THEMA

Seelsorge für schutzsuchende Menschen als Seelsorge für alle

Von Regina Polak

Das gesellschaftliche Aushandeln von Migration – und seine Grenzen

Von Jochen Oltmer

Migration als Zeichen der Zeit

Die Replik von Regina Polak auf Jochen Oltmer

Dramatisierung der europäischen Dimension der globalen Fluchtbewegungen und Verschweigen der Immobilität

Die Replik von Jochen Oltmer auf Regina Polak

Biblische Erinnerungen an Flucht-, Migrations- und Fremdheitserfahrungen

Von Jürgen Ebach

PROJEKT

willkommens-netz.de

Flüchtlingshilfe im Bistum Trier

Von Sanaz Khoilar

INTERVIEW

„Kulturen sind nichts Statisches.”

Ein Gespräch mit Matthias Hoesch

PRAXIS

„Jeder Tag ein kleiner Tod” –
„Chaque jour un petit mort”

Von Sr. Juliana Seelmann OSF

Dresdner Erfahrungen

Warum Theologinnen und Theologen sich einmischen müssen

Von Monika Scheidler

„Flüchtige Zeiten”

Warum und wie Theolog/innen sich einmischen müssen

Von Karlheinz Ruhstorfer

Wie Migration Heimat heraus- und Christus, die Tür, einfordert

Von Hans-Joachim Sander

Migration in der Predigt?

Ein Anlass zu aufmerksamer (Selbst-)Wahrnehmung!

Von Wolfgang Beck

Eine engagierte Generation und ihre Verzweiflung

Von Burkhard Hose

FORUM

Nach dem Reformationsjahr

Von Hans Maier

POPKULTURBEUTEL

Evergreen in gelb

Von Stefan Weigand

NACHLESE

Glosse: Urbi et orbi

Von Annette Schavan

Buchbesprechungen

Impressum

Erich Garhammer Schriftleiter

Liebe Leserin, lieber Leser,

„mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird“, so kurz nach der im März zu Ende gegangenen Leipziger Buchmesse die Charta 2018. Unmittelbar vorher hatte der Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp behauptet, dass über 95% der Flüchtlinge nach Deutschland kämen, um in die Sozialsysteme einzuwandern.

Das Thema der Migration kocht weiter hoch. In dieser Debatte bezieht die Lebendige Seelsorge Position: Im Gegensatz zum politisch-medialen Sprachgebrauch der „Flüchtlingsströme“ erinnern Regina Polak und Jürgen Ebach an das biblische Narrativ: das biblische „Israel“ ist das Land, in das man kam, kommt und kommen wird. Die Fremden sind nicht die anderen, wir selber waren und sind Fremde und Flüchtlinge. Der Migrationsforscher Jochen Oltmer sieht die Migrationsdebatte von einer merkwürdigen Hermetik geprägt: es wird häufig über Migrantinnen und Migranten geredet, selten mit ihnen.

Da tut es gut, auf christliche Projekte hinweisen zu können, die eine andere Sprache sprechen: Das Willkommensnetz des Bistums Trier, das vom Begriff der sozialen Teilhabe ausgeht, vom Würzburger Modell, das die medizinische Versorgung von Asylbewerber/innen in einer Gemeinschaftsunterkunft beschreibt, von den Erfahrungen in der Würzburger Hochschulgemeinde, in der Studierende konkrete Solidarität einüben können. Wie Theologinnen und Theologen sich in dieser Frage einmischen können, machen Monika Scheidler und Karlheinz Ruhstorfer deutlich. Wenn Heimat zum Ressentimentbegriff mit disziplinierender Macht aufgebaut wird, wird Jesu Selbstaussage „Ich bin die Tür“ zur Lösung: er ist nicht Grenze, sondern Öffnung. Predigt wird in diesem Kontext zur politischen öffentlichen Rede – allerdings mit Argumenten, wie Wolfgang Beck zeigt. Dabei kann nicht nur die Bibel bemüht werden, sondern auch die Geschichte. Denn Kultur ist nie etwas Statisches, sondern hat sich ständig weiterentwickelt, so der Philosoph Matthias Hoesch im Gespräch.

In der Frage der Migration kann man nicht nicht Stellung beziehen. Wie Christen sich positionieren können, zeigt dieses Heft.

Eine spannende Lektüre wünscht Ihnen

Ihr

Prof. Dr. Erich Garhammer Schriftleiter

Seelsorge für schutzsuchende Menschen als Seelsorge für alle

Schutzsuchende Menschen sind auch „Botschafter/innen“: Sie künden von den globalen Verwerfungen, die zur Flucht zwingen; wie ein „Spiegel“ (Flusser, 30) erschließen sie den Einheimischen neue Erkenntnisse über sich selbst und die eigene Lebensweise. So können Christ/innen von und mit ihnen auf neue Weise Seelsorge leben lernen. Regina Polak

Die transformative Kraft der Begegnung mit schutzsuchenden Menschen steht im Zentrum meines Forschungsprojektes „Leben und Lernen von und mit geflüchteten Menschen“ (Polak 2017). Sie betrifft auch das poimenische und pastorale Lernpotential im Kontext von Flucht für alle Beteiligten. Im Zusammenleben mit Schutzsuchenden verändern sich Gemeinden. Kirche kann zur Lerngemeinschaft werden. Dazu ist es allerdings notwendig, Seelsorge für schutzsuchende Menschen im Zusammenleben mit ihnen zu begründen. Theologisch: Die Pro-Existenz gründet in der Con-Vivenz.

CONVIVENZ UND SPRACHE

Viele der in meinem Projekt Befragten haben gelernt, dass sie nicht „nur“ „Flüchtlinge betreuen“, sondern haben neue Beziehungserfahrungen gemacht, manchmal sogar Freundschaften geschlossen. Dabei hat sich auch ihre Sprache verändert. Im Unterschied zum politisch-medialen Sprachgebrauch (nicht nur) in Österreich, der mit den Bildern von „Flüchtlingsströmen, -wellen oder -schwemmen“ naturkatastrophische Assoziationen beschwört, haben sie in der Seelsorge Menschen mit Namen kennengelernt und damit deren Einzigartigkeit und Würde erfahren. Seelsorge mit geflüchteten Menschen bedeutet daher zuerst, Sensibilität in der Sprache zu entwickeln: über die Angekommenen so zu sprechen, dass sie als Menschen mit Würde und Rechten sichtbar werden; vor allem aber mit ihnen zu sprechen. Sprache ist das zentrale Medium christlicher Seelsorge.

In Situationen, in denen das gesprochene Wort an seine Grenzen kommt – weil man die Sprache des Anderen (noch) nicht spricht oder Schutzsuchende über ihre Erfahrungen nicht sprechen können oder wollen – kann dabei die Erinnerung an die bibeltheologisch untrennbare Zusammengehörigkeit, in gewissem Sinne sogar Identität von Wort und Tat (vgl. hebr. dabar) erwachen. Der Sprachcharakter des Miteinander-Lebens, Füreinander-Einstehens, des gemeinsamen Alltag-Teilens und Feierns wird in seiner seelsorglichen Bedeutung sichtbar. Die Sprache der Seelsorge ist immer auch die Sprache der Praxis, des Leibes, der Rituale und Symbole. Convivenz ist Basis und elementarer Ausdruck von Seelsorge.

Regina Polak

Mag. phil. Mag. theol. Dr. theol., seit 2013 Associate Professor am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

„MULTIDIMENSIONALE SEELSORGE”

Nach Doris Nauer bedeutet Seelsorge, „sich (professionell) um den ganzen, komplexen, ambivalenten, gottgewollten Menschen“ zu sorgen, auf dass „ein wenig ‚Leben in Fülle (Joh 10,10)‘ erfahrbar wird, und dies „sowohl in Alltags-, als auch in Glücks- und Krisenzeiten, abhängig von der individuellen und kollektiven Lebenssituation und Bedürfnislage sowie in und trotz Krankheit, Behinderung, Gebrechlichkeit, Siechtum, Todesangst, Einsamkeit, Verzweiflung, Leid, Not, Armut, Hoffnungslosigkeit, Fragmentarität, Arbeitsüberlastung“ (Nauer, 264). Im Kontext von Zwangsmigrationen werden diese Dimensionen in besonderer Weise virulent.

Entlang der drei Dimensionen dieses Seelsorge-Konzepts (alle Zitate nach Nauer, 184–286) reflektiere ich im Folgenden exemplarische Erfahrungen aus der Seelsorge für und mit Schutzsuchenden.

Die pastoralpsychologisch-heilsame Dimension Diese wird nach Nauer konkret in Krisen- und Konflikthilfe, in ethischer Orientierungshilfe, in Begegnung, Begleitung und Konfrontation, in Beratung und Betreuung, in der Ermöglichung heilsamer Erfahrungen, durch „Impulse zur Sinnfindung“, mit dem Ziel, die „Subjektwerdung und Identitätsausbildung“ zu unterstützen und der Aufgabe, „Fremde fremd bzw. anders sein zu lassen“.

Im Alltag mit schutzsuchenden Menschen ist diese psycho-sozial orientierte Seelsorge die zunächst augenscheinlichste. Um größtmöglicher Professionalität willen bedarf sie der institutionellen Unterstützung durch (politische und kirchliche) Gemeinde und Diözese, durch Angebote zur Krisenintervention, Supervision, Therapie - auch für die Begleiter/innen. Der Seelsorge im christlichen Verständnis eignet dabei eine besondere Möglichkeit: das Angebot der Freundschaft. Freund/innen im Aufnahmeland zu haben, kann Schutzsuchende ihre Würde wieder erfahren lassen und bietet eine besondere Art des Schutzes. Die Bande, die dabei entstehen, sehen die österreichischen Behörden derzeit allerdings gar nicht gerndenn sie sensibilisieren viele Begleiter/innen für politische Zusammenhänge und wecken Widerstand gegen als ungerecht und unrecht erlebte Asylpolitik. Wohl nicht zuletzt deshalb sollen nach dem Wunsch des österreichischen Innenministers Herbert Kickl Flüchtlinge „konzentriert“ in Grundversorgungszentren untergebracht werden.

Im Raum der christlichen Institution der Freundschaft verändert sich auch die Wahrnehmung von schutzsuchenden Menschen. Begleiter/innen lernen, dass ein Mensch „mehr“ ist als seine Fluchtgeschichte oder sein Trauma. Mit dem Blick der Freundschaft lässt sich erkennen, welch unglaubliche Kompetenzen ein geflüchteter Mensch hat und haben muss, um zu überleben. Denn jede Flucht ist immer auch ein Ausdruck einer Entscheidung zur Freiheit: ein Mensch hat sein Leben der Bedrohung durch den Tod entrissen. Dies ist eine große Ressource, die in der Seelsorge fruchtbar gemacht werden kann, um der stets drohenden Verzweiflung zu wehren und Autonomie, psychische Gesundheit und spirituelles Wachstum zu fördern.

Viele Schutzsuchende, vor allem unbegleitete Minderjährige, sind seelisch allerdings oft schwer verstört. Das Vertrauen in andere Menschen, die Bedürfnisse nach Schutz, Geborgenheit und Zugehörigkeit sind massiv verletzt. Die Lebensenergie, die viele mitbringen, lässt das oft übersehen. Traumata können sich jedoch nachhaltig auswirken. Migrant/innen leiden überdurchschnittlich häufig an chronischen psychischen und physischen Erkrankungen – und geben ihre seelischen Belastungen nicht selten über Generationen hinweg weiter. Seelsorger/innen können und müssen in dieser Frage gesellschaftspolitisches Bewusstsein schaffen und Maßnahmen einfordern.

Die spirituell-mystagogische Dimension
Diese wird nach Nauer u. a. konkret in der „Eröffnung von spirituellen Räumen“, in der Hilfe beim Glauben lernen („Glaubenshilfe“), in „(Selbst)Evangelisierung und Mission“, im gemeinsamen „Aufspüren von Gottes Spuren“ im Leben und in der Wirklichkeit, im „Verweben von Lebens- und Glaubensgeschichte“, in der „Entmächtigung von dämonischen Mächten und Gewalten“, in der „Verbreitung von Hoffnung und Freude“, in der „Vergebung von Sünde und Schuld“, in „Trost und der Akzeptanz von Trostgrenzen“.

Die Begegnung mit traumatisierten Menschen, mit Menschen, die ohne Asylbewilligung in unerträglicher Schwebe leben oder – wie derzeit in Österreich und Deutschland politisch forciert – abgeschoben werden, stellen alle Beteiligten vor oft unerträgliche Herausforderungen. Schutzsuchende Menschen werden von Ohnmacht und Ängsten überschwemmt; Begleiter/innen haben Angst um die ihnen Anvertrauten und fühlen sich hilflos. Dies ist auch eine spirituelle Herausforderung.

In solchen Grenz-Erfahrungen kann die Theologie des Kreuzes wieder virulent werden: nicht zur Förderung von Schicksalsergebenheit, die sich Traumatisierte und von Rückführung Betroffene gar nicht leisten können. Das Kreuz vertröstet nicht, sondern kann ermutigen und helfen, gebildete Hoffnung zu entwickeln. Eine biblisch begründete Hoffnung ist kein Optimismus, der Lebenskatastrophen behübscht. Als geistige Orientierung kann sie jedoch unterstützen, auch in Krisenzeiten die Orientierung an Gott nicht zu verlieren.

Der damit verbundene Lernprozess umfasst auch das Hadern und Streiten mit Gott und die Klage. Klage-Liturgien können solch dramatischen Erfahrungen einen Ort geben. Sie benennen Leid, Angst und Ohnmacht und können dadurch Resilienz stärken und Kraft geben, den Kampf um das eigene Leben und das Leben des Anderen nicht aufzugeben. Immer wieder haben die in meinem Projekt befragten Begleiter/innen von der Hoffnung und dem Lebenswillen erzählt, auf die sie bei schutzsuchenden Menschen gestoßen sind. Wer betreibt in solchen Begegnungen für wen Seelsorge?

Freilich gibt es auch Schutzsuchende, denen jeder Lebensmut verloren gegangen ist. Überdies ist die Option einer Theologie des Kreuzes oder des Haderns mit Gott in der Begegnung mit Muslim/innen ungeeignet. Hier kann die christliche Tradition des stellvertretenden Fürbittgebetes unterstützen: als Ausdruck zwischenmenschlicher Solidarität bringt es in Situationen, wo nichts mehr getan werden kann, zum Ausdruck, dass das Füreinander-Einstehen nicht zu Ende gehen muss, wenn Ohnmacht, Recht und Politik Grenzen setzen.

Die diakonisch-prophetische Dimension
Diese wird konkret durch „materielle (Über) Lebenshilfe“, die „Förderung sozialer Vernetzung“, die „Ermöglichung von Gemeindeerfahrungen“, aber auch im „solidarischen und advokatorischen Engagement vor Ort“ und nicht zuletzt im „Risiko, sich auf Prozesse der Gesellschaftsgestaltung“ einzulassen.

Die Vielzahl der kirchlichen Gruppen und Gemeinschaften, die sich rund um Schutzsuchende gebildet haben, sind für alle Beteiligten ausgezeichnetes „Gegengift“ gegen Ohnmacht und Angst. Viele Muslim/innen waren beeindruckt, wie selbstlos die angeblich „Ungläubigen“ ihnen helfen. Gemeinden und Orden wuchsen und entwickelten sich weiter durch Menschen, die seit Jahren keinen Kontakt zur Kirche hatten und helfen wollten. Katechumenate mit Konvertit/innen förderten Gemeindebildungsprozesse. Mit der Diakonie befinden sich viele Christ/innen seelsorglich im ureigensten Element.

Demgegenüber ist die prophetische Dimension in der Alltagspraxis etwas unterbelichtet - und damit auch das gesellschaftspolitische Engagement. (In Deutschland nimmt dieses die Deutsche Bischofskonferenz in herausragender Weise wahr). In diesem Feld wird die seelsorgliche Wirkung der Schutzsuchenden auf die Begleiter/innen besonders deutlich: Viele entdecken die politische Dimension des Glaubens auf neue Weise wieder. Sie werden zu Vermittler/innen und Brückenbildner/innen in der Nachbarschaft, indem sie Räume der Begegnung öffnen, zwischen Menschen verschiedener Kulturen übersetzen und Lernprozesse initiieren. Sie entdecken die Macht und manchmal die Widersinnigkeit der Bürokratien und werden Expert/innen im Asylrecht. Sie beschäftigen sich mit der Geschichte der Herkunftsländer und werden globalpolitisch sensibilisiert. Sie entdecken die Verantwortung Europas.

Seelsorge kann so zu einem Prozess politischer Bildung werden und gesellschaftspolitische Verantwortung fördern. Die damit verbundenen Auseinandersetzungen wiederum werden zum (demokratischen) Lernort für Geflüchtete, die in der Regel aus autoritären Regimen kommen. Sie könn(t)en zu Vermittler/innen zwischen Europa und den Fluchtregionen werdenwenn der politische Diskurs in Europa mit seinen rassistischen Misstönen nicht stört(e).

MIGRATIONSTHEOLOGISCHE NARRATIVE

Christliche Seelsorge braucht zur theologischen Orientierung nicht zuletzt auch Narrative: Erzählungen und Deutungen, die den aktuellen Ereignissen Sinn abringen - andere als die derzeit dominanten von „Überfremdung“, „Islamisierung“ oder vom „Untergang des christlichen Abendlandes“.

Die biblische Tradition birgt dafür alle erforderlichen Ingredienzen (vgl. Polak, Band 1, 107-124). Denn der ethische Monotheismus des Juden- wie des Christentums wurde maßgeblich im Kontext von Flucht, Vertreibung und Migration, Exil und Diaspora erlernt. Katastrophische Erfahrungendie Flucht aus dem Sklavenhaus Ägypten, die Deportation nach Babylon und das Exilwurden zu den zentralen religiösen, ethischen und politischen Lernorten. Die dabei entstandene Theologie der Migration war auch für die Gemeinden des Neuen Testaments eine Matrix, das gefährliche Leben im Imperium Romanum zu ver- und zu bestehen.

Ebendies wäre auch heute die unabdingbare Aufgabe: den Ereignissen und Erfahrungen im Kontext von Flucht Sinn abzuringen. Auch Historiker benennen die Notwendigkeit differenzierten Wissens und hochentwickelter Deutungssysteme zur Neugestaltung von Migrationsgesellschaften: „Ohne eine solche Abstraktionsebene, die es erlaubt, ein gesellschaftliches Phänomen als Ganzes zu verstehen, ist nachhaltige Problemlösung nicht möglich“ (Pohl, 43).

Mit der Heiligen Schrift verfügen wir über solche Narrative: migrationstheologische Deutungen, die erzählen, dass Gott die Geschichte der Befreiung und Erlösung der Menschheit maßgeblich mithilfe von Nomaden, Flüchtlingen, Fremdarbeitern, Exilierten, im Imperium Romanum politisch Verfolgten bzw. in der Diaspora als „Gäste und Fremde“ Lebenden (Hebr 11,13; 1 Petr 2,11) vorangetrieben hat. Diese Erinnerungen haben in der Seelsorge unterschiedliche Konsequenzen. Während sich Menschen auf der Flucht in besonderer Weise der Treue Gottes versichert wissen dürfen, muss sich Europa – verstanden als technischökonomischer Machtblock – wohl eher auf der Seite Ägyptens, Babylons und des Römischen Reiches wiederfinden. Zuspruch und Anspruch, Trost und Anforderungen gibt es für beide. Diasporagemeinden werden aufgefordert, sich um das Wohl der Stadt zu kümmern (Jer 29,7). Aber auch Ägypten kann zum Ort der Rettung und Befreiung werden (vgl. Söding, 343–354): Das „Flüchtlingskind“ Jesus von Nazareth wurde in Ägypten gerettet. Seelsorge mit Schutzsuchenden kann zum Ort der Erinnerung werden, dass Wohlstand und Macht Europa verpflichten, Schutzsuchende aufzunehmen, von und mit ihnen zu lernen und die Ursachen der Flucht zu bekämpfen.

LITERATUR

Flusser, Vilém, Die Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Berlin 2000 (1990).

Nauer, Doris, Seelsorge. Sorge um die Seele, Stuttgart32014.

Pohl, Walter, Die Entstehung des europäischen Weges: Migration als Wiege Europas, in: Österreichische Forschungsgemeinschaft (Hg.), Migration. Bd 15, Wien/Köln/Weimar 2013, 27–44.

Polak, Regina, Leben und Lernen von und mit Flüchtlingen, URL: http://thirdmission.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_thirdmission/Template_Leben_und_Lernen_von_und_mit_Fluechtlingen_Polak.pdf. (Abruf: 14.02.2018).

Dies., Migration, Flucht und Religion. Praktisch-Theologische Beiträge. Band 1: Grundlagen, Band 2: Durchführungen und Konsequenzen, Ostfildern 2017.

Söding, Thomas, Das Refugium des Messias. Die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, in: IKaZ Communio 4 (2015) 343–354.