Inhalt

Heft 3 | Juli-September

Jahrgang 91 | Nr. 488

Notiz

Gott verloren?

Bernhard Körner

Nachfolge

Zorn, Zorn und Zorn

Klaus Mertes SJ

Jesus und die Familie nach dem Johannesevangelium

Johannes Beutler SJ

Befreit von allem.
Mystik und Emanzipation bei Gertrud von Ortenberg

Siegfried Ringler

Yves de Montcheuil SJ.
Theologe des Engagements

Markus Kneer

Nachfolge | Kirche

Gespräch zwischen Himmel und Erde. Das Psalmengebet in der Sicht der frühen Christen

Christiana Reemts OSB

Was ist ein geistlicher Prozess?
Erfahrungen und grundsätzliche Überlegungen

Franz Meures SJ

Nachfolge | Junge Theologie

Das Evangelium in neuer Frische leben. Die Fraternité de Tibériade

Anselm Demattio

Reflexion

„Sei du dein, und ich werde dein sein“. Nikolaus von Kues als Mystagoge

Heribert Wahl

Erneuerung aus der Vergangenheit. Gotteserfahrung in der Russischen Moderne

Johannes M. Oravecz

Der Heilige Geist.
Zu Gast im eigenen Haus

Hans Schaller SJ

Lektüre

Das Gebet von Arbeitern (Teil I)

Michel de Certeau SJ

Hilfreiche Orientierung.
The Cambridge Encyclopedia of the Jesuits

Jörg Nies SJ

Buchbesprechungen

Bernhard Körner | Graz

geb. 1949, Dr. theol., Prof. em. für Dogmatik
an der Katholisch-Theologischen Fakultät Graz,
Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

bernhard.koerner@uni-graz.at

Gott verloren?

„Jedes Mal, wenn die Menschheit ein Denksystem aufgibt, meint sie Gott zu verlieren.“ Mit diesen Worten beginnt der Jesuitentheologe Henri de Lubac (1896–1991) das letzte Kapitel seines Buches Auf den Wegen Gottes. Wie er selbst erklärt, war es seine Absicht, mit diesem Buch „einigen Menschen auf der Suche nach ihrem Gott eine brüderliche Hand zu reichen“. „Jedes Mal, wenn die Menschheit ein Denksystem aufgibt, meint sie Gott zu verlieren.“ Nicht zuletzt dieser Satz lässt ahnen, dass das Buch immer noch aktuell ist. Auch für die, die sich Gottes sicher sind, und die, die sich und anderen über ihren Glauben an Gott Rechenschaft ablegen wollen. Der Satz beschreibt eine bedrängende Wirklichkeit: den Eindruck, Gott geht mir (oder uns) verloren. Dass die Konturen Gottes verschwimmen. Dass Gott im Leben und Denken ortlos wird. Dass der Glaube an ihn – wie es einmal Karl Rahner formuliert hat – wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt. Und je mehr man ihn festhalten möchte, umso schneller verschwindet er. Am Ende, ob man es will oder nicht, steht ein Leben ohne Gott. Gott-los. Henri de Lubac spricht von der Menschheit, von einer epochalen Möglichkeit. Aber eingeschlossen ist auch die persönliche Möglichkeit, Gott zu verlieren.

Was de Lubac beschreibt, ist aber keine Sackgasse. Eingeschlossen in seine Feststellung ist auch die Richtungsangabe für einen Aus-Weg. Der Eindruck, dass Gott verloren geht, entsteht, wenn ein Denksystem aufgegeben wird oder werden muss. Mit dem Stichwort „Denksystem“ deutet er an: Immer wenn wir den Glauben an Gott verstehen wollen und zur Sprache bringen, geschieht das innerhalb unserer Denkkoordinaten, mit unserem Wissen, unseren Kategorien, unserer Sprache – mit unserem Denksystem. Die Gesellschaft und die Kultur, in die wir hineingeboren sind, und unsere eigene Lebensgeschichte prägen das Denken, mit dem wir nicht zuletzt im Sprechen oder Schweigen zum Ausdruck bringen, was wir meinen, wenn wir von Gott oder dem Glauben an ihn sprechen. Das aber heißt auch: Gott und unser Gott-Denken sind zwei verschiedene Dinge. Der Gott, den Menschen zu verlieren meinen, ist immer der innerhalb eines Denksystems gedachte Gott. Oder mit einem anschaulichen Beispiel, das Leon Bloy formuliert hat: Wenn einer aufhört, an seinen hölzernen Gott zu glauben, dann heißt das nicht, dass es keinen Gott gibt, sondern dass er nicht aus Holz ist.

Der Satz von Henri de Lubac eröffnet nicht nur einen Weg, er lädt auch ein, sich zu erinnern. An Brennpunkte in der großen und der persönlichen Geschichte des Glaubens, wo an die Stelle eines alten ein neues Denksystem getreten ist. Und schließlich auch Gott neu gedacht werden musste – und konnte! Vielleicht zum ersten Mal, als die Christen ihren „Gott Abrahams, lsaaks und Jakobs“ in der hellenistischen Kultur zur Sprache bringen mussten – als den göttlichen Urgrund, der freilich im Licht des Glaubens immer mehr zum lebendigen Gott wurde. Zu denken ist aber auch an Thomas von Aquin, der Gott in den Koordinaten der aristotelischen Metaphysik gedacht hat. Und heute ist es das Denksystem der modernen empirischen Wissenschaften, besonders der Naturwissenschaften, das uns prägt. Hier scheinen noch nicht alle Herausforderungen bewältigt. Die engagiert geführten Debatten zu den Themen „Monotheismus“ und „Panentheismus“ belegen es ebenso wie die unverkennbare Anziehungskraft fernöstlicher Gottes-Vorstellungen gerade auch bei spirituell Interessierten. Und schnell entsteht ausgesprochen oder unausgesprochen der Eindruck, dass beim Versuch, Gott auf neue Weise zu denken, der persönliche Gott verloren geht. Auf jeden Fall ist eine neue Aktualität der negativen Theologie unverkennbar: Gott, der kein Teil unserer Welt ist, sondern ihr Ursprung. Namenlos anwesendes heiliges Geheimnis – so hat ihn Karl Rahner genannt. Und wichtige Stimmen mahnen zu Recht die Mühe ein, den Gott, an den wir glauben, in unserem Weltbild angemessen zu denken – für uns und andere, denen wir Auskunft schulden.

Aber – so muss man hier wohl fragen – ist nicht auch in manchem heutigen Gott-Denken Gott verlorengegangen? Ist er nicht entschwunden in die Ferne abstraktester Gedanken? Wird dabei nicht die intellektuelle Respektabilität um den Preis religiöser Blutleere erkauft? Wo ist der lebendige und nahe Gott, der „Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“? Freilich darf man an dieser Stelle nicht vorschnell polemisch werden. Schon das ipse esse subsistens, womit Thomas von Aquin Gott metaphysisch gedacht hat, hätte Anlass zu solchen Fragen gegeben. Vielleicht kann man mit einem Vergleich einen Weg bahnen: Wir sprechen von der Sonne und dass sie auf- und untergeht. Und vieles kann in einem solchen Satz mitschwingen. Er ist unverzichtbar und kann nicht einfach durch eine wissenschaftliche Auskunft ersetzt werden, auch wenn wir wissen, dass sich nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde um die Sonne bewegt. Und so kann und darf es neben dem abstrakten Gott-Denken innerhalb eines heutigen Denksystems auch die einfache Sprache des Glaubens geben: „Vater unser im Himmel (…)“. Mit Vertrauen, Dankbarkeit, ja mit Zuneigung gesprochen. Dass Gott immer größer ist als unser philosophisch aufwendiges und unser einfaches Sprechen über ihn, dieses Wissen hält alles zusammen. Und dieser je größere Gott geht nicht verloren.

Klaus Mertes SJ | St. Blasien

geb. 1954
Direktor des Kollegs St. Blasien

klaus.mertes@gmx.de

Zorn, Zorn und Zorn

Ich kenne beides: Meinen eigenen Zorn auf andere Menschen und den Zorn anderer Menschen auf mich. Ein Gott, der erhaben über den zwischen mir und anderen hin- und herwogenden Zorneswellen thront; der den Zorn aus einer unbeteiligten Position heraus moralisiert; ein apathischer Gott ohne inneres Verständnis für Zorn, für die Wucht des Zornes, für seine Größe und auch für seine Würde – ein solcher Gott scheint mir nur eine Projektion aus der Perspektive der Not zu sein, die Zorn für die Person, die solchen erleidet, meist auch noch bedeutet. Ich schließe mich deswegen dem Projekt des Abschiedes vom Zorn Gottes nicht an. Vielmehr setze ich darauf, dass sich Zorn verwandeln lässt in etwas noch Größeres, nämlich Liebe, und dass genau diese Verwandlungskraft göttlich ist.

I.

„Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz.“ Das Nebeneinander von Zorn und Trauer lässt mich aufhorchen. Die Begriffe stehen nicht nur nebeneinander, sondern erhellen sich gegenseitig. Zunächst zur Szene (Mk 3,1–6): Ein Mann mit einer verdorrten Hand sitzt schon seit vielen Jahren am Eingang der Synagoge in Kafarnaum. Da Sabbat ist, sind Fromme in der Synagoge zusammengekommen. Einige von ihnen haben allerdings weniger das Gebet und die Tora-Lesung im Sinn als vielmehr die Frage, ob „er“, also Jesus, den Mann mit der verdorrten Hand trotz des Arbeitsverbotes am Sabbat heilen würde.

Hier wird der erste Anlass zum Zorn deutlich: Die Aufmerksamkeit der „Schriftgelehrten und Pharisäer“ ist strategisch auf die möglichen Regelübertretungen Jesu statt auf das Leiden des Mannes mit der verdorrten Hand gerichtet. Dieser Empathie-Mangel der Aufpasser macht zornig. Überzogene Sündensensibilität bei gleichzeitig unterentwickelter Leidsensibilität sind zwei Seiten einer Medaille. Jesus wird diese Verkehrung der Prioritäten gleich mit der Frage konfrontieren: „Was ist am Sabbat erlaubt, ein Leben zu retten oder es zu vernichten?“ Was ist schlimmer – aus Sensibilität für das Leiden eines Menschen eine (in sich vielleicht durchaus sinnvolle) Regel zu übertreten, oder sich aus Angst vor der Regelübertretung der Empathie zu verschließen? Ich höre in der Frage Jesu Zorn heraus. Er hängt mit der Empathie für das Leid des Mannes am Eingang der Synagoge zusammen. Ich habe kein Problem damit, mir diesen Zorn auch im Einklang mit dem Zorn Gottes vorzustellen, sofern dieser ebenfalls aus der Empathie kommt: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört (…). Ich bin herabgestiegen.“ (Ex 3,7 f.) Empathie ist die Quelle eines Zorns, wie ich ihn schätze. Ich habe ein Problem mit Menschen, die das Leiden anderer kalt lässt. Ich hätte dasselbe Problem auch mit Gott.

Es folgt die Aufforderung Jesu an den Mann mit der verdorrten Hand: „Steh auf und stell dich in die Mitte!“ Damit wird der Blick aller Anwesenden auf den leidenden Menschen gerichtet. Es folgt die Frage Jesu nach der richtigen Priorität zwischen Empathie und Regelkonformität. Sie verhallt unbeantwortet: „Sie aber schwiegen.“ Und dann: „Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz.“ Die Trauer gesellt sich zum Zorn. Warum? Ich meine: wegen des Schweigens. Jesus gerät an eine Grenze, die er nicht überwinden kann. Das steinerne Schweigen richtet sich gegen ihn. Es macht ohnmächtig. Es geht in diesem stummen Kampf der Blicke nicht um Lappalien. Das zeigt der letzte Satz der Perikope: „Da (…) fassten [sie] zusammen (…) den Beschluss, Jesus umzubringen.“

Der Zorn hat also – idealtypisch gesprochen – neben der Empathie mit Leiden (= Empathie-Zorn) eine zweite Quelle: Zorn aus einer Ohnmachtserfahrung heraus (= Ohnmachts-Zorn). Ohnmachts-Zorn kann sich zu Hass steigern, wenn die Ohnmachtssituation nicht konstruktiv bewältigt wird. Hass ist altgewordener Ohnmachts-Zorn (Cicero: ira inveterata), ein Dauerzustand in der menschlichen Seele, mal unter der Asche glimmend, mal plötzlich und unberechenbar auflodernd, im allerschlimmsten Fall kalt und heiß zugleich, planend, racheschmiedend, ideologisch überhöht. Theologisch projiziert, verengt Hass den Blick auf einen „Gott“ hin, dem angeblich nichts wichtiger ist als den/die Sünder(in) zu bestrafen, um vom eigenen Ohnmachts-Zorn herunterzukommen. Ohnmachts-Zorn überlagert Empathie-Zorn: Die Fähigkeit zur Empathie geht verloren. Die andere Person, die andere Gruppe, die andere Nation, die andere Konfession verliert ihren Anspruch auf Empathie. So kann man dann im Namen angeblicher Gerechtigkeit, im Namen der eigenen Nation oder Konfessionen schrecklichste Gräueltaten vollbringen, dabei vollkommen kalt bleiben und „Gott“ in seinem Rücken wähnen.

Wer unter der Wucht von Ohnmachts-Zorn leidet, steht in der Versuchung zur Verhärtung und zur Gewalt. Hierhin gehört die Warnung des Psalmes: „Erschreckt und sündigt nicht!“ (Ps 4,5) Doch die Warnung allein hilft der zornig-traurigen Person nicht. Wer unter Ohnmachts-Zorn leidet, bedarf auch der Empathie. Einfühlung, Begleitung und guter Rat sind nötig, um konstruktive Wege aus den Ohnmachtsgefühlen und auch aus der Ohnmachtsituation zu finden. Auch ein allgemeines Gewaltverbot allein reicht nicht, zumal wenn es aus den unbeteiligten Höhen des Besserwissens kommt. Das Evangelium kennt Szenen, in denen mit der Nähe zur Ohnmachtssituation die Versuchung zur Gewalt nicht nur ganz nahe herankommt, sondern auch ganz nahe herangelassen wird. Jesus fordert seine Jünger auf, sich Schwerter zu besorgen (vgl. Lk 22,36). Irgendwoher mussten „seine Begleiter“ ja Schwerter gehabt haben, als einer von ihnen am Ölberg dem Diener des Hohepriesters ein Ohr abschlug (vgl. Lk 22,49 f.).

II.

In der Synagoge von Kafarnaum wird steinernes Schweigen hörbar: „Sie aber schwiegen.“ Hinter der Schweigemauer bereiten sich Mordpläne vor. Wie kommt es zu diesem Zorn hinter der Mauer, zum gesenkten Blick, der die nackte Wut verbirgt? Empathie-Zorn spielt dabei keine Rolle, zumal die „Pharisäer und Schriftgelehrten“ ohnehin keine Empathie mit dem Leiden des Mannes am Eingang der Synagoge zeigen. Ohnmachts-Zorn ist eher das Problem Jesu, der mit dem Kopf vor die steinerne Wand des Schweigens stößt. Ich denke, die stumme Wut kommt aus dem eigenen Kränkungsschmerz. Der Schmerz der Aufpasser besteht darin, dass Jesus ihre Position der Aufpasser nicht respektiert, ihre Prioritätensetzung zugunsten der Regelfrömmigkeit konfrontiert und damit auch einen eigenen Machtanspruch stellt, der sie zu entthronen droht. Das tut weh, denn es stellt das Selbstverständnis der so „Bedrohten“ in Frage.

Der Zorn auf Jesus gründet also in narzisstischen Interessen, an denen gerüttelt wird. Ich nenne ihn deswegen Ego-Zorn. In ihm vollzieht sich die Verwechslung eigenen Kränkungsschmerzes mit dem Leid von Gewaltopfern. Jesus übt zwar keineswegs Gewalt gegen die Aufpasser aus, wenn er sie in der Synagoge mit ihrer Denkungsart konfrontiert. Doch sie erleben die Herausforderung als Gewalt, weil sie ihnen weh tut – und sehen sich deswegen als Opfer. Aber nicht alles, was weh tut, ist schon Gewalt. Dass gilt auch für die Rede von Gott: Wer vom Himmel nur Bestätigung und Verstärkung im Echo-Raum der eigenen Meinungen und Selbsteinschätzung erwartet, wird enttäuscht.

Ego-Zorn ist besonders trennscharf von Empathie-Zorn zu unterscheiden, weil Ego-Zorn anscheinend Empathie-Zorn ähnelt. Aus der narzisstischen Perspektive geht es beim Ego-Zorn zwar auch irgendwie um Empathie, allerdings primär um Empathie mit dem eigenen Schmerz, mit der eigenen Person – um Selbstmitleid. Der eigene Schmerz hat im Fall der Fälle Priorität vor allen anderen Schmerzen, weil die eigene Person sich selbst gegenüber anderen Personen als vorrangig definiert. Machtpositionen können leicht zentraler Inhalt des eigenen Selbstverständnisses werden. Die gehobene Position wird mit einem Bedeutungsgefälle zwischen der eigenen Person und anderen, untergeordneten Personen verwechselt; die Verwechslung schleicht sich in das eigene Selbstverständnis ein und führt zur „Selbsterhöhung“ (vgl. Lk 18,14). In dieser Konstellation kann dann schon das Ausbleiben einer Huldigung, die Unterlassung eines Bücklings Ego-Zorn hervorrufen. Narzissten sind äußerst schmerzempfindlich.

Religiös wiederholt sich dieses Verhältnis, wenn Gott vorgestellt wird als Instanz, die Unterwerfung verlangt und im Vollgefühl von Ego-Zorn zuschlägt, wenn die Unterwerfung ausbleibt. Einsicht, Gespräch und überhaupt alles, was ein würdiges, liebevolles und einfühlsames Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf ausmacht, hat in dieser Konstellation keinen Raum. „Gott“ ist die Verkörperung einer blinden Zornesmacht. Das Wichtigste, worauf das Geschöpf zu achten hat, ist, den Gotteszorn nicht durch Unterlassungen und Unvorsichtigkeiten aller Art zu provozieren. Das ist das Wesen der Angst-Religion.

III.

Ich kann nachvollziehen, wenn Menschen, die an den sektiererischen Auswüchsen von Ego-Zorn gelitten oder in den geistlichen Fallen von Ohnmachts-Zorn mitgefangen wurden, die Rede vom „Zorn Gottes“ verabschieden – und dies umso mehr, wenn Leiden und Scheitern am „Zorn Gottes“ ganze religiöse Systeme und Kulturen geprägt und die gesamte Gottesrede vergiftet haben. Ich glaube aber, dass das Problem mit dem „Zorn Gottes“ damit nicht gelöst ist, und zwar deswegen, weil es den Empathie-Zorn gibt, ohne den ich mir auch Liebe nicht vorstellen will. Mein Weg aus dieser Schwierigkeit verläuft nicht über theologische Spekulationen, sondern über die „Unterscheidung der Geister“, also die Schulung einer Herzensklugheit, die Zornesgefühle zulässt und sich um Kriterien ihrer Deutung bemüht.

Eine Systematisierung der Unterscheidung von Zorn im Sinne der ignatianischen Regeln könnte folgendermaßen aussehen: Zornesgefühle sind „innere Bewegungen“ (motus). Diese „Bewegungen“ oder auch „Geister“ (spiritus) kommen entweder von Gott oder vom „bösen Feind der menschlichen Seele“. Um den Ursprung der Bewegung zu erkennen, empfiehlt es sich, „Anfang, Mitte und Ende“ einer Bewegung betrachten: „Wenn der Anfang, die Mitte und das Ende gut sind, dann ist dies ein Zeichen des guten Engels.“ (GÜ 333) Es kommt auf die Richtung der inneren Bewegung an, um zu sehen, wes Geistes Kind sie ist.

Empathie-Zorn zielt auf größeres Begreifen von Leiden anderer und auch auf Engagement für sie hin. Deswegen darf er grundsätzlich positiv bewertet werden. Ohnmachts-Zorn hingegen ist ambivalent. Hier ist gesteigerte Aufmerksamkeit gefragt, denn zur Empathie kommt die Erfahrung der Ohnmacht hinzu. Die Trauer gibt dem Ohnmachts-Zorn eine gute Richtung, sofern und weil sie der zornigen Person das Thema stellt, um das es beim Ohnmachtsgefühl geht: Die Erfahrung und konstruktive Auseinandersetzung mit der eigenen Grenze. Ohnmachts-Zorn ist die Gelegenheit, eine Grenze zu erkennen und zu akzeptieren, durchaus im Sinne des Reinhold Niebuhr zugeschriebenen Gebetes: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann; den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann; und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ (Gotteslob 9,2)

Mit der Akzeptanz der Grenzen eigener Gestaltungsmacht werden mögliche Allmacht-Phantasien überwunden. In der Ohnmachtserfahrung öffnet sich der Mensch so für den Trost, den das Evangelium den Trauernden verheißt (Mt 5,4), wobei innere Trosterfahrungen durch äußere Ereignisse ausgelöst werden können, wenn die Grenzen von einer ganz anderen, überraschenden Seite her überwunden werden. Gott ist ein Gott der Überraschungen. Da ist Geduld gefragt, mit Hoffnung kombiniert und zwar deswegen, weil zum Überraschungscharakter des göttlichen Handelns gehört, dass es sich der Manipulation und Prognose entzieht.

Wenn der Ohnmachts-Zorn hingegen zur Verzweiflung über die eigene Ohnmacht oder über das Schweigen Gottes führt, dann verhärtet er sich ideologisch und landet in der Gewalt. Gewalt ist ja die Außenseite der Verzweiflung über die eigene Ohnmacht, und letztlich auch Verzweiflung hinsichtlich der Handlungsmöglichkeiten eines geschichtlich agierenden Gottes. Das ist dann auch die Stelle, an der sich die Extreme von Ohnmachts-Zorn und Ego-Zorn treffen. Der Ohnmachts-Zorn beginnt zwar mit dem Zorn über die Leiden anderer und die Übermacht der ungerechten Verhältnisse, die das Leiden hervorbringen, aber er endet dann doch in einem narzisstischen Leiden an der eigenen Ohnmacht.

In den Unterscheidungsregeln macht Ignatius zu Beginn eine scharfe Trennung zwischen denjenigen Personen, die „vom Guten zum Besseren“ unterwegs sind (GÜ 315), und denen, die vom Schlechten zum Schlechteren schreiten. Zu denletzteren spricht der Geist Gottes, indem er ihnen „durch die Stimme der Vernunft mit Gewissensbissen hart zusetzt“ (GÜ 314); man darf ergänzen: durch Erfahrungen absoluter Grenzen, durch Scheitern von Lebensplänen, so wie es Ignatius ja selbst in seiner Konversion erlebte. Umgekehrt zeigt sich der „böse Feind der menschlichen Seele“ bei den Personen, die auf dem Weg vom Schlechten zum Schlechteren sind, dadurch, dass er ihren Weg bestätigt (vgl. GÜ 314). Der Ego-Zorn ist ein Bestätigungs-Gefühl für den Ego-Zornigen. Er führt die Aufpasser in der Synagoge von Kafarnaum zum Tötungsbeschluss – und kann deswegen kein Gefühl sein, das vom „guten Engel“ kommt. Die Verblendung kann nur im Sinne der Unterscheidungsregel (GÜ 314) durch schmerzliche Interventionen von außen aufgelöst werden.

IV.

Das positive Modell für den Empathie-Zorn ist neutestamentlich: Jesus. An ihm lässt sich nachvollziehen, wie Empathie-Zorn zu größerer Liebe führt. Auch für die ambivalente Situation des Ohnmachts-Zorns steht Jesus als positives Modell, wenn es darum geht, sich durch ihn nicht verführen und verblenden zu lassen. Ob in der Synagoge zu Kafarnaum, bei den weiteren Auseinandersetzungen mit den religiösen Autoritäten seiner Zeit oder schließlich in der Ohnmachtssituation am Kreuz – Jesus bleibt der Empathie-Liebe treu und erfährt so in der Annahme des Willens Gottes einen Trost, den er weitergibt. Die Auseinandersetzungen mit den Jüngern kreisen hingegen vor allem um die Ambivalenzen des Ohnmachts-Zorns, welche die Jünger überfordern; sie bedürfen deswegen des Vorbildes Jesu und seiner Unterweisung, und gelegentlich auch seiner Zurückweisung.

Am Beispiel von Paulus wird besonders deutlich, wie eine Verblendung aussieht, die nur durch Intervention von „außen“ aufgelöst werden kann – in diesem Fall die Verblendung eines Fanatikers, der meint, einen heiligen Gottesdienst zu vollziehen, wenn er Apostaten (die Jünger Jesu) verfolgt und tötet. Die äußere Gestalt des Ego-Zorns lässt sich auch an der exzessiven Kränkungsanfälligkeit der statusbewussten Vornehmen und Mächtigen erkennen, wie sie das Evangelium berichtet. Auch hier bedarf es der Intervention von außen – denn auch hier muss eine Machtfrage geklärt werden. Die harten Töne, die Jesus gegen diese Personengruppen anschlägt, entsprechen dem Ruf des Gottes an diejenigen Personen, die auf dem Weg vom „Schlechten zum Schlechteren“ sind. Deswegen sind Jesu harte Worte letztlich Ausdruck der Empathie Gottes. Gott „verdammt“ die in narzisstischer Verblendung lebenden Personen nicht, sondern tut alles, was er kann, um sie aus ihrer Verblendung zu befreien.

Mit Blick auf Gott bleibt schließlich die Frage nach der Herkunft des Bösen offen, also nach den tieferen Hintergründen hinter dem Ego-Zorn, dem Jesus seinerseits „voll Zorn und Trauer“ in der Synagoge von Kafarnaum begegnet. Vielleicht ist das ja eine Ur-Falle der Theologie: Diese Frage definitiv beantworten zu wollen; sich selbst dabei aus den eigenen Zorneserfahrungen herauszubegeben, um sie von außen „objektiv“ zu betrachten und zu lösen. Spätestens beim Empathie-Zorn widerstrebt es mir aber definitiv, in die Position des unbeteiligten Beobachters zu verschwinden – und das wünsche ich mir dann auch nicht von Gott.