Günter Huth

Der Schoppenfetzer
und die Satansrebe

Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Von Beruf ist er Rechtspfleger (Fachjurist). Günter Huth ist verheiratet und hat drei Kinder.

Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Kurzerzählungen. In den letzten Jahren hat sich Günter Huth vermehrt dem Genre »Krimi« zugewandt und bereits einige Kriminalerzählungen veröffentlicht. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburgkrimi. Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung Das Syndikat.

Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Günter Huth

Der Schoppenfetzer und die Satansrebe

Der zehnte Fall des Würzburger
Weingenießers Erich Rottmann

Buchverlag
Peter Hellmund
im Echter Verlag

Würzburg im Jahr 1525

Der Bauernaufstand wird durch die Hilfstruppen des Fürstbischofs blutig niedergeschlagen. Ungefähr 8000 Bauern verlieren an den Hängen der Festung Marienberg ihr Leben. Alle Rädelsführer werden hingerichtet oder in Kerkerhaft genommen, darunter auch die Ratsherren der Stadt, die mit den Bauern gemeinsame Sache machten. Unter ihnen befindet sich auch der bekannte Bildhauer Tilman Riemenschneider.

Das Kellerverlies, in das die beiden Kerkerknechte den erschöpften Mann schleppen, ist nicht ganz so düster wie die langen Gänge, durch die er gezerrt worden ist. Er spürt die Hitze auf seinem Gesicht, die von einer Art Esse ausgeht, in der Holzkohlen glühen. Auf den ersten Blick könnte der Keller auch eine Schmiede sein. Aber das Feuer ist nicht dafür bestimmt, Eisen auf dem Amboss formbar zu machen oder Menschen Wärme zu spenden – dies ist die Glut der Hölle. An den Wänden des Kellers hängen zahlreiche Werkzeuge, die bei genauem Hinsehen schnell ihre einzige Bestimmung verraten: Menschen unaussprechliche Qualen zu bereiten.

Fünf Männer erwarten den Gefangenen. Der Gerichtsschreiber, der mit gespitzter Feder hinter einem eichenen Pult steht, blickt dem Delinquenten mit gleichgültiger Miene entgegen. Dieser ist nicht zum ersten Mal in diesem Raum, dessen aus Kalkstein gemauerte Wände vom Ruß der in eisernen Halterungen steckenden Pechfackeln geschwärzt sind.

Auf ein Zeichen des Scharfrichters hin packen zwei der Gesellen den Mann, dessen zerrissene und schmutzige Kleidung davon kündet, dass er sich schon seit längerer Zeit in Kerkerhaft befindet. Er zeigt keinerlei Gegenwehr, als die Männer ihm die Kleidung grob vom Körper reißen.

Der Schreiber sieht auf seine Papiere. „Meister Til, dies ist nun die vierte peinliche Befragung, derer Ihr Euch unterziehen müsst. Zu Beginn wieder die Frage: Seid Ihr nunmehr bereit, Eure Führerschaft beim Aufstand der Bauern gegen unseren hochwürdigen Herrn Fürstbischof zu gestehen? Ihr könntet Euch weitere Torturen ersparen, indem Ihr Eure Schandtaten zugebt. Wenn Ihr Euch weiterhin verstockt zeigt, wird der Scharfrichter das Verhör mit härteren Mitteln fortsetzen.“ Er weist mit dem Finger auf den Henker, der mit vor der Brust verschränkten Armen im Raum steht und den Gefangenen mit grimmiger Miene mustert.

Dieser gibt ein leises Schluchzen von sich, dann schüttelt er jedoch entschieden den Kopf.

Der Schreiber macht sich eine Notiz, dann erklärt er mit emotionsloser Stimme: „Scharfrichter, waltet Eures Amtes.“

Auf einen Wink des Henkers zerren die beiden Knechte den Gefangenen zur Streckbank an der Längsseite des Kerkers.

„Setzt den gespickten Hasen ein!“, befiehlt der Henker knapp. Einer der Knechte holt eine hölzerne Rolle von einem Regal, durch die der Länge nach ein eiserner Stab als Achse hindurchführt. Wie die Rolle zu ihrer ungewöhnlichen Bezeichnung kam, war offensichtlich, denn sie ist gleichmäßig mit langen spitzen Nägeln gespickt. Der Folterknecht fügt die Rolle in eine entsprechende Aussparung in der Streckbank ein. Er kontrolliert, ob sie sich auch leicht drehen lässt, dann packt er den Gefangenen von hinten an den Schultern, während der andere das gleiche an den Beinen macht. Sekunden später liegt der Inhaftierte auf der Streckbank und die Nagelspitzen des gespickten Hasen dringen tief in seinen Rücken. Während die Folterknechte seine Füße und Arme an der Streckvorrichtung der Folterbank festbinden, hallen die Schmerzensschreie des gequälten Mannes von den Wänden des Folterkellers wider. Anschließend tritt der Henker an das seitlich befestigte Rad, mit dem man die Riemen, die an den Handgelenken des Mannes befestigt sind, aufrollen und dadurch eine Streckung des ganzen Körpers erreichen kann – für sich allein schon eine äußerst schmerzhafte Tortur, die durch die Nagelrolle nochmals verstärkt wird.

Der Scharfrichter wirft dem Schreiber einen fragenden Blick zu. Dieser wendet sich an den Gefangenen: „Meister Til, Ihr solltet Euch die Schmerzen durch ein Geständnis ersparen. Es ist ganz einfach. Gesteht und Ihr seid erlöst.“

Der Gefangene wirft den Kopf in heftiger Verneinung von einer Seite auf die andere, woraufhin der Schreiber dem Henker ein Zeichen gibt, das Rad zu drehen. Die Schreie des Mannes steigern sich zu einem unmenschlichen Brüllen.

Margarete fuhr erschrocken aus dem Tiefschlaf hoch. Noch immer hallte in ihren Ohren der Schrei, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Es dauerte einen Augenblick, ehe sie in die Wirklichkeit zurückfand. Sie setzte sich im Ehebett auf und warf einen besorgten Blick hinüber zu ihrem Mann, der sich unruhig im Bett wälzte und dessen Arme krampfartig zuckten.

Sie legte ihre Hand sanft auf seinen Brustkorb und rüttelte ihn leicht. Sein Nachthemd war völlig nassgeschwitzt. „Til, wach auf!“, sagte sie leise. Sie musste ihre Worte mehrfach wiederholen, ehe Tilman Riemenschneider mühsam aus seinem schlimmen Albtraum erwachte.

„Es war nur ein Traum“, flüsterte sie ihm ins Ohr und drückte seinen Kopf gegen ihre Brust. „Es ist ja alles gut.“ Sanft wiegte sie ihn in ihren Armen.

Tilman Riemenschneider, der bekannte Würzburger Holzschnitzer und Bildhauer, wurde seit dem Tag vor einem Dreivierteljahr, als er aus der fürstbischöflichen Kerkerhaft entlassen worden war, beinahe täglich von derartig schlimmen Träumen gequält. Es hatte Wochen gedauert, bis es Margarete und dem Wundarzt gelungen war, die körperlichen Wunden und Verletzungen der Folter halbwegs zu heilen. Manche Folgen der Verhöre würden wohl nie mehr verschwinden. Man hatte ihm mehrfach die Schultergelenke ausgerenkt. Noch immer hatte er Schwierigkeiten, sich allein anzukleiden. Unermesslich waren die seelischen Verletzungen. Margarete konnte nur ahnen, was ihr Mann hatte erleiden müssen. Er selbst sprach nicht darüber.

Für sie zählte nur, dass der Fürstbischof dem Mann, dessen vierte Ehefrau sie war, das Leben geschenkt hatte. Dafür hatte er zur Strafe den Großteil seines Vermögens und seiner Ländereien verloren. Die meisten Gesellen seiner einstmals florierenden Werkstatt hatte er entlassen müssen. Und auch das Hausgesinde mussten sie bis auf zwei Mägde reduzieren.

Mit dem Ärmel ihres Nachthemdes wischte Margarete ihm den Schweiß aus dem Gesicht.

„Danke“, murmelte er leise und löste sich aus ihrer Umarmung. Schwerfällig erhob er sich und setzte sich auf den Bettrand.

„Wo willst du hin?“, fragte Margarete besorgt.

„Schlaf weiter“, gab er knapp zurück. „Ich muss einen Schluck trinken. Ich habe einen trockenen Mund.“ Mit einer langsamen Bewegung strich er sich die langen gelockten Haare aus dem Gesicht, dann griff er zu seinen Beinkleidern.

„Warte, ich helfe dir“, sagte Margarete und machte Anstalten, das Bett zu verlassen.

„Lass“, gab er fast barsch zurück. Sie wusste, wie sehr er es hasste, seine Gebrechlichkeit vor Augen geführt zu bekommen. Bedrückt blieb sie liegen. Es war für sie nur schwer zu ertragen, dass er nach diesen Träumen von Schlaflosigkeit gequält wurde, die ihn hinunter in seine Werkstatt trieb, wo er dann bis zum Tagesanbruch saß und seine Werkzeuge anstarrte, die er einst so meisterlich zu führen gewusst hatte.

Tilman Riemenschneider verließ das Schlafgemach und tastete sich durch das dunkle Haus in die Küche. An der Glut des Küchenherdes entzündete er einen Kienspan und damit die Kerzen eines Leuchters. Langsam tappte er hinunter in das Kellergewölbe seines Hauses, in dem sich seine private Werkstatt befand. Die große Werkstatt, in der bis vor noch nicht allzu langer Zeit zahlreiche Gesellen gearbeitet hatten, befand sich in einem Anbau des Hofes zum Wolfmannsziechlein in der Franziskanergasse, wo er einstmals als leuchtender Stern am Firmament der bildenden Künste in Würzburg und Umgebung gestrahlt hatte.

Er stellte den Leuchter auf einen Tisch und ließ sich auf einen Hocker nieder. Aus einem Krug schenkte er sich Wein in einen Becher ein und nahm einen Schluck. Der Lichtschein fiel auf die Werkzeuge, die ordentlich an der Wand aufgehängt waren. In eine Werkbank eingespannt, befand sich ein Block aus Lindenholz, der bereits Spuren einer Bearbeitung zeigte. Vorsichtig fuhren seine Finger über das Holz. Monate war es her, dass er einen Stichel und einen Schlegel in der Hand gehalten hatte. Er nahm einen weiteren Schluck.

Um das Jahr 1500 hatte er als Künstler in der näheren Umgebung von Würzburg einen hervorragenden Ruf erlangt und war zu einem wohlhabenden und angesehenen Bürger aufgestiegen. Die Aufträge waren reichlich gekommen, so dass er sie kaum hatte bewältigen können. Er hatte in Würzburg mehrere Häuser besessen, reichlich Grundbesitz mit eigenen Weinbergen und eine florierende Werkstatt. Als er 1504 in den Rat der Stadt Würzburg berufen worden war, befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Durch diese öffentlichen Ämter und die Privilegien als Ratsherr, die er zwanzig Jahre lang genoss, hatte er nicht nur sein gesellschaftliches Ansehen gemehrt, sondern auch viele große und lukrative Aufträge bekommen. Von 1520 bis 1524 hatte er sogar das Amt des Bürgermeisters der Stadt inne.

Das Übel und sein Niedergang hatten begonnen, als in den zwanziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts auch in Würzburg die Reformation Einzug gehalten hatte.

Der Fürstbischof residierte hoch über der Stadt in der Feste Marienberg und führte ein strenges Regiment gegen alle aufwieglerischen Entwicklungen. Zu jener Zeit hatte der Rat der Stadt mit zunehmender Tendenz immer wieder im Zwist mit dem mächtigen Herrn gelegen. Die Situation war außer Kontrolle geraten, als sich 1525 aufständische Bauern vor der Stadt versammelt hatten, gegen den Fürstbischof ins Feld gezogen waren und dieser schließlich fliehen musste. Die Würzburger Bürger hatten sich mit den Bauern verbündet, aber mit diesen eine schreckliche Niederlage erlitten, als das Bauernheer in einer großen Schlacht vernichtet wurde. Die Erde des Schlachtfelds war vom Blut der getöteten Bauern getränkt worden. Die Truppen des Fürstbischofs hatten die Stadt angegriffen und zurückerobert. Der Fürstbischof hatte grausames Gericht unter den Bürgern gehalten und deren vollständige Unterwerfung gefordert. Auch die beteiligten Ratsherren waren eingekerkert und teilweise grausam bestraft worden.

So war auch Tilman Riemenschneider in Haft geraten und gerichtet worden. Zwar war er mit dem Leben davongekommen, hatte aber große Teile seines Hab und Guts verloren – und auch seinen guten Ruf als Künstler. Seine meist kirchlichen Auftraggeber hatten ihn links liegen lassen und so dafür gesorgt, dass er immer mehr in Vergessenheit geraten war.

Tilman Riemenschneider erhob sich schwerfällig und ging in die Ecke seiner Werkstatt, wo sich das Steinlager befand. Der hochgewachsene Mann ging dabei so gebeugt, als müsse er eine schwer Last auf seinen Schultern tragen. Der gesellschaftliche Absturz hatte seine Seele zerstört. Freunde, die einstmals gern seine Gesellschaft gesucht und seine Gastfreundschaft genossen hatten, mieden ihn und sein Haus.

Riemenschneider war ein gläubiger Mensch gewesen. Die Folgen seiner Haft und seiner Bestrafung hatten jedoch seine Gesinnung gewandelt. Was der hohe Herr auf der Festung im Namen Gottes für Grausamkeiten an den Bauern, den Menschen der Stadt und letztlich auch an ihm begangen hatte, war einfach nicht zu verzeihen.

Tilman Riemenschneider betrachtete die Steine, die in verschiedenen Größen vorrätig waren. Er entschied sich schließlich für eine kleine Tafel aus Kalkstein, die ihm für seine Zwecke geeignet erschien.

Er setzte sich wieder auf seinen Hocker und vertiefte sich in die Maserungen der Steintafel. Er wollte ein letztes Werk schaffen, das er jenen widmen würde, die an seinem Unglück Schuld trugen. Kein Werk der Liebe und der Verehrung Gottes, wie es immer seine Motivation gewesen war. Nein, in diese Arbeit wollte er all den Hass und den Zorn hineinlegen, den er tief in seinem Inneren empfand. Er wollte ein Werk schaffen, das den Fluch verkörpert, mit dem er Tag und Nacht in seinen schmerzerfüllten, schlaflosen Nächten die verhasste Obrigkeit auf dem Marienberg belegte.

Meister Til spannte die Steintafel in eine Werkbank ein, dann suchte er sorgfältig einen geeigneten Meißel aus. In seinem Kopf war schon seit Tagen ein Bild herangereift, das er nun zu realisieren gedachte. Dies sollte seine letzte Bildhauerarbeit werden. Mit steifen Fingern führte er die ersten Schläge mit dem Holzschlägel aus. Niemand würde dieses Werk vor seinem Tod zu Gesicht bekommen.