weiß, wann genau. In seinen Ausweispapieren steht als Geburtsdatum der 1. Januar 1937. Aber er selber kann nicht sagen, wie es zu diesem Eintrag gekommen ist, denn er ist falsch. Sara hat nie eine Schule besucht, sie kann nicht lesen und schreiben, und niemand findet es nötig, sich bei der Geburt des jüngsten Sohnes irgendwelche Zahlen zu merken, irgendein Datum festzuhalten, das ohnehin niemand genau kennt. Aber eines weiß Sara: Das Jahr von Abdulmesihs Geburt ragt aus dem sonst so gleichförmigen Reigen der arbeits- und entbehrungsreichen Jahre heraus als jenes Jahr, in dem der große »Vater der Türken« stirbt, Kemal Atatürk. Das ist 1938. In diesem Jahr ist Abdulmesih geboren. Aber an welchem Tag, in welchem Monat? Niemand weiß es. Und wann feiert er nun also seine Geburtstage? Nach dem, was im Ausweis steht, Januar 37, wonach sonst, auch wenn alle wissen, dass es nicht stimmt. Was sind schon Zahlen gegen das Glück, jedes Jahr aufs Neue am Leben zu sein?

Kurz nach Abdulmesihs Geburt heiratet seine älteste Schwester – Mädchen heiraten jung in jenen Tagen, nach offiziellem Gesetz noch minderjährig –, und die Familie zählt jetzt sechs Personen, die ernährt werden müssen. Die Landwirtschaft wird weiterbetrieben, auch im Krieg, der im Jahr nach Abdulmesihs Geburt ausbricht, bis zum Jahre 42. Dann kommt der große Hunger. Er fällt nicht vom Himmel als biblische Plage wie Trockenheit, Überschwemmung, Heuschrecken. Dieser Hunger ist menschengemacht. Die türkische Regierung beschlagnahmt sämtliches Getreide und liefert es an die verbündeten Deutschen.

Der vierjährige Abdulmesih steht abends mit einer Tante aus der Nachbarschaft draußen und schaut dem groß untergehenden Sonnenball zu. Der ganze westliche Himmel ist so schön in Rot und Orange getaucht.

»Schau«, sagt er, »der liebe Gott zieht rote Kleider an und bringt uns Brot.«

»Ich hoffe«, sagt die Tante, »er bringt auch meiner Familie welches.«

»Nein«, sagt Abdulmesih,» das ist unser Brot.«

Die Tante lacht und weint gleichzeitig.

Auch die Eltern weinen vor Verzweiflung, sie wissen nicht, wie es weitergehen soll. Sie sehen, wie die Kinder mager werden, auch sie weinen, sind müde und haben Bauchweh. Wenn Davut morgens sein Hemd auszieht, um sich am Trog zu waschen, wagt er nicht, seinen eigenen Körper anzuschauen, und niemand soll zusehen.

Nächte- und tagelang ziehen die Eltern durch den Wald und sammeln Eicheln, vom Baum oder vom Boden, jede einzelne kann Leben retten. Die Eicheln werden gewässert, bis die braune Schale weich ist, dann wird sie abgezogen. Die Eicheln werden in der Sonne getrocknet und in einer kleinen Handmühle gemahlen – für Eichelbrot. Dazu gibt es Trauben, ja, Gott hat die Menschen nicht ganz vergessen und schenkt in der Hungersnot wenigstens eine reiche Traubenernte. Das ergibt stärkenden Saft, und weil Not erfinderisch macht, ersinnt Sara allerlei Traubenspezialitäten. Und sie dankt ihrem Gott, dass kein Mangel an Wasser herrscht. Abdulmesih trinkt Traubensaft und Wasser und vermisst die Muttermilch, die ihn noch als Dreijährigen genährt hat, die süße, warme mütterliche Milch, deren Quelle jetzt versiegt ist.

Im selben Jahr flieht Abdulmesihs ältester Bruder Safar über die nahe Grenze nach Syrien. Er flieht vor dem Hunger und vor der Einberufung zum türkischen Militär. Er wird nicht mehr zurückkehren, sondern dort heiraten und ein Auskommen finden.

Jetzt kommt Abdulmesih in die Schule, mit sechs Jahren, dem Ausweis nach mit sieben. Zum Schulbeginn näht Mutter Sara ihrem Jüngsten eine Stofftasche zum Umhängen, Vater Davut kauft ihm ein Heft und einen Bleistift. So etwas hat Abdulmesih noch nie besessen, Heft und Bleistift sind sein ganzer Stolz. Jetzt ist er ein Schüler! Beides wird mit Sorgfalt in die Tasche gesteckt, die er sich um den Hals hängt. So geht es zum ersten Schultag. Aber – was sprechen die da, diese Lehrer? Er versteht kein einziges Wort. Das ist Türkisch. Abdulmesih kann nur sein Aramäisch, die Sprache der Vorfahren.

Sportunterricht geht zum Glück auch ohne Worte – Rennen, Turnen, Hüpfen, das kennt jedes Kind, Abdulmesih ist begeistert dabei, es ist schön und lustig, und man versteht sich problemlos mit allen.

Doch dann das schreckliche Erwachen: Beim Hüpfen hat er die Tasche umbehalten, und jetzt fehlt der kostbare Bleistift! Bleistifte wachsen nicht am Straßenrand, der Vater ist den Stift extra kaufen gegangen und hat dafür Geld bezahlt, Geld, das nicht leicht zu verdienen ist, schon gar nicht mit einem Arm. Abdulmesih ist verzweifelt, läuft herum, sucht, weint, aber der Stift ist weg. Der Lehrer sieht den weinenden Jungen.

»Warum weinst du, mein Kind?« fragt er, aber auf Türkisch, er kann nichts anderes.

Abdulmesih weint noch mehr. Er fühlt sich allein, keiner versteht ihn, keiner kann ihm helfen, und seinem Vater, der ihn verstehen würde, darf er den Verlust des Stiftes nicht melden. Aber er ist nicht allein, er ist nicht der einzige Aramäer hier. Man verdolmetscht dem Lehrer den Kummer des Kindes.

»Ah«, sagt der Lehrer, strahlt und legt die Hände zusammen,» der Bleistift, du hast deinen Bleistift verloren! Nun komm, mein armes Kind, du musst nicht mehr weinen, schau: Hier schenke ich dir einen anderen, pass gut darauf auf.«

Die Worte hat Abdulmesih nicht verstanden, aber den Lehrer hat er genau verstanden. Dieser gute fremde Mann rettet ihn aus einer großen Verzweiflung. Niemals in seinem Leben wird Abdulmesih vergessen, was so ein Bleistift gekostet hat.

Türkisch lernt Abdulmesih in der Schule, außerdem Rechnen und türkisch-islamische Geschichte. Die aramäisch-christliche Geschichte lernt er in der Kirchenschule, auch die aramäische Schrift und die Sprache der Liturgie. Jeden Sonntag besucht er mit seinem Vater den Gottesdienst und dient als Ministrant. Und er begreift immer mehr, dass er Teil einer alten, ehrwürdigen Tradition ist. Nicht jeder hat daran Anteil, es ist ein Privileg. Dass die anderen Türkisch sprechen und denken, er hingegen Aramäisch, dass die anderen freitags in die Moschee gehen, er aber sonntags in die Kirche, all das ist kein Zufall oder Missgeschick, sondern genau das macht seine Besonderheit aus und ist seine ureigene Kraft. Trotzdem ist niemals Gegnerschaft zwischen ihm und den anderen. Und selbst wenn es seine Feinde wären: Menschen sind sie alle, und die gilt es zu lieben, wie es der Herr gesagt hat. Abdulmesih lernt die türkische und die aramäische Welt kennen und lernt, in beiden mit Selbstverständlichkeit zu leben – fünf Schuljahre lang. Dann endet die Schule, die einzige, die er jemals besucht. Wenn man ihn fragen würde: ›Abdulmesih, was hast du in der Schule gelernt?‹, er würde vielleicht antworten: ›Wer ich bin.‹

Man schreibt das Jahr 49, er ist jetzt elf, offiziell zwölf, und hat gute Abschlussnoten.

»Und was beginnst du jetzt, Abdulmesih?« fragt ihn der immer noch freundliche Lehrer.

Ja, was soll er beginnen? Weit und breit gibt es keine Berufsschule, wo er eine Ausbildung machen könnte. Aber Abdulmesih ist um keine Lösung verlegen, denn er kann praktisch denken, das hat er von den Eltern gelernt.

»Herr Lehrer«, sagt er stolz, »ich beginne etwas, das immer und überall gebraucht wird!«

Der Lehrer kneift die Augen zusammen und schaut in die Luft. »Hm, was immer und überall gebraucht wird…«

»Schreiner!« ruft Abdulmesih.

»Es stimmt«, sagt der Lehrer, »du hast ganz recht, mein Junge. Häuser, Möbel, Holzgeräte, die gibt es auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten. Das ist ein gutes Beginnen, Abdulmesih.«

Abdulmesih geht bei einem Schreiner in die Lehre, privat, und zieht drei Jahre lang als Bauschreiner über die Dörfer. Wie froh und stolz er ist, dass er jetzt eigenes Geld verdient mit seiner eigenen Hände Arbeit, Geld, mit dem er der Familie endlich helfen kann.

Abdulmesih feiert den fünfzehnten Geburtstag, und das Jahr 1952 beginnt. Er hat immer zu tun, er kann nicht klagen, aber insgeheim denkt er an verlässlichere Einkünfte. Wie kann alles regelmäßiger werden? Eines Tages, als er nach Hause kommt, findet er alle in freudiger Aufregung: Der älteste Bruder Safar, an den Abdulmesih sich nur ganz undeutlich und kindhaft erinnern kann, hat aus Syrien geschrieben.

»Was schreibt er denn?«

Er schreibt, es gehe ihm und seiner Familie sehr gut, er vermisse zwar immer noch die alte Heimat und ihre Menschen, habe sich aber in Syrien in der Grenzstadt Qamishli eine schöne und sichere Existenz aufgebaut: Er führt ein Bauunternehmen.

»Mein kleiner Bruder Abdulmesih«, schreibt er außerdem, »ist doch Schreiner geworden. Fragt ihn doch einmal, ob er nicht zu mir kommen will und in meiner Firma arbeiten. Er könnte hier gutes Geld verdienen, Geld, das dreieinhalb mal so viel wert ist wie in der Heimat!«

Abdulmesih fährt eine Art Schreck in die Glieder, halb vor Glück und halb vor Angst: oh ja, gutes Geld verdienen! Aber die Heimat verlassen? Er schreibt seinem Bruder und fragt ihn, ob es möglich ist, dass er nur saisonal arbeitet.

»Natürlich«, antwortet Safar, »du kommst im Sommer hierher, und im Winter, wenn wenig los ist, gehst du mit deinem schönen Verdienst zurück in die Türkei. Abgemacht?«

Damit ist Abdulmesih höchst einverstanden, die Sache hat nur einen kleinen Haken: Sie ist illegal. Er braucht einen Schleuser, der ihn gegen Entgelt über die Grenze schmuggelt. Diese Art von Grenzverkehr kann er sich leisten, weil er mit dem guten syrischen Verdienst rechnen kann. In Midyat, das rund 60 Kilometer von der Grenze entfernt liegt, gibt es mehr als einen, der mit dem Schmuggeln von Menschen sein Brot verdient. Abdulmesih findet also ohne Schwierigkeiten einen Schleuser. Das ist ein leutseliger, etwas vierschrötiger Mann mit einer Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, der gerne Scherze macht und ständig raucht. Er ist durch Erfahrung gewitzigt und kennt die richtigen Orte und Zeitpunkte und die nötigen Leute. Stets wirkt er, als habe er alles schon erlebt und nichts mache ihm Kummer. Dieser Schleuser erläutert Abdulmesih das Verfahren:

»Ich selbst bringe dich bis zur Grenze. Dort nimmt dich dann ein syrischer Freund von mir in Empfang.«

»Ein Freund?«

»Sicher, ein Freund«, sagt der Schleuser, bläst Rauch aus und lacht heiser, »der genau wie ich gern Menschen zur Grenze begleitet, du verstehst. Und dieser Freund bringt dich dann zu deinem Bruder.«

»Verstehe. Und auf dem Rückweg am Ende des Sommers…«

»Machen wir’s dann genau umgekehrt. Ganz einfach.«

Es klingt wirklich ganz einfach, aber die Sache macht ihn trotzdem unruhig, das merkt Abdulmesih, als die beiden schon am nächsten Tag in Richtung Syrien aufbrechen. Eine Grenze ist immerhin eine Grenze, sie wird bewacht und sie heimlich zu übertreten ist verboten. Er wird nervös und stellt unterwegs dem Schleuser immer wieder besorgte Fragen, aber der lacht nur und winkt ab.

Am Abend gelangen die beiden an die Grenze. Im Schatten der Nacht und in aller Stille geht es dann hinüber. Der Schleuser macht in diesen Augenblicken einen hochkonzentrierten und hellwachen Eindruck, er raucht auch nicht. Da! Wer taucht dort aus dem Dunkel auf? Es ist der syrische Schleuser-Kollege, man grüßt und verabschiedet sich kurz und stumm, und schon geht es weiter. Alles geht glatt, und als es vorbei ist, fühlt Abdulmesih sich ganz beschwingt. Seine Aufregung kommt ihm fast kindisch vor, denn zu keinem Zeitpunkt hat er irgendeine Gefahr wahrgenommen.

Im Morgengrauen erreichen er und der Syrer Safars Haus in Qamishli. Der Mann bekommt sein Geld und verabschiedet sich scherzend, indem er die Hand soldatenhaft an die Stirn hebt.

In Safars Haus gibt es ein großes Hallo. Umarmungen, Küsse, Tränen, Freudenrufe und wieder Küsse.

»Mein Gott«, ruft Safar, »wie lange ist es her, dass wir uns zuletzt gesehen haben! Ich erkenne dich kaum wieder, Mesih, du bist schon fast ein Mann!«

»Und ich war noch so klein, dass ich mich kaum an dich erinnere.«

»Ja, es ist schlimm, was die schlimmen Zeiten mit uns machen. Aber jetzt danken wir Gott, dass er uns das Leben erhalten und uns heute wieder zusammengeführt hat.«

Abdulmesih lernt seine Schwägerin Atija kennen, die aus Mardin stammt, und die Kinder der beiden: eine richtige Familie! Er freut sich sehr, lacht, erzählt und scherzt, aber er denkt auch mit leiser Traurigkeit an die getrennten Jahre, die nicht wieder eingeholt werden können.

Man bewirtet ihn mit Gebäck und Anisschnaps, wie in der Heimat, und Abdulmesih genießt es, mit seinem Bruder Aramäisch zu reden.

»Kannst du schon Arabisch?« fragt Safar.

»Ein wenig.«

»Na, das lernst du hier schnell. Im Betrieb gibt es auch Türken, du wirst gut zurechtkommen. Aber nicht sofort, jetzt machst du erst mal ein paar Tage Urlaub, lernst meine Familie und die Umgebung kennen und erholst dich von der ausgestandenen Gefahr.«

»Es war gar nicht gefährlich«, sagt Abdulmesih leichthin.

Da wird Safar ernst. »Du!« sagt er mit Nachdruck und hebt die Augenbrauen. »Nimm das nicht zu leicht. Nur weil es Nacht ist und du die Gefahr nicht sehen kannst, heißt das nicht, dass sie nicht da ist.«

Am Abend liegt Abdulmesih wach im Bett und denkt nach, er kann noch nicht schlafen. Das Haus seines Bruders ist groß und modern, und man merkt, dass er Geld hat. Auch das Bett ist groß und sehr bequem. Es flößt Abdulmesih Bewunderung ein, dass er das alles, von dem er bisher nur aus Briefen gewusst hat, jetzt tatsächlich zu Gesicht bekommt. Sein großer Bruder hat es zu Wohlstand gebracht, das ist klar zu erkennen, und zwar durch Mut und Willen und seiner Hände Arbeit. Abdulmesih atmet durch, gleitet langsam in ein halbes Dämmern hinüber, in dem Vergangenes und Zukünftiges in schattenhaften Gestalten und Bildern durcheinanderflirren, und schläft schließlich ein.