STEFAN SEIDEL

Für eine Kultur der Anerkennung

Beiträge und Hemmnisse
der Religion

STEFAN SEIDEL

Für eine Kultur
der Anerkennung

Beiträge und Hemmnisse
der Religion

Inhalt

I. „Uns gibt’s auch noch”: Der Kampf um Anerkennung heute

II. Anerkennung aus sozialphilosophischer Sicht

1. Anerkennung als Grundbedürfnis und Ziel sozialer Bestrebungen: Axel Honneth

2. Die fatale Unterscheidung zwischen betrauerbarem und unbetrauerbarem Leben: Judith Butler

3. Die Anerkennung der Würde der Tiere als nächster Schritt: Birgit Mütherich

4. Achsen einer anständigen Gesellschaft – Achtung, Würde und Nichtdemütigung: Avishai Margalit

4.1. Ernstfall der Anerkennung I: Homosexualität und Kirche

5. Das Prinzip der Gleichberechtigung und eine Politik der Anerkennung: Charles Taylor

5.1. Ernstfall der Anerkennung II: Umgang mit dem Islam

6. „Es gibt kein Glück außerhalb der Liebe“: Tzvetan Todorov

III. Anerkennung aus psychoanalytischer Sicht

1. Anerkennung als psychische Geburt: Donald W. Winnicott

2. Vom Glanz in den Augen der Mutter – die psychische Notwendigkeit der Anerkennung: Martin Dornes

3. Perversion als Folge gescheiterter Anerkennung: Jessica Benjamin

4. Das Eigene im Anderen und das Andere im Eigenen: Joachim Küchenhoff

5. Lob der Differenz – Grenzen als Schutz und Begegnungsorte: Martin Teising und Bernhard Waldenfels

6. Sein oder Idealsein – Zur Anerkennung eigener Begrenztheit: Janine Chasseguet-Smirgel

7. Die Anerkennung einer „letzten Realität“ als Zähmung der Angst: Wilfred R. Bion

8. Mutter Staat? Zur Anwendung des Konzepts der Fürsorglichkeit (concern) auf soziale Zusammenhänge: Reinhold Bianchi

IV. Anerkennung aus theologischer Sicht

1. Anerkennung als Ort religiöser Erfahrung: Tobias Braune-Krickau

2. Die Religion als Anerkennungsverhältnis und Sinnressource der Gesellschaft: Markus Knapp

3. „Von der Vollendung her leben“ – Die unbedingte und unauflösliche Anerkennung des Gläubigen durch Gott: Andreas Rohde

V. Die Beiträge und Hemmnisse der Religion für eine Kultur der Anerkennung

1. Erfüllt leben und Leben teilen – Die Beiträge der Religion für eine Kultur der Anerkennung: Elisabeth Moltmann-Wendel und Theo Sundermeier

2. „Apokalypse now“ – Die Hemmnisse der Religion für eine Kultur der Anerkennung: Friedrich-Wilhelm Graf und Reiner Anselm

VI. Der Mensch braucht mehr als nur sich selbst – Schlussüberlegungen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

I. „Uns gibt’s auch noch“:
Der Kampf um Anerkennung heute

Wir leben in einer Zeit immer härter werdender Kämpfe um Anerkennung. Insbesondere die große Migration stellt die westlichen Gesellschaften vor neue Herausforderungen, die im Kern die Frage nach Anerkennung und Abgrenzung betreffen. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben dabei gezeigt, dass die Umsetzung der Idealvorstellung einer Kultur der Anerkennung alles andere als einfach ist. Herbe Widerstände formieren sich gegen die Anerkennung anderer als Gleichberechtigte. Verzweifelt begibt man sich dabei gleichzeitig auf die Suche nach dem Eigenen – jedoch meistens nur auf dem Weg der scharfen Ablehnung anderer. Die Angst vor dem Islam erscheint dabei als die am meisten verdichtete Form dieses Ringens um das Eigene in Abgrenzung von Fremdem.

Es zeigt sich, dass jene, die am lautesten die Abweisung des Fremden fordern, selbst dringend der eigenen Anerkennung bedürfen. Der Historiker Timothy Garton Ash bemerkte kürzlich, dass das Aufkommen des Rechtspopulismus nicht nur aus der sozialen Frage wirtschaftlicher Benachteiligungen heraus zu erklären sei. Sondern dass er auch als eine Antwort der „Abgehängten“ gedeutet werden müsse: eine Antwort auf die erlittene „Ungleichheit der Aufmerksamkeit“, die übergeht in eine „Ungleichheit an Respekt“: „Bei allen Unterschieden findet man in den populistisch wählenden Regionen ein gemeinsames Ressentiment: ‚Uns gibt’s auch – ihr habt uns aber ignoriert und als Landesteile zweiter Klasse behandelt.“ So sei ein Grund für den Erfolg der rechtskonservativen „PiS“-Partei in Polen deren Versprechen, „das Ansehen“ umzuverteilen. Im Grunde sei das, so Ash, die Kapitulation des Liberalismus, der sein zentrales Versprechen nicht eingelöst habe: nämlich gleichen Respekt und gleiche Sorge für jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft zu gewähren (Ronald Dworkin).1

Um diesen Kampf um Aufmerksamkeit und Respekt zu führen, bedienen sich die Wortführer des rechtspopulistischen Protests kultureller Codes, die sie als Kampfbegriffe zur Verteidigung des Eigenen benutzen. Und plötzlich werden auch wieder religiöse Kategorien wie das „christliche Abendland“ oder die Zurückweisung der Religion des Islam virulent. Damit, so könnte man meinen, trifft die düstere Prophezeiung des amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington ein, der bereits vor über 20 Jahren einen „Zusammenprall der Kulturen“ heraufziehen sah – ein Zeitalter religiös bemäntelter Konflikte um Vorherrschaft. Die Religion bekomme dabei die Funktion eines Artikulators jener Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe, um die es eigentlich geht.2

Und tatsächlich hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass die Rede von der Bedrohung des christlichen Abendlandes durch einen angeblich aggressiven Islam ein beträchtliches Protest- und Wählerpotential mobilisieren kann – selbst in einem so gründlich säkularisierten Landstrich wie Ostdeutschland. In dieser Region ist übrigens das von Ash diagnostizierte giftige Gefühl des „Abgehängtseins“ am deutlichsten zu beobachten. Viele Ostdeutsche fühlen sich in ihren Biografien nicht gewürdigt und durch aufreibende Kämpfe um Arbeit und Teilhabe in der neuen Gesellschaft der Bundesrepublik entwertet. Anerkennung und Respekt sind ihnen zur Mangelware geworden. „Die Älteren haben schon vieles verloren und ringen jetzt um ihre Würde, verbunden mit der Angst, das mühsam Gerettete und neu Erworbene auch noch zu verlieren“, diagnostiziert der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz.3 Insofern ist durchaus eine Situation eingetreten, in der Anerkennungsverhältnisse nicht mehr ohne weiteres gewährleistet sind, sondern vielmehr als fragil, bedroht und umkämpft erlebt werden.

Dabei erscheint die rechtspopulistische Inszenierung eines Kulturkampfes als ein höchst wirksames Instrument, um die von vielen erlebte prekäre Anerkennungslage in politisches Kapital umzuwandeln. Im letzten Jahr wurde hierzulande die meiste Stimmung erzeugt und wurden die meisten Stimmen gefangen mit der Rede von einer Bedrohung durch den Islam. Die eingeredete Gefahr durch die Burka verfing bei vielen Wählern–gleichgültig ob damit irgendein Realitätsgehalt verbunden war. Auf die von Rechtspopulisten angebotene Deutung der gesellschaftlichen Krise als Kulturkampf ließen sich viele Menschen ein – als sei endlich ein Ventil für den aufgestauten Druck gefunden. Dabei ist allzu offensichtlich, dass es nicht eigentlich um eine reale Bedrohung durch eine andere Kultur oder Religion geht. Der Ausländeranteil in Sachsen, dem Bundesland mit dem größten rechtspopulistischen Wahlerfolg, liegt unter vier Prozent. Doch die plötzliche Gegenüberstellung verfeindeter Kollektive – hier die Deutschen und dort die lauernden Muslime – scheint eine derartige Entlastung und Aufwertung zu bringen, dass sie von vielen übernommen wurde. Den Rechtspopulisten sei es gelungen, schrieb der Berliner Soziologe Sérgio Costa vor Kurzem, Menschen, die sich existenziell und politisch bedeutungslos wahrscheinlich auch deutungslos – fühlen, einen Diskurs anzubieten, der sie in der symbolischen Machthierarchie aufsteigen lasse. Und zwar ohne dass sie dafür Großes leisten müssten. Allein die deutsche Abstammung reiche nun aus, um höher- und bessergestellt zu sein gegenüber einem konstruierten Anderen. Costa vermutet, dass es beim Migrantenhass eigentlich um das Gefühl eigener Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit gehe, das mit „nationalen und globalen Herrschaftsstrukturen“ zusammenhänge – die wiederum beide bedrängen: Deutsche und Migranten. Der Kampf der Kulturen wird also von Politikern herbeiphantasiert, um die eigene Macht auszubauen.4 Der Kampf der Kulturen und Religionen ist ein günstiges Deckmäntelchen, um Stimmungen zu beeinflussen und Stimmen zu fangen – wissend um die hohe Symbol- und Identifikationskraft, die Kultur und Religion haben. Jedoch wird weder das christliche Abendland durch einen Moscheebau in Leipzig bedroht, noch ist das Christentum für weite Teile der Bevölkerung wirklich ein echter Identifikationsfaktor. Drei von vier Ostdeutschen gehören keiner Kirche an. Deshalb erschöpft sich die instrumentalisierende Benutzung des kulturellen Codes „Christentum“ auch in der plakativen Kampfesrede von der Bewahrung des „christlichen Abendlandes“ und im öffentlichen Singen von Weihnachtsliedern.

Insofern gilt es, den Rat Sérgio Costas ernst zu nehmen, sich als demokratische Kräfte nicht in die phantasierten Kulturkämpfe der Rechtspopulisten hineinziehen zu lassen, sondern jeglichen Diskurs über Islambedrohung und Untergang des christlichen Abendlandes auszutrocknen, ins Leere laufen zu lassen. Denn: „Dort, wo es den Rechtspopulisten gelungen ist, ihren Kampf um die Macht als Kampf der Kulturen zu deuten, sind sie nicht mehr zu stoppen.“5 Die eigentlichen Gründe für die Macht- und Bedeutungslosigkeitsgefühle in der Bevölkerung liegen anderswo. Beispielsweise in den sich ständig verschärfenden Ausgrenzungstendenzen eines neoliberalen Wirtschaftssystems, auf die im Kapitel III.8 näher eingegangen wird.

Strebt man eine Kultur der Anerkennung an, sollte also insbesondere auch die Negativseite der Anerkennung in den Blick genommen werden: die Beschämung oder Entwertung. Denn Scham gilt als ein enorm bedrohliches und unerträgliches Gefühl, das häufig abgewehrt wird durch die Verachtung und Beschämung anderer.6 Der Sozialwissenschaftler Stephan Marks bemerkt, dass viele unserer Beziehungen untergründig mit Beschämungen durchtränkt seien, beispielsweise wenn Arbeitslose als „arbeitsscheue Versager“ entwertet oder Schüler oder Lehrer gedemütigt werden. Das habe eine Beschädigung des Selbstwertgefühls zur Folge, was wiederum die Fähigkeit zur Wertschätzung anderer verringert. Näher liegt dann die Scham-Abwehr über den Weg der Verachtung anderer und ihres Ausschlusses aus der Gemeinschaft – insbesondere derjenigen, die als schwach gelten. „Die Fähigkeit, Anerkennung zu geben (und entgegenzunehmen), wird wesentlich durch Scham und Beschämung blockiert. Daher führt der Weg zur Anerkennung über die Auseinandersetzung mit Scham und Beschämung“, betont Marks.7 Hier wird bereits deutlich, dass es eine Kultur der Anerkennung nicht geben kann ohne die konsequente Vermeidung und Überwindung von Beschämungs- und Entwertungserfahrungen. Und es wird sie nicht geben können ohne die Aufarbeitung der erlittenen Beschämungen.

In der heutigen Situation kommt der religiösen Frage offenbar wieder eine neue Bedeutung zu. Nachdem in der Folge der Aufklärung die Religion in der westlichen Welt jahrhundertelang marginalisiert war, drängt sie sich heute wieder neu auf. Als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zeichnet sich ab, Wege und Formen einer wechselseitigen Anerkennung der verschiedenen Religionen, Kulturen, Denk- und Lebensweisen zu finden, die einander im gleichen Lebenskontext durchaus spannungsreich begegnen können. Dass die verschiedenen Glaubens- und Lebensformen nicht zur wechselseitigen Verfeindung und Entwertung benutzt werden.

Doch gerade diese Verfeindung scheint derzeit in vollem Gange zu sein. Leider hat sich gezeigt, dass die wohlmeinenden Imperative, andere anzuerkennen und aufzunehmen, unter nicht unbeträchtlichen Bevölkerungsteilen weitgehend ungehört verhallen. Es dürfte daher an der Zeit sein, noch eine Ebene tiefer in die Analyse der Situation einzusteigen und das Verwobensein von eigener Anerkennung und Anerkennung anderer wahrzunehmen und an diesen beiden Seiten der einen Medaille zu arbeiten. Es dürfte um einen doppelt verwobenen Vorgang gehen: die Auffindung einer eigenen Identität in Abgrenzung von anderen bei gleichzeitigem Erkennen des eigenen Angewiesenseins auf die Anerkennung anderer. Daraus kann die Einsicht in die Notwendigkeit einer wechselseitigen Anerkennung erwachsen. Der hier vorgestellte Diskurs über die Anerkennung bringt aus allen Perspektiven eine Erkenntnis: Identität ist nicht ohne die Anerkennung anderer zu haben. Alles kommt in der gesunden individuellen wie gesellschaftlichen Entwicklung darauf an, eine reife Form der Beziehungs- und Anerkennungsfähigkeit zu entwickeln. Denn : „Alles, was ist, kann nur in der Koexistenz der Beziehung leben und überleben“, schrieb einmal die Philosophin und Theologin Dorothee Sölle (1929–2003). Sie sieht in diesem Zusammenhang übrigens die Stunde einer weltoffenen Mystik gekommen, die gegen die verschiedenen Totalitarismen dieser Zeit eine aus dem tiefen spirituellen Bewusstsein der Zusammengehörigkeit allen Lebens gewachsene Mentalität des Austauschs, der Beziehung, der Liebe, des Gebens und Nehmens in Anschlag bringt. „Ist es möglich, die Illusionen der Autonomie und der Autarkie und die Praxis der Ausgrenzung durch Liebe zu überwinden?“, fragt sie in ihrem Buch „Mystik und Widerstand“ und antwortet selbst: „Dass wir ohne diesen mystischen Traum keine Chance haben, ist evident genug. Ihn schon jetzt zu leben ist die Hoffnung bewusster Minderheiten.“8

Die Religion, verstanden als eine Art mentales und soziales Anerkennungsverhältnis, könnte heute die Kultivierung der notwendigen „Doppel-Helix“ der Anerkennung unterstützen – bestehend aus eigener Anerkennung und der Anerkennung anderer. Nämlich indem die Religion dem Menschen einerseits hilft, einen eigenen Deutungs- und Beziehungsrahmen zu haben, und andererseits ein Bewusstsein stiftet, dass man nicht allein aus sich selbst heraus lebt, sondern aus einem größeren (göttlichen und sozialen) Anerkennungszusammenhang. Freilich – und das wird die vorliegende Untersuchung zeigen – wird es dazu einer reifen Form der Religion bedürfen, die sich weniger über Absolutheitsansprüche als über Anerkennungsverhältnisse zu definieren vermag. Die Reife der Religion bedeutet ebenso wie die Reife des einzelnen Menschen, dass ein gewisses Maß an Reflexions- und Beziehungsfähigkeit erlangt worden ist.

Die Reife einer Religion wird sich daran zeigen, in welchem Maß es ihr gelingt, Anerkennung des Eigenen und Anerkennung des anderen positiv zu befördern. Dass sich die Religion also zu relativieren vermag, ohne dabei das Eigene zu verlieren; dass sie anderes auszuhalten vermag, ohne es vernichten zu wollen, sondern es als einen Ort des fruchtbaren Austauschs versteht. Eine Form der unreifen Religion dagegen verharrt in rigiden Absolutsetzungen, scharfen Abgrenzungen und starrem Dogmatismus und erweist sich als reflexions- und beziehungsunfähig. Eine solche unreife Religion kommt als zu überwindendes Hemmnis einer Kultur der Anerkennung in den Blick.

Wie diese kurze Skizze bereits zeigt, könnte es auf die Beziehungs- und Anerkennungsfähigkeit der Religion heute dringender denn je ankommen. Dabei kann nicht oft genug betont werden, dass die Bereitschaft zur Anerkennung anderer kein fremder Gedanke ist, der an die Religion von außen herangetragen wird. Denn insbesondere die jüdisch-christliche Religion lebt wesentlich aus einem Gottesbild, das von der Beziehung geprägt ist. Sowohl die Schöpfungsvorstellung, in der sich Gott mit der Welt verwebt, als auch die Christusvorstellung, die den Messias und den Menschen in ein inniges Austauschverhältnis setzt, zeugen von dem grundsätzlichen Beziehungscharakter der Religion. Martin Buber konnte sagen: „Im Anfang war die Beziehung.“ Die schon erwähnte Dorothee Sölle hat diesen dichten theologischen Satz Bubers so interpretiert: „Gott ist hier nicht als höchstes Objekt ausgesagt, sondern als die gegenseitige, sinngewisse, handelnd gelebte Beziehung zum Leben. Gott wird nicht gefunden wie ein kostbarer Stein oder die blaue Blume, sondern Gott ereignet sich. Gott geschieht. God happens.“9 Wird Gott dann auf dem Höhepunkt der neutestamentlichen Theologie sogar als Liebe definiert (1. Johannesbrief, Kapitel 4), dann kann er gar nicht mehr anders, denn als die Kraft der Beziehung gedacht zu werden: Gott buchstabiert sich durch die auf Anerkennung und auf Solidarität beruhenden Beziehungen der Menschen zu ihrer Mitwelt.

Darüber hinaus bietet aber auch die Vorstellung von Gott, der immer ganz anders ist, als es sich der Mensch vorstellt, Ankerpunkte für eine reife Religion. Denn Gott ist in dieser Denkfigur gleichsam der große Platzhalter für das Andere und Fremde an sich, indem er immer einen Platz jenseits des Eigenen besetzt und diesen Ort und dieses Recht des anderen dauerhaft präsent hält. Die Vorstellung von Gott als dem ganz Anderen ermöglicht ein denkerisches Übersteigen des eigenen Bezugsrahmens. Es entsteht dann die Möglichkeit, dass das Andere/Fremde nicht mehr nur das Bedrohende und Auszuschließende darstellt, sondern vielmehr das Ermöglichende – der dunkle Ursprung und das offene Ziel des Eigenen. Eigentlich ist mit dieser Denkweise gar kein Ausschluss anderer, keine Missachtung oder Entwertung Fremder möglich. Denn das käme letztlich einer Verneinung Gottes gleich, der doch als Platzhalter für das Andere des Menschen auf derselben Ebene läge – es wäre eine Verweigerung von Anerkennungsverhältnisses, aus denen heraus man doch selbst lebt.

Jenseits aller ethischen Gebote der Gastfreundschaft gegenüber Fremden, die die jüdisch-christliche Religion auch bietet, kommt der Glaube hierbei unter theologischen Gesichtspunkten als ein grundsätzliches Beziehungsgeschehen in den Blick, das wesentlich mehr dynamisch als dogmatisch geprägt ist und in seiner gereiften Form als grundsätzlich kompatibel mit den Anerkennungstheorien der Gegenwart gelten kann.

Die jüdisch-christliche Religionstradition bietet sogar noch mehr Potentiale für die Förderung einer Kultur der Anerkennung, wie im Folgenden aufgezeigt werden wird. Genannt sei an dieser Stelle nur die Vorstellung vom Menschen als Gottes Ebenbild. Bezug nehmend auf die Schöpfungsgeschichte (Genesis 1, Vers 27) lässt sich ableiten, dass allen Menschen eine unverlierbare Würde innewohnt und somit ein Mindestmaß an Respekt gesichert sein sollte – deshalb weil man ein menschliches Antlitz trägt. Diese Vorstellung hat sich tief in die abendländische Tradition eingewurzelt und sich gewissermaßen säkularisiert fortgesetzt in der Konstituierung der Menschenrechte.10

Jedoch muss auch der Tatsache ins Auge geblickt werden, dass die Religion in unseren Tagen mehrheitlich nicht als reife Religion in Erscheinung tritt. Vielmehr dominiert vielerorts eine unreife Form der Religion, die jene scharfen Anerkennungskämpfe noch befeuert, die in Zeiten der Globalisierung sowieso im Gange sind. Dabei lässt sich womöglich ein problematischer Zusammenhang aufzeigen: dass nämlich Menschen, die selbst in prekären Anerkennungsverhältnissen leben und wenig zur Anerkennung anderer fähig sind, auch kein Gottesbild pflegen, das sich durch Liebe oder Beziehungskraft auszeichnet. Leidet ein Mensch unter verwehrter Anerkennung – sei es nun aus einem frühkindlichen oder einem gesellschaftlichen Mangel heraus –, wird der Kampf um Anerkennung auch in die göttliche Zone hineinverlegt. Gott erscheint dann als Projektionsfläche des eigenen Hasses, als Instrument der Abgrenzung und als Bündnispartner im Kampf um die Zurückdrängung der anderen. Sowohl im islamistischen wie im abendländischen Fundamentalismus kann diese Logik beobachtet werden. Ohne das Phänomen des islamistischen Terrorismus zu sehr vereinfachen zu wollen, legt sich doch die Vermutung nahe, dass viele Selbstmordattentäter auch aus einer Situation verwehrter Anerkennung heraus handeln, in der ihnen wesentliche Zugänge zu angemessener wirtschaftlicher und kultureller Partizipation fehlen – und zu deren Biografie zudem noch eine Art Kollektivdemütigung durch massive kriegerische Handlungen des Westens zählt. Darauf wies bereits der Publizist Carl Amery (1922–2005) hin, als er bemerkte, dass der Islam heute die Droge der ohnmächtigen Gekränkten sei.11

Aber auch der abendländische Fundamentalismus – sei es nun in seiner christlichen oder in seiner säkular-kulturellen Spielart – lebt von der schroffen Abgrenzung gegenüber einem als feindlich konstruierten Gegenüber, das sich zumeist in der Gestalt des Islam verdichtet. An die Vereinfachung der Weltwahrnehmung schließt sich die Vereinfachung des Gottesbildes an: Gott wird zum Kampfbegriff gegen die anderen gemacht und dient als verlängerter Arm eigener Unterwerfungs- und Auslöschungsphantasien. Die Bedingung für die Anerkennungsfähigkeit anderer ist und bleibt eben die Erfahrung eigenen Anerkanntseins – und die Verarbeitung von Entwertungserfahrungen. Bleibt das aus, wird auch die Religion kaum als Kraft wirksam werden können, die eine Haltung der Anerkennung befördert. Wird dagegen Anerkennung gewährt – idealerweise im familiären wie im gesellschaftlichen Kontext –, kann auch die Religion zu ihrer reifen Form finden und positive Prozesse der wechselseitigen Beziehung zu Fremden begründen.

Es war insbesondere der Psychoanalytiker Arno Gruen (1923–2015), der scharfsichtig diesen Zusammenhang zwischen verweigerter eigener Anerkennung und späterer Fremdenfeindlichkeit aufwies. Er deutet die Ablehnung des Fremden als die Abwehr des Fremden in sich. Dieses Fremde sei der abgespaltene Schmerz darüber, in seiner kindlichen Bedürftigkeit nach Anerkennung, Liebe und Verstandenwerden von den Eltern zurückgewiesen worden zu sein. Diese Zurückweisung erzeuge im Kleinkind eine so bodenlose Vernichtungsangst, dass ein psychisches Überleben ohne die Abspaltung der Verlassenheitsgefühle und die totale Anpassung an die Eltern nicht möglich scheint. Der Preis dafür ist hoch : Es ist der Verlust des authentischen Fühlens, der Empathie und der eigenen Identität. Folgt man dieser Gruen’schen Psychoanalyse des Fremdenhasses, dann kann ein Kind, das nicht ausreichend von seinen Eltern geliebt wurde, gar nicht eigene Gefühle ausbilden – es muss sie ersetzen durch die Übernahme der Vorgaben der Eltern, durch die totale Identifikation mit ihrer Macht. Gruen schreibt: „Das Eigene des Kindes wird durch das Fremde der Eltern ersetzt. Eine Identität, die sich auf diese Weise entwickelt, orientiert sich nicht an eigenen inneren Prozessen, sondern am Willen einer Autorität und entsprechenden Rollenklischees männlichen Heldentums. Männliche Stärke und nicht Empathie werden so zum Kern einer Identität, die keine eigene ist.“12 Dies geschieht aus dem ohnmächtigen Ringen darum, nicht verlassen zu sein. Weil allein die Anpassung an die Eltern Sicherheit gewährt. In der daraus erwachsenden Scheinidentität des bloßen Angepasstseins an die Eltern wird Fremdes zur Bedrohung schlechthin. Denn im Fremden begegnet man gleichsam der Bodenlosigkeit des eigenen Fremdseins, des eigenen Nicht-Anerkanntseins. In der Ersatzidentität des angepassten und enteigneten Selbst bleibt nur die Abwehr des anderen – um des psychischen Überlebens willen. Es gilt dann gewissermaßen der Satz „Ich bin nichts (ich durfte nichts sein), darum kann ich auch für andere nichts sein (kann die Begegnung mit Andersartigem nicht aushalten), da sie mich an mein eigenes Fremdsein zu bedrohlich erinnern.“ Der Fremdenhass kann in dieser Lesart begriffen werden als eine psychische Überlebensstrategie : „Der Feind, den wir im Anderen zu sehen glauben, muss ursprünglich in unserem eigenen Inneren zu finden sein. Diesen Teil von uns wollen wir zum Schweigen bringen, indem wir den Fremden, der uns daran erinnert, weil er uns ähnelt, vernichten.“13

Menschen, die in dieser Weise ihre eigene Bedürftigkeit nach Anerkennung abspalten mussten, erleben jede Einfühlung mit anderen als Bedrohung. „Sie verwerfen ihre eigene Sicht, ihre Empathie, ihre Empfindungen. Das Eigene wurde zum Fremden gemacht. So wird unsere Menschlichkeit zum Feind, der unsere Existenz bedroht und der unter allen Umständen bekämpft und vernichtet werden muss“, so Gruen weiter.14 Solche Menschen seien im Grunde beziehungslos, da sie weder die Intimität von Nähe noch Mitgefühl kennen. Laut Gruen lässt sich somit auch der gewissermaßen autoritäre Charakter dieser Menschen erklären: „Menschen ohne Inneres sind ständig auf der Suche nach einer überhöhten Macht, der sie sich unterwerfen können, weil sie kein Eigenes haben.“15

Und so sei es auch erklärbar, dass sich ein von außen betrachtet irrationaler und überwertiger Hass auf Fremde Bahn brechen kann in pogromähnlichen Angriffen. Denn was da so rasend bekämpft wird, sei das plötzlich in Gestalt der Fremden auf sie von außen zukommende abgespaltene eigene Bedürfnis nach Annahme, nach Bemutterung und nach Versorgung, nach Liebe und nach Anerkennung. Als im Jahr 1991 in Hoyerswerda die Wohnheime vietnamesischer Gastarbeiter brannten, könnte das laut Gruen auch aus der besonderen DDR-Sozialisation der Täter erklärbar sein: „Die Mütter, meist Alleinerziehende, waren so beschäftigt mit ihrem beruflichen Weiterkommen, dass für ihre Kinder keine Zeit übrig blieb. Diese mussten sich dem Diktat ihrer Mütter (…) einer leistungsorientierten, ‚sozialistischen‘ Kultur fügen. Der Hass auf sich selber, auf ihre menschlichen Teile, die Liebe und Zärtlichkeit benötigten, war enorm und explodierte folgerecht in einer Gewalt gegen die vietnamesischen Fremden. (…) Der Fremde ist ja der innere Feind.“16

Bisweilen verschleiert sich ein solches inneres Abwehrmanöver auch durch ein überhöhtes Männlichkeitsideal, in dem Empathie verachtet und eine Kultur der Stärke glorifiziert wird. Nächstenliebe, Mitleid und Anerkennung werden dann als Werte abgelehnt. Gruen gibt zu bedenken, dass es ganz und gar nicht leicht ist, innerhalb einer solchen Kultur der Stärke die Falschheit der Härte zu durchschauen. Denn man ist ja selbst ein Teil dieser Kultur und faktisch von ihr geprägt. Trotzdem gibt es nur einen Ausweg aus dieser falschen und potentiell gewalttätigen Kultur der Stärke: das Erlernen von Empathie. „Diese Fähigkeit, die in unserem Kulturkreis vielleicht nur ein Drittel der Bevölkerung vollkommen entwickelt hat, schützt und sichert ein Überleben der Demokratie. Das Einfühlen in den Schmerz und das Leid macht das Böse unmöglich. (…) Diejenigen, die den Fremden in sich selber spüren und erkennen, werden ihre Individualität, ihre Vitalität und ihre Liebe zum Leben entfalten können“, schreibt Gruen.17

Arno Gruen wurde an dieser Stelle deshalb so ausführlich zu Wort gebracht, weil seine Analyse aktueller nicht sein könnte und ein helles Licht auf die mentalen Unterströmungen der aktuellen Entwicklungen hin zu Fremdenfurcht und Nationalismus wirft. Gleichzeitig zeigt er aber auch, wie leicht Ideologien oder auch die Religion zum Spielball psychischer Kompensationen des frühkindlichen Liebes- und Anerkennungsmangels werden können. Das eigentliche Problem stellt in dieser Sichtweise nicht die fundamentalistische Religion an sich dar, sondern die darunter liegenden mangelhaften Anerkennungsverhältnisse und die prekäre psychische Verfasstheit der Einzelnen. Es erscheint dann fast als unmöglich, mit dem wohlmeinenden Appell nach einer reifen und anerkennungsfähigen Religion an Menschen heranzutreten, die selbst gefangen sind in einem tiefen Schmerz – Menschen, die sich selbst nicht als anerkannt erleben durften und die deshalb kein eigenes, selbstbestimmtes, erfülltes Leben leben können. Insofern müsste zum einen die fundamentalistische Religion entlarvt werden als die projektive Abwehr eigener Abwertungserfahrungen, und andererseits müsste versucht werden, auch im Raum der Religion Empathie über die Bejahung des eigenen Selbstseins und Entdämonisierung des Anderen zu fördern. Wie dies allerdings ohne die psychotherapeutische Bearbeitung des frühkindlichen Schmerzes der Nicht-Anerkennung gelingen soll, bleibt eine offene Frage. An dieser Stelle genügt es, auf dieses Problem hinzuweisen. Die folgende Diskussion der psychoanalytischen Anerkennungstheorien wird möglicherweise den einen oder anderen Ausweg aufzeigen. Er wird in der Schaffung und Stärkung einer Kultur der Beziehung und Anerkennung sowie in einer Ausbreitung der Psychotherapie liegen.

Die institutionalisierte Religion selbst scheint gut beraten zu sein, ihrerseits auf ein psychologisches Verständnis von Glaubensprozessen zu achten und zwischen malignen (bösartigen) und benignen (gutartigen) Gottesbildern und Glaubensvorstellungen zu unterscheiden sowie diejenigen Potentiale stark zu machen, die eine Anerkennung des Eigenen und des Anderen befördern. Die akademische Theologie hat sich jedenfalls in den letzten Jahren bereits vereinzelt dem Diskurs über Anerkennung geöffnet mit einer Analyse jener Potentiale der Religion, die für gelingende Anerkennung fruchtbar gemacht werden können. Dieser spezifische Blickwinkel auf den Zusammenhang von Anerkennung und Religion scheint heute notwendiger denn je. Denn es wird in den kommenden Jahren zentral um die Gewährung und Verweigerung der vielfältigen Formen gesellschaftlicher Anerkennung gehen.

Das hat der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth bereits Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erkannt, als er sein Buch „Kampf um Anerkennung“ schrieb. Es hat sich als ein weit vorausschauendes Buch erwiesen. Mit dem B egriff der Anerkennung hat Honneth einen Schlüsselbegriff zum Verständnis vieler gegenwärtiger Konflikte gefunden. Anerkennung ist eine harte Währung geworden. An ihr hängt nicht nur die Möglichkeit der Teilhabe, sondern auch die Würde des Einzelnen.

Es zeigt sich, dass jede Erklärung des Menschen und der Gesellschaft zu kurz greift, die nicht das grundlegende menschliche Angewiesensein auf Anerkennung berücksichtigt. Der Mensch ist und bleibt ein Beziehungswesen und von Anfang an abhängig von der Anerkennung durch andere. Er ist ein Wesen, das im Eingebettetsein wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse leben muss. Und deshalb ist eine Gesellschaft, der es um das Wohl aller ihrer Mitglieder geht, gut beraten, auf die Gewährung und Gewährleistung von Anerkennung zu achten.

Das vorliegende Buch möchte den Nährboden dieses Diskurses über Anerkennung, dem sich auch die Religionen stellen müssen, zusammenfassend darstellen: die wichtigsten gegenwärtigen sozialphilosophischen, psychoanalytischen und theologischen Konzepte einer Anerkennungstheorie. Dies geschieht jeweils verbunden mit Überlegungen zu den Folgerungen der einzelnen Konzepte für die Rolle der Religion in der jeweiligen Form einer Kultur der Anerkennung. Im zweiten Teil soll dann genauer nach den besonderen Elementen der Religion gefragt werden, die eine Kultur der Anerkennung fördern oder hemmen können.

Wohlgemerkt: Es gibt nicht nur die bad news von den deformierenden Auswüchsen der (unreifen) Religion, die sich der Anerkennung des Anderen verweigert. Es gibt auch hoffnungsvolle religiöse Entwicklungen hin auf eine anerkennungs- und differenzfähige Religion. Dafür sei als Beispiel die Erfahrung des amerikanischen Neurologen und Autors Oliver Sacks (1933–2015) erwähnt. In seinem letzten Buch mit dem Titel „Dankbarkeit“ beschreibt er, wie er als Heranwachsender die schlimme Erfahrung einer ausgrenzenden, entwertenden und beschädigenden Form von Religion machen musste – ein Beispiel für das große Ausgrenzungspotential verabsolutierter Religion. Oliver Sacks erzählt von einem Erlebnis aus seinem achtzehnten Lebensjahr: „Damals fragte mein Vater mich nach meinen sexuellen Neigungen und gab keine Ruhe, bis ich zugab, eine Vorliebe für Jungs zu haben. ‚Ich habe nie etwas getan‘, sagte ich, ‚es ist nur ein Gefühl – aber sag Ma nichts, sie würde es nicht verkraften.‘ Doch er sagte es ihr. Als sie am nächsten Morgen herunterkam, sah sie mich voller Abscheu an und rief: ‚Du bist ein Gräuel. Ich wünschte, du wärest nie geboren.‘ (Zweifellos dachte sie an die Verse im 3. Buch Mose: ‚Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist und sollen beide des Todes sterben; Blutschuld lastet auf ihnen.‘)“ Dieses Erlebnis entfremdete ihn von seiner Herkunftsreligion. Doch am Ende seines Lebens nimmt er die Einladung zur Geburtstagsfeier seiner 100-jährigen Cousine in Jerusalem an – und begibt sich wieder in die Mitte seiner jüdisch-orthodoxen Großfamilie: „Ich hatte ein wenig Angst gehabt, da ich meine orthodoxe Familie zusammen mit meinem Liebhaber Billy aufsuchte – die Worte meiner Mutter lasteten noch immer auf meiner Seele, aber Billy wurde herzlich willkommen geheißen. Wie grundlegend die Einstellung sich selbst bei orthodoxen Juden gewandelt hatte, zeigte sich, als Robert John [sc. der strenggläubige Cousin] Billy und mich einlud, am Freitagabendmahl im Kreis seiner Familie teilzunehmen.“18