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ANDREAS MÜLLER (HG.)

Prophetischer
Protest

Franz von Assisi
als Impulsgeber für
Konzil und Kirche heute

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2014
© 2014 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de (Foto: gettyimages)

Inhalt

Vorwort

I.

Erinnerung und Verpflichtung

 

Die Menschheit, Franz von Assisi und das Volk Gottes auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Elmar Klinger)

II.

Die Aktualität der franziskanischen Idee

 

Der Atheismus und Franz von Assisi. Zur Pastoralkonstitution „Freude und Hoffnung“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, Nummer 19 (Anton Rotzetter)

III.

Das Panorama der multireligiösen Realität

 

Franziskus und die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils „Nostra aetate“ (Jan Hoeberichts)

IV.

Franziskus und die Armen

 

Franziskanische Prophetie der Armut in der Konzilsaula (Norbert Arntz)

V.

„Bei euch soll es nicht so sein!“

 

Bekehrung der Prälaten Eine Aktion des hl. Franziskus und eine Aufgabe nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Hadrian W. Koch)

VI.

Wie Franziskus die ersten Brüder in die Welt sandte

 

Kirche – das wandernde Volk Gottes in der Welt. Anmerkungen zum Konzilsjubiläum aus franziskanischer Sicht (Othmar Noggler)

VII.

„Die Zukunft, die wir wollen“

 

Ökologie – die fehlende Perspektive auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Anton Rotzetter)

VIII.

Franziskus und Klara

 

„Ein und derselbe Geist hat Schwestern und Brüder bewegt“. Das Volk Gottes als geschwisterliche Kirche (Martina Kreidler-Kos)

IX.

Eine andere Spiritualität

 

Die Laien, die Franziskaner und das Zweite Vatikanische Konzil (Mario Cayota)

X.

Der ganz Andere

 

Die säkulare Welt und die frohe Botschaft des Evangeliums (Udo F. Schmälzle)

Nachwort

Abkürzungsverzeichnis

Autoren

Vorwort

Vor 50 Jahren fand das Zweite Vatikanische Konzil statt (11. Oktober 1962 bis 8. Dezember 1965). Papst Johannes XXIII. hat das Konzil einberufen mit dem Auftrag zur pastoralen und ökumenischen Erneuerung („Aggiornamento“) und er wies in seiner Eröffnungsansprache ausdrücklich darauf hin, dass es ein pastorales Konzil sei, das „die bleibende Wahrheit“ in unsere Zeit übersetzen soll.

Es folgte wirklich eine Zeit des Aufbruchs mit einem neuen Kirchenverständnis: Kirche als das wandernde Gottesvolk in der Welt, in der alle – Kleriker und Laien – teilhaben am Sendungsauftrag Christi. Vor allem auch die Orden wurden in die Pflicht genommen. Sie sollten sich zurückbesinnen auf die Wurzeln ihrer Charismen und diese mit neuem Leben füllen im Lichte des Konzils und der Zeichen der Zeit.

Die weltweite Franziskanische Familie hat das mit Begeisterung getan und die Aufbrüche und Neuanfänge auf vielfache Weise begleitet und inspiriert.

Fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wollen wir (nun) an Beispielen zeigen, wie hochaktuell und brisant die Spiritualität des Franz von Assisi ist, hatte er doch 800 Jahre zuvor schon viele Entscheidungen des Zweiten Vatikanums gelebt und vorweggenommen. Er konnte dies, weil er sich radikal an der Botschaft des Evangeliums orientierte und sie zum Prinzip des Handelns machte. Der Schweizer Konzilsbeobachter und Jesuit Mario von Galli hat deshalb Franziskus das heimliche Thema des Konzils genannt. Wie groß die Übereinstimmung zwischen Franz von Assisi und wichtigen Dokumenten des Konzils ist, wollen wir in den hier vorliegenden Beiträgen aufzeigen.

Mit Papst Franziskus erleben wir nun einen franziskanisch-prophetischen Moment in der Kirche. Die Wahl des Namens Franziskus ist (nach eigener Aussage des Papstes) für ihn Programm und Verpflichtung. Wenn er das wahrmachen kann, wird sich die Vision des historischen Franziskus auf Leben und Strukturen der Kirche heute auswirken. Dessen Art zu „leben nach dem Evangelium“ wird damit zum Modell für eine Erneuerung der Kirche.

Papst Franziskus hat in den wenigen Monaten seiner Amtszeit gezeigt, dass es ihm ernst ist. Sein einfacher Lebensstil, die unkomplizierte Art, auf die Menschen zuzugehen, seine offensichtliche Vorliebe für die Armen und Ausgestoßenen, sein Einsatz für friedliche Lösungen von Konflikten und seine Sorge für die Bewahrung von Gottes Schöpfung zeigen, dass er sich nicht als gestrenger Glaubenswächter, sondern als der treusorgende Hirte und barmherzige Samariter versteht. Und das vermittelt er dann auch noch in einer Sprache, die alle verstehen können. In all dem ist er seinem Vorbild und Namenspatron sehr ähnlich.

Die kurzen Texte und Impulse dieses Buches wollen zweierlei: Sie wollen das Zweite Vatikanische Konzil wieder in Erinnerung bringen und zeigen, dass Franz von Assisi tatsächlich ein „Impulsgeber für Konzil und Kirche heute“ sein kann.

Die Texte wurden erstmals 2012 in den „CCFMC News“ veröffentlicht (Nachrichtenblatt für die Schwestern und Brüder, die am weltweiten CCFMC-Programm teilnehmen). Die Hinführungen zu den Texten stammen vom Herausgeber dieses Buches. Allen Autoren der Texte, den Übersetzern, Lektoren und Ideengebern sei herzlich gedankt.

Großkrotzenburg, im November 2013

Andreas Müller

I.

Erinnerung und Verpflichtung

Für viele klang es wie eine Befreiung, für andere wie eine Bedrohung: „Macht die Fenster der Kirche weit auf!“ Mit diesen Worten kündigte Papst Johannes XXIII. am 25. Januar 1959 in der römischen Basilika Sankt Paul vor den Mauern ein „Ökumenisches Konzil für die Gesamtkirche“ an. Er forderte eine Sensation: ein „aggiornamento“, eine Wiederannäherung der Kirche an die Erfordernisse der Zeit.

Trotz aller Bedenken und Widerstände konnte das Konzil im Oktober 1962 eröffnet werden. Die dreijährige Kirchenversammlung machte wirklich Geschichte und führte zu atemberaubenden Veränderungen: eine tiefgreifende liturgische Erneuerung, ein neues Kirchenverständnis als Volk Gottes, die Hinwendung zu den Sorgen und Nöten der Menschen sowie das Bewusstwerden von Weltkirche und eine ökumenische Öffnung ohne Vorbild usw. Da war wahrlich das Wehen des Heiligen Geistes spürbar. Ein neuer Frühling stand an. Doch leider nur von kurzer Dauer.

Schon auf dem Konzil wurde heftig gestritten zwischen den Bewahrern und den Erneuerern. Das Thema „Kirche der Armen“, das von vielen Bischöfen aus den Kontinenten des Südens, aber auch von den Initiatoren und Förderern der Arbeiterpriester in Frankreich zum Dauerthema gemacht wurde, fand dann doch keine Mehrheit. Die Befürworter mussten erkennen, dass viele der Brüder Bischöfe „von der Gnade der Liebe zur Armut noch nicht so erfasst wurden“, wie Dom Helder Camara es ausdrückte. Schon bald nach dem Konzil begann eine heftige und teilweise erbitterte Auseinandersetzung über die (Be)Deutung der Konzilsdokumente.

Für die Traditionalisten und die Bewahrer in bürgerlichen Kreisen war das Konzil ein Bruch mit der festgefügten und unabänderlichen Kirche der vorangegangenen Konzile (Trient und Erstes Vatikanisches Konzil); für die Reformer ging es jedoch genau darum, die Tradition im Kern zu retten, indem man sie von der Gegenwart her neu erschließt. Es gibt keine in Stein gemeißelte zeitlose Wahrheit; sie ist immer zeitgebunden an kulturelle und sprachliche Ausdrucksmittel, die ständig im Wandel sind. Und deshalb muss die Kirche ihre Wahrheit immer neu sagen, wenn sie für die jeweiligen Zeitgenossen verständlich sein soll.

Das ist zumindest der lateinamerikanischen Kirche in ihren Bischofsversammlungen in Medellín 1968 und Puebla 1979 gelungen. Sie brachten die unmenschliche Armut und Unterdrückung der Mehrheit ihrer Völker mit der biblischen Befreiungsbotschaft in Verbindung und zogen daraus die einzig mögliche Konsequenz, eine „Option für die Armen“. Eine neue Art von Kirche entstand: die befreiende Kirche der Armen. Die Basisgemeinden waren der Ort, wo das arme Volk zum selbsthandelnden Subjekt wurde. Die daraus entstandene Theologie der Befreiung wurde zum Markenzeichen dieser Kirche. So ist Leonardo Boff sicher recht zu geben, wenn er sagt: „Offensichtlich sind nirgendwo in der christlichen Welt die Lehraussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils ernsthafter aufgenommen worden und mit größerer Kraft und Kreativität in die Praxis umgesetzt worden als in der Dritten Welt und bei den unterdrückten Minderheiten überall in der Welt“ (Concilium, 24, 1988).

Die weltweite Franziskanische Familie hat die Aufforderung des Zweiten Vatikanischen Konzils an die Orden ernst genommen, nämlich die franziskanischen Quellen im Lichte des Konzils und der Zeichen der Zeit neu zu lesen und die Bedeutung ihrer Theologie für unsere Zeit wieder zu entdecken. In einem langen interkulturellen Dialog haben Tausende von Schwestern und Brüdern in aller Welt die heutigen Herausforderungen in eine franziskanische Lesart gebracht. Dabei haben sie festgestellt, dass die wesentlichen franziskanischen Optionen auch die der wichtigen Dokumente des Konzils sind, wie z. B. Kirche der Armen, Volk Gottes als geschwisterliche und dienende Kirche, die Schöpfung als Urelement der Offenbarung Gottes, Gerechtigkeit und Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Die Ergebnisse dieses Dialogprozesses sind zusammengefasst im „Grundkurs zum franziskanisch-missionarischen Charisma“ (CCFMC). Er ist kein Lehrbuch, sondern ein Instrument zur Erneuerung und Wiederentdeckung einer anderen Art von Kirche-Sein auf der Seite der Armen, die Franz von Assisi vor 800 Jahren gelebt hat und die zu einem zentralen Anliegen des Konzils wurde. Er ist deshalb auch kein Lernprogramm ausschließlich für die weltweite Franziskanische Familie allein, sondern ein Angebot an alle, denen die Erneuerung der Kirche am Herzen liegt, weil er mit der franziskanischen Perspektive zugleich die Probleme unserer Zeit ins Visier nimmt.

Bei einem Symposium zu „Franziskanische Impulse zur interreligiösen Begegnung“ im Mai 2012 in Fribourg hat Elmar Klinger auf den Punkt gebracht, worin diese Nähe des Franziskus zum Konzil festzumachen ist. Es ist sein unverbrüchlicher Glaube an den Jesus von Nazareth und damit verbunden seine Überzeugung, dass er als Heilsbringer für die ganze Menschheit gesandt ist. Es betrifft die Volk-Gottes-Lehre des Konzils, zu dem alle Menschen gehören. Und es ist die Einstellung zu anderen Religionen, in der Franziskus mit dem Konzil übereinstimmt. Für die damalige Zeit war das prophetisch und für das theologische Denken völlig neu. Der Rückblick auf „50 Jahre Vatikanisches Konzil“ ist der Anlass, das deutlich zu machen.

Die Menschheit, Franz von Assisi und das Volk Gottes auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil

Von Elmar Klinger

„Das Nein zu den bestehenden Formen der Kirche, das also, was man heute prophetischen Protest nennen würde, konnte nicht radikaler sein, als es bei Franziskus war.“ Josef Ratzinger, der vorige Papst Benedikt, trifft diese Feststellung. Sie ist bis heute gültig.

Zu den „bestehenden Formen der Kirche“ gehört ihr hierarchischer Aufbau; er bestimmt die Rechte und Pflichten der Ämter und ist eine Form der Leitung.

Mit ihr setzt sich Franziskus grundsätzlich auseinander. Er anerkennt diese Ordnung. Er geht zu ihren wichtigsten Vertretern, ringt um ihr Einverständnis, aber tritt ihnen selbständig, kraft eigener Autorität gegenüber. Denn sie bekleiden ein geistliches Amt und haben daher einen geistlichen Auftrag. Dieser ist zu respektieren. Eines der großen Ziele von Franziskus jedoch ist die Bekehrung der Prälaten. Denn es gibt Menschen, die nicht zur Hierarchie gehören. Sie bekleiden kein Amt, aber haben einen geistlichen Auftrag. Sie sind die Mehrheit in der Kirche und für das Verhältnis, das sie zu allen Menschen hat und entwickeln muss, unverzichtbar.