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Studien
zur Theologie und Praxis
der Seelsorge

89

Herausgegeben von
Erich Garhammer und Hans Hobelsberger
in Verbindung mit
Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock

Stefan Gärtner / Tobias Kläden
Bernhard Spielberg (Hg.)

Praktische Theologie
in der Spätmoderne

Herausforderungen und Entdeckungen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2014 Echter Verlag GmbH, Würzburg

978-3-429-04735-1 (PDF)

978-3-429-06149-4 (ePub)

Inhalt

Stefan Gärtner / Tobias Kläden / Bernhard Spielberg

Praktische Theologie in der Spätmoderne – ein Projekt

1. Teil: Grundlagen

Wolfgang Fritzen

Spätmoderne als entfaltete und reflexive Moderne. Zur Angemessenheit und Füllung einer Zeitansage

Christian Bauer

Differenzen der Spätmoderne. Praktische Theologie vor der Herausforderung der Gegenwart

2. Teil: Signaturen

Tobias Kläden

Beschleunigung

Thomas H. Böhm

Deinstitutionalisierung und Häresie

Marie-Rose Blunschi Ackermann

Exklusion

Andrea Qualbrink / Renate Wieser

Gender und Intersektionalität

Wolfgang Fritzen / Stefan Gärtner

Leben als Projekt

Renate Wieser

Multiperspektivität

Wolfgang Fritzen / Christoph Lienkamp

Ökonomisierung

Christian Bauer

Paradoxalität

Michael Scherer-Rath

Radikalisierte Kontingenz

Stefan Gärtner

Selbstreferentielle Maximalisierung

Ute Leimgruber

Transformierung des Raums

Christoph Lienkamp

Verrechtlichung

3. Teil: Porträts

Stefan Gärtner

Gert Otto

Christoph Lienkamp

Rolf Zerfaß

Tobias Kläden

Johannes (Hans) A. van der Ven

Christian Bauer

Henning Luther

Thomas H. Böhm / Bernhard Spielberg

Martin Nicol

Ute Leimgruber / Michael Lohausen

Reinhard Feiter

Marie-Rose Blunschi Ackermann

Brigitte Fuchs

Renate Wieser

Uta Pohl-Patalong

4. Teil: Kommentare

Michael Schüßler

Freundschaftlich-kritische Beobachtungen

Hans-Joachim Sander

„… und es giebt kein ‚Land‘ mehr!“ (Friedrich Nietzsche) – auch nicht mehr für die Praktische Theologie in der späten Moderne

Kristian Fechtner

Praktisch-theologische Lesarten der Spätmoderne. Ein Nachgang

Autorinnen und Autoren

Anmerkungen

Praktische Theologie in der Spätmoderne – ein Projekt

Stefan Gärtner / Tobias Kläden / Bernhard Spielberg

Praktische Theologie muss sich den Signaturen der Spätmoderne stellen, will sie eine aktuelle Topografie des Christentums leisten.1 Eng damit verbunden ist die Frage, inwieweit sie diesen Anspruch auch in ihrer eigenen, wissenschaftsinternen Topografie verwirklicht. Natürlich haben die jeweiligen Zeitumstände die Arbeit Praktischer Theologen und Theologinnen früherer Generationen genauso mit geprägt, wie dies für die heutige Generation gilt. In diesem Sinne ist die Praktische Theologie als Kind ihrer Zeit gleichsam automatisch ‚spätmodern‘.

Diese allgemeine Feststellung kann allerdings näher untersucht werden. In diesem Band wird gefragt, wie sich die aktuellen Zeitumstände in der praktischtheologischen Theorie- und Urteilsbildung konkret ausmünzen. Es geht also um die Frage der Topografie der Praktischen Theologie selbst. Es ist zu vermuten, dass es hier Ungleichzeitigkeiten gibt, und zwar sowohl vertikal als auch horizontal. So könnten etwa frühere Vertreter des Fachs bereits spätmoderner geprägt gewesen sein als die heutigen Zeitgenossen. Daneben sollte auch zwischen jeweiligen Zeitgenossen eine Palette von prämodernen bis spätmodernen Haltungen oder in einem Œuvre Mischformen zu finden sein.

Die Frage, ob und wie die Praktische Theologie bei der Zeit ist und war, stellt sich in der Spätmoderne unter verschärften Bedingungen.2 Das klassische Materialobjekt der Praktischen Theologie beziehungsweise der Pastoraltheologie, nämlich die pastoralen Vollzüge beziehungsweise ihre Handlungsträger, besteht heute nicht mehr in fragloser Selbstverständlichkeit. Entsprechend hat der wissenschaftstheoretische Diskurs innerhalb der Disziplin Erweiterungen erfahren. Dies geschah sowohl in der Vergangenheit, wodurch zum Beispiel als Materialobjekt die religiös vermittelte Praxis in der Gesellschaft3 in den Blick kam, als auch in der Gegenwart, etwa mit dem Hinweis auf die Relevanz der lebensweltlichen Alltagspraxis für die praktisch-theologische Reflexion.4

Außerdem findet sich das klassische, das heißt das an kirchliche Vollzüge gebundene Materialobjekt der Praktischen Theologie in der Spätmoderne auf einem pluralen religiösen Feld wieder. Es gibt zeittypische Kommunikationsformen, die wohl religiöse Züge aufweisen, ohne sich aber als Fortschreibungen des traditionellen Christentums zu begreifen. Die vielfach besprochene Renaissance des Religiösen geht zu einem großen Teil an den Mauern der Kirchen vorbei, auch wenn es hierbei in Westeuropa landestypische Unterschiede gibt.5 Vorläufig werden diese Phänomene mit Begriffen wie postmoderne Religion6, hochmoderne Religiosität7, liquid religion8, implicit religion9, unsichtbare Religion10 oder wild devotion11 erfasst. Daneben wächst in der Spätmoderne auch die Bedeutung der Multireligiosität und der Multikulturalität, insbesondere mit dem Erstarken des Islams. Gemeinsam ist diesen Entwicklungen, dass ihnen innerhalb der Praktischen Theologie bisher relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Die genannten Veränderungen auf dem religiösen Feld sind natürlich Teil der Modernisierungsprozesse, die in der spätmodernen Gesellschaft als Ganze zu verzeichnen sind.12 Heute herrscht die Einsicht in die Perspektivität und Partikularität aller Erkenntnis und jeder Praxis vor. Dies löst Prozesse einer fortgesetzten Selbstreferenzialität aus, und es entsteht die gesellschaftliche Situation eines radikalisierten Pluralismus. Für den Einzelnen kulminiert beides in der zunehmenden Individualisierung seiner Biografie und seiner sozialen Bezüge sowie einer gesteigerten Begründungspflicht und neuen Normierungsansprüchen bei seiner Entscheidungsfindung.13 Dies alles hat natürlich auch Rückwirkungen auf die Pastoral und auf das religiöse Feld.14

In diesem Sinn muss die Spätmoderne beziehungsweise die durch sie mitbestimmte religiöse, kirchliche und pastorale Praxis der vornehmliche Gegenstand einer zeitgenössischen praktisch-theologischen Reflexion sein.15 In diesem Band wird untersucht, inwieweit sie diesen Anspruch nicht zuletzt in ihrem eigenen Wissenschaftsdesign einlöst. Es soll aber weder um ‚Selbstkasteiung‘ noch um pastoraltheologischen ‚Väter- und Müttermord‘ gehen. Auch sollen keine Zensuren verteilt werden. Denn die wissenschaftlich verantwortete Empfindsamkeit für die religiösen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der spätmodernen Gesellschaft ist an und für sich noch kein Qualitätskriterium für die Praktische Theologie. Wohl muss sie sich von ihrer Aufgabenstellung her fragen (lassen), inwieweit und wie sie die Kennzeichen der Spätmoderne in ihre Reflexion integriert. Diese Fragestellung verfolgt der hier vorgelegte Band.

Er dokumentiert die Ergebnisse des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts ‚Praktische Theologie in der Spätmoderne‘, in dem sich 15 Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der Pastoraltheologie aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden in mehreren Arbeitstreffen von 2009 bis 2012 vernetzten. Die Idee zur Gründung eines Netzwerks für den wissenschaftlichen Nachwuchs war in der Statusgruppe Mittelbau der internationalen Konferenz der deutschsprachigen Pastoraltheologen und Pastoraltheologinnen entstanden. Möglich wurde dieses – in der Praktischen Theologie nach unserem Wissen bisher erstmals in dieser Art durchgeführte – Projekt durch die Initiative von Tobias Kläden, Ulrich Feeser-Lichterfeld und Stefan Gärtner.

Das Projekt vereinte eine sehr große Bandbreite an Forschungstraditionen, wissenschaftstheoretischen Konzepten, inhaltlichen Schwerpunkten, institutionellen Rahmenbedingungen und Diskurskulturen in sich. Das erwies sich als Vorteil des Netzwerkes, und dies prägte die Arbeit während des gesamten Projektverlaufs. Seine konkreten Arbeitsschritte lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Zunächst wurden sehr breit typisch spätmoderne Eindrücke, Erfahrungen, Theorieelemente und Phänomene gesammelt, die dann zu zentralen Signaturen der Spätmoderne verdichtet wurden. Diese ausgewählten Signaturen sollten eine Analyse der Spätmodernegefühligkeit der Praktischen Theologie erlauben. Sie ermöglichen eine Topografisierung, bei der die spätmoderne Verfassung der Disziplin sowohl selbstkritisch erhoben als auch mit Blick auf mögliche Veränderungsperspektiven beschrieben werden kann (2. Teil).

Diese Signaturen wurden im Projektverlauf immer weiter geschärft und der Frage unterworfen, inwiefern sie die angezielte Analyse auch wirklich leisten. Nachdem sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen dieser Frage zunächst mit Blick auf die eigene Forschung gestellt hatten, wurde die Matrix auch an die Beiträge älterer Praktischer Theologinnen und Theologen angelegt. Das Ergebnis sind Porträts von prominenten Vertreterinnen und Vertretern zu der Frage, in welcher Hinsicht sie mit ihrem Werk als spätmodern charakterisiert werden können (3. Teil). Es ist deutlich, dass auch in diesem Teil nur eine exemplarische Auswahl vorgenommen werden konnte. Eine an und für sich wünschenswerte größere Streuung und Repräsentativität der porträtierten Praktischen Theologinnen und Theologen wurde im Netzwerk diskutiert, sie ließ sich aber auf Grund von pragmatischen Überlegungen nicht verwirklichen.

Der vorliegende Band ergänzt die Signaturtexte zur Spätmoderne und die praktisch-theologischen Porträts um zwei Elemente. Zum Ersten um zwei Grundlagentexte zur Verfassung der Spätmoderne (1. Teil). Dies ist dem Projektverlauf geschuldet, bei dem an diesem wiederkehrenden Punkt ebenfalls eine große Pluralität unter den beteiligten Nachwuchswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen zum Ausdruck kam. Mit den zwei Basisartikeln wird die Unterschiedlichkeit der im Projektverlauf diskutierten Konzepte sichtbar.

Die zweite Ergänzung besteht in einer Öffnung des Projekts. Praktisch-theologische Kollegen der eigenen und der anderen Konfession sowie ein Vertreter der Systematischen Theologie wurden um einen kritischen Kommentar zu den Ergebnissen unseres Netzwerkes gebeten (4. Teil). Auf diese Weise unterwirft sich das Netzwerk der Kritik von außen. Damit trägt es der für die Spätmoderne typischen Multiperspektivität, Pluralität und Differenz aller wissenschaftlichen Erkenntnis Rechnung, die nicht zuletzt im Projektverlauf immer wieder deutlich geworden ist.

Der Band bündelt somit den gesamten Prozess und bietet ihn der praktischtheologischen scientific community zur Diskussion an. So kann der Ertrag der Nachwuchsforschergruppe der fachinternen Selbstvergewisserung zugänglich gemacht werden – ein Anliegen, das zu den ständigen Übungen in dieser Disziplin gehört. Entsprechend hoffen wir auf eine kritische Anwendung und Erweiterung der im Netzwerk entwickelten Topografie. Damit ist gleichzeitig die prospektive Frage aufgeworfen, wie die Praktische Theologie gegenwarts- und zukunftsfähig bleiben kann. Diese Frage dürfte angesichts der Veränderungen im akademischen Kontext, etwa mit dem Aufkommen einer kulturwissenschaftlichen und empirischen Religionsforschung, aber auch angesichts kirchenpolitischer Verschiebungen für die Praktische Theologie immer relevanter werden. Das Projekt ist also nach vorne hin offen. Es will insgesamt einen (selbst-)kritischen und konstruktiven Beitrag zur ‚Verzeitlichung‘ der Praktischen Theologie leisten und hierüber indirekt auch der religiösen, kirchlichen und pastoralen Praxis in der Spätmoderne, insofern diese vom praktisch-theologischen Diskurs nicht unberührt bleibt.

Abschließend möchten wir unseren herzlichen Dank aussprechen: der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Förderung des Projekts und der Publikation, den Herausgebern der Reihe Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge im Echter Verlag, Erich Garhammer und Hans Hobelsberger zusammen mit Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock, für die Aufnahme des Bandes, Brigitte Benz, Dr. Claudia Bergmann und Daniela Kranemann für die umfangreichen Korrekturarbeiten und besonders allen Mitgliedern des Netzwerks für die Intensität und Verlässlichkeit der Beteiligung an diesem Projekt.

1. Teil: Grundlagen

Spätmoderne als entfaltete und reflexive Moderne

Zur Angemessenheit und Füllung einer Zeitansage

Wolfgang Fritzen

Pastoraltheologie möchte Theologie, die an der Zeit ist,16 sein und als „ein Horchposten für wache Zeitgenossenschaft der Theologie“17 dienen. Solche Zeitgenossenschaft wird auch im Titel dieses Buches betont – durch den Zeitindex „Spätmoderne“. Gegenüber dem schillernden Begriff der „Postmoderne“ mag der Begriff „Spätmoderne“ etwas blass wirken, doch gerade in seiner Nüchternheit ist er geeignet, die Zuordnung der Gegenwart zur Moderne in ihrer Spannung von Wandel und Kontinuität präzise zu bezeichnen. Er ist von der Annahme geprägt, dass die Moderne in eine neue Phase getreten ist, ohne dass sie aufgehört hat, Moderne zu sein. „Wir treten nicht in eine Periode der Postmoderne ein, sondern wir bewegen uns auf eine Zeit zu, in der sich die Konsequenzen der Moderne radikaler und allgemeiner auswirken als bisher.“18 Im Folgenden möchte ich versuchen, Spätmoderne als hilfreiche Zeitansage von einer Reihe soziologischer Beobachtungen her zu profilieren.

1. Das Projekt der Moderne

Wenn Spätmoderne hier in der Spannung von Wandel und Kontinuität zur Moderne gesehen wird, ist zur Klärung eine kurze Bestimmung dessen sinnvoll, was mit dem Begriff „Moderne“ verbunden wird. Die Anfänge der Moderne werden sehr unterschiedlich angesetzt. Sie haben mit den Veränderungen von Weltbild und Denken durch die naturwissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts und der aus ihr folgenden „Entzauberung der Welt“ sowie mit der Aufklärung und den politischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts zu tun. Der Beginn der Moderne kann aber auch erst mit der industriellen Revolution und dem spektakulären Wachstum des historischen Bewusstseins im 19. Jahrhundert angesetzt werden. Begriff und theoretisches Konzept der Moderne finden sich jedenfalls nicht vor dem 19. Jahrhundert.19 Exemplarisch kann man den Übergang zur Moderne an der Erfindung der Dampfmaschine festmachen, da mit ihr der Zusammenhang von analytisch und experimentell verfahrender Naturwissenschaft, von praktischer Verwertung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in der Technik und dem ökonomischen Gewinnstreben, das beide verknüpft, etabliert wird.20

Als grundlegende Dimensionen der Modernisierung lassen sich folgende Prozesse benennen, die zwar eng miteinander zusammenhängen, sich aber analytisch trennen lassen:21

(1) Domestizierung der Natur: Durch die Fortentwicklung des naturwissenschaftlichen Wissens und der modernen Techniken entwickelt sich eine immer perfektere Beherrschung der Natur. Eigenrechte der Natur werden zugunsten ihrer Ausbeutung, die Grundlage der Reichtumsproduktion wird, ausgeblendet.

(2) Gesellschaftliche Ausdifferenzierung: Die gesellschaftliche Struktur der Moderne ist durch zunehmende Arbeitsteilung und wachsende funktionale Differenzierung geprägt. In den verschiedenen Funktionssphären setzen sich grundlegende Freiheits- und Partizipationsrechte für immer mehr Mitglieder der Gesellschaft durch.

(3) Rationalisierung: Begünstigt durch diese Prozesse erscheint die Welt zunehmend durch Vernunft beherrschbar und berechenbar. Die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft werden unter Effizienzgesichtspunkten neu geordnet.

(4) Pluralisierung: In geschichtlicher und interkultureller Perspektive wird die Pluralität von Überzeugungen und Lebensweisen zunehmend bewusst. Die eigenen Traditionsbestände werden zum Gegenstand der kritischen Reflexion und verlieren an verbindender und verbindlicher Kraft.

(5) Individualisierung und Biographisierung: Das eigene Leben und die persönliche Identität verlieren zunehmend ihre relative Selbstverständlichkeit, Stabilität und soziale Einbindung. Sie werden als dynamische Wirklichkeiten und als individuell zu bewältigende Aufgaben entdeckt; es herrschen der Zwang und die Chance zur Selbstbestimmung.

(6) Säkularisierung: Der Einfluss religiöser Institutionen, Glaubensvorstellungen und Praktiken auf die verschiedenen Bereiche des Lebens nimmt in der modernen Welt kontinuierlich ab. Der Wille zur rationalen Welterklärung und zur autonomen Daseinssicherung setzt sich durch. Dadurch erscheinen Welt und Dasein als vom Menschen geprägte und gemachte Größen.

Der all diesen angedeuteten Prozessen zugrunde liegende Gedanke der Moderne ist der des Fortschritts. Der überschäumende und selbstbewusste Geist der Moderne fordert die „Entmachtung der Vergangenheit“ und „das Einschmelzen bestehender Verhältnisse“.22 Er macht die Veränderung des Gegebenen zur Norm. Fortschritt, Wachstum und Neuheit werden in Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Politik, Kunst und Mode zu den maßgebenden Orientierungen. Moderne stellt sich als Befreiung aus überkommenen Strukturen dar, als „die Apotheose des unentwegt Neuen“, verbunden mit der Hoffnung, dass die Verhältnisse „einer fortschreitenden Veränderung und Verbesserung bis hin zur Vollendung unterzogen werden können“.23 So lässt sich das Fortschrittsprojekt der Moderne als Verweltlichung der christlichen Heilserwartung, als ein „Absenken der Himmelsleiter“24 interpretieren: Die christliche Hoffnung scheint in die Verheißung des Fortschritts unter den Leitkategorien von Vernunft und Freiheit umgewandelt.25

2. Spätmoderne und Moderne – eine Verhältnisbestimmung

Aufbauend auf dieser knappen Skizze der „Moderne“ kann nun geklärt werden, inwiefern der Begriff „Spätmoderne“ mit der in ihm angelegten Spannung von Wandel und Kontinuität zur Moderne als Gegenwartsanzeige geeignet ist. Dies soll anhand der sechs genannten Prozesse in jeweils drei Schritten geschehen:

Der erste Schritt (a) expliziert die späte Moderne zunächst als entfaltete, radikalisierte Moderne. Denn die Industriegesellschaft war „ihrem Grundriß nach eine halbmoderne Gesellschaft“26; bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts herrschte die Vergesellschaftungsform der „eingeschränkten Modernität“ vor. Erst in den sechziger und siebziger Jahren kam es „zu einem tiefgreifenden Umbruch“ von der halbierten zur entfalteten Moderne.27

Die Radikalisierung der Moderne führt aber zugleich dazu, dass der Prozess der Modernisierung reflexiv wird; er wird „sich selbst zum Thema und Problem“28. Ein Charakteristikum der Spätmoderne ist das Bewusstwerden der Schattenseiten und Risiken der Modernisierung und damit einhergehend eine Brechung der Gewissheiten und Hoffnungen des modernen Fortschrittsglaubens. Die Prämissen der Entzauberung werden selbst entzaubert.29 In einem zweiten Schritt (b) wird also jeweils der Wandel zur radikalisierten Moderne als Wandel zur reflexiven Moderne angesprochen.

Dieser Wandel bedeutet jedoch keinen Bruch mit der Moderne. Die meisten Menschen stehen mit ihrem Denken und Handeln faktisch ganz auf den Grundlagen der Prämissen der Moderne und wollen mit ihren Errungenschaften auch gar nicht brechen. In einem dritten Schritt (c) ist daher jeweils anzudeuten, wie die Spätmoderne „Moderne“ ist und sein will.

(1) Verhältnis zu Technik und Natur in der Spätmoderne:

(a) Seit den Anfängen der Moderne haben Naturwissenschaften und Technik enorme Fortschritte gemacht. Gerade in den Bereichen Mobilität und Medien waren die Wandlungen in den letzten Jahrzehnten für das Leben der Menschen in einer zunehmend globalisierten Welt besonders einschneidend.

(b) Durch die Erfahrungen vom Ölschock über die atomare Katastrophe von Tschernobyl und den verheerenden Tsunami von 2004 bis zur atomaren Katastrophe von Fukushima ist das Bewusstsein für die negativen Folgen und Risiken dieser Entwicklungen gewachsen: Die Natur wird wieder stark als gefährdete und damit gefährliche Größe wahrgenommen. Dem gewachsenen Umweltbewusstsein entsprechen Forderungen und Maßnahmen zum Umweltschutz.

(c) Die Bewältigung der Nebenfolgen des technischen Fortschritts wird im Regelfall nicht in einer Rückkehr zur Natur gesucht, sondern in einer Intensivierung der Anstrengungen, ihnen durch weitere Fortschritte in Wissenschaft und Technik beizukommen – also ganz im Sinne der Modernisierungsdynamik. Denn zu einem einschneidenden Verzicht auf manche ambivalente Segnungen des technischen Fortschritts sind die wenigsten bereit. Die Bewahrung der Schöpfung scheint nur in einer Mischung aus technischem Fortschritt und Bereitschaft zum Verzicht möglich.

(2) Differenzierung als Problem und Ideal in der Spätmoderne:

(a) Zwar setzte mit der Modernisierung eine Ausdifferenzierung der zentralen Funktionsbereiche wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Familie und Religion ein, doch gleichzeitig blieb noch lange Raum für weltanschaulich geprägte Milieus, die die Auswirkungen der Differenzierung abschwächten. Zu denken ist besonders an die sozialistische Arbeiterschaft und das katholische Milieu, die sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildeten, um die Wende zum 20. Jahrhundert den Höhepunkt ihrer Prägekraft und in der Sondersituation der späten 1940er und der 1950er eine gewisse Renaissance erlebten. Erst mit dem Abschmelzen dieser Milieus entfaltete die strukturelle und funktionale Differenzierung ihre volle Dynamik.30 Auch die Verweigerung von Freiheits- und Partizipationsrechten in den verschiedenen Funktionssphären der Gesellschaft für Frauen, aber auch für andere Bevölkerungsgruppen, wird erst zögerlich und spät abgebaut.

(b) Zunehmend wird die Problematik einer entgrenzten Ausdifferenzierung und Spezialisierung wahrgenommen. Der Blick auf das Ganze, auf Zusammenhänge und Nebenfolgen wird getrübt; Sinn und Unsinn des eigenen Tuns und Lassens können oft nicht mehr wahrgenommen werden. Außerdem werden problematische Züge nicht vollzogener Differenzierung oder fortschreitender Entdifferenzierung deutlicher gesehen: Unübersehbar sind zum Beispiel wirtschaftliche und politische Einflüsse auf die Wissenschaftsentwicklung geworden, die Trennung zwischen Wirtschaft und Kunst verschwimmt zunehmend, und auch die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verflüssigt sich in der Lebensführung vieler spätmoderner Subjekte.

(c) Vermutlich sind es gerade solche Prozesse, die Menschen allergisch reagieren lassen, wo sie Verstöße gegen die Gesetzmäßigkeiten der Differenzierung vermuten. So sollen Lobbyisten der Wirtschaft nicht die Politik bestimmen, private Daten sollen vor dem Zugriff von Unternehmen und Behörden geschützt werden, und die Kirche soll sich nach der Meinung der meisten ihrer Mitglieder nicht in Politik und private Lebensführung einmischen. Solche Beispiele machen deutlich, wie sehr Differenzierung auch in der Spätmoderne als bewahrenswerte Errungenschaft bzw. als Ideal gilt.

(3) Rationalität, Rationalisierung und Irrationales in der Spätmoderne:

(a) Fortschritte in Wissenschaft und Technik bestärken die Zuversicht, dass Zusammenhänge zumindest grundsätzlich vernünftig erklärbar und viele Probleme zumindest grundsätzlich vernünftig lösbar sind. Die Auflösung des traditionalen Sektors der klassischen Industriegesellschaft und die weitgehende Industrialisierung des bäuerlichen und handwerklichen Sektors sowie der Einsatz von Computertechnik im Verwaltungssektor haben weitere Rationalisierungseffekte ermöglicht.

(b) Das Vertrauen in die grundsätzlich unbegrenzten Einsichtsmöglichkeiten der kritischen Vernunft und in ihre Leistungsfähigkeit, zentrale Menschheitsprobleme zu lösen, ist tief erschüttert. Das Bewusstsein ist schmerzlich gewachsen, dass die Erfolge der Rationalisierung mit katastrophalen Folgen für die Umwelt, mit ungerechten Weltwirtschaftsverhältnissen, mit einer Verschärfung des Arbeitslosigkeitsproblems und mit negativen Auswirkungen auf Gesundheit und Lebensqualität erkauft wurden. Außerdem dämmert die Einsicht, dass Rationalisierungsfortschritte ohne kritische Orientierung und ohne über sie hinausgehende Sinnansprüche Mensch und Gesellschaft schaden und verarmen lassen. Neben rational begründeter kritischer Reflexion an Rationalisierungsvorgängen gibt es auch die Suche nach dem Irrationalen in Kunst, Mythen, Fantasy, Mystik und Esoterik.

(c) Diese Suche geht aber einher mit einem Festhalten an der Leitkategorie der Vernunft in den gesellschaftlichen Diskursen, an der Begründungspflicht von Geltungsansprüchen und an den Erfolgen durch Rationalisierung, die den meisten Menschen in den westlichen Industrieländern einen Lebensstandard ermöglichen, der auch nach der jüngsten Wirtschaftskrise im historischen wie im weltweiten Vergleich sehr hoch ist.

(4) Suche nach lebbarer Vielfalt in der Spätmoderne:

(a) Pluralismus ist kein spezifisch modernes Phänomen, verstärkt sich aber quantitativ wie qualitativ im Zuge der Modernisierung. Denn während Pluralismus bis weit in die Moderne hinein ein Nebeneinander relativ geschlossener Gruppenkulturen bedeutete, hat sich spätmodern „eine stärkere Unmittelbarkeit von Individuum und Kultur“31 entwickelt. Die Steigerung der Zahl der Optionen im Zuge der Globalisierung geht mit einer Vernichtung der Obligationen einher, die sich in Entgrenzung, Entzeitlichung, Enthierarchisierung und Entheiligung äußert. Die „Multioptionsgesellschaft“ sucht die Freiheit von allem und für alles und wird so zugleich zur „Miniobligationsgesellschaft“.32

(b) Die so radikalisierte Pluralisierung droht den Einzelnen zu überfordern: Der sich orientierungslos durch Optionen „Zappende“ und der im Fundamentalismus Halt Suchende sind trotz ihrer Gegensätzlichkeit Opfer derselben Entwicklung. Die Suche nach einer gemeinsamen Basis kultureller Bildung, nach verbindenden Werten und nach Grundlagen eines friedlichen Dialogs sind daher wichtige Herausforderungen spätmoderner Gesellschaften.33

(c) Die Bereicherung durch die Vielfalt und die Faszination angesichts der Fülle von Optionen will wohl niemand gegen Bevormundung und Monotonie eintauschen. Gerade die Gefahr von Fundamentalismen und von kultureller, politischer, biologischer oder wirtschaftlicher Monokultur mobilisiert moderne Widerstandskräfte.

(5) Das schwierige Projekt, man selbst zu sein:

(a) Individualisierung ist eine zentrale Entwicklung und Forderung seit Aufklärung und Romantik. Doch wurde sie durch verbreitete kollektive Lebensmuster faktisch stark begrenzt. Solche Lebensmuster, wie zum Beispiel Geschlechterrollen, Berufskarrieren oder Familienbilder, wurden in den letzten Jahren entstandardisiert. Aus der „Normalbiographie“ ist damit endgültig die „Wahlbiographie“ (Katrin Ley), die „reflexive Biographie“ (Anthony Giddens), die „Bastelbiographie“ (Ronald Hitzler) und die „Risikobiographie“ (Ulrich Beck) geworden. Das Leben wird als Projekt aufgefasst, als einzigartige Aufgabe, die möglichst selbstbestimmt und innovativ gestaltet werden muss.34

(b) Die zunehmend individualisierte Gesellschaft wird aber auch als durch die gegensätzlichen Gefahren der Vereinsamung und der Vermassung bedroht wahrgenommen. Die Überforderung durch das Projekt, man selbst zu sein, kann sich in Vereinzelung oder Depression, in Abhängigkeit oder neuen Standardisierungstendenzen zeitigen. Neue virtuelle und reale Vergemeinschaftungsformen suchen das Miteinander lebendig zu halten.

(c) Trotz Angst vor Vereinsamung und trotz der Sehnsucht nach Formen verlässlicher Gemeinschaft nimmt der Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung weiterhin eine Schlüsselstellung ein. Die spätmoderne Gesellschaft hält an der Würde und Unhintergehbarkeit von Subjekt und Individuum fest.

(6) Religion in der Spätmoderne zwischen Säkularisierung, De-Säkularisierung und Post-Säkularität:

(a) Der deutliche Rückgang religiöser Zugehörigkeit, Praxis und Überzeugung in breiten Bevölkerungsschichten ist für die letzten fünfzig Jahre in Deutschland messbar und belegt. Der fortschreitende Prozess der Entkonfessionalisierung, Entkirchlichung und Entchristlichung scheint unumkehrbar.35 Autonome Welterklärung und Daseinssicherung sind in Westeuropa für die meisten zur Selbstverständlichkeit geworden. Alle Lebensbereiche sind in der Spätmoderne durch die Grunderfahrung der „weltlich“ gewordenen Welt geprägt.36

(b) Dennoch hat die Säkularisierungsthese an allgemeiner Plausibilität verloren und wird durch andere Erklärungsmodelle ergänzt bzw. ersetzt, die eher von einem Gestaltwandel des Religiösen sprechen und auch religionsproduktive Tendenzen der Gegenwart ausmachen. Es ist von der „Rückkehr der Religionen“ (Martin Riesebrodt) die Rede, von „De-Säkularisierung“ (Peter L. Berger) und von „Re-Spiritualisierung“ (Matthias Horx), gar vom „Megatrend Religion“ (Regina Polak). Es gibt weltweit zahlreiche Anzeichen bleibender Relevanz der Religion und ihres Erstarkens und auch in Deutschland eine verstärktes Interesse an Religion in der „postsäkularen Gesellschaft“ (Jürgen Habermas) und eine Sehnsucht nach Spiritualität.37

(c) Doch mindestens für Westeuropa und international für eine einflussreiche Schicht mit höherer Bildung westlicher Art gilt, dass Religion radikal an Verbindlichkeit und Signifikanz verloren hat. Die autonome und rationale Gestaltung der ausdifferenzierten Bereiche der Gesellschaft, die kritische Rationalität des Denkens und die Freiheit gegenüber Religion und im Bereich des Religiösen sind hier für die meisten wichtige Errungenschaften der Moderne, die sie verteidigen wollen.

Das stolze Selbstbewusstsein der Moderne ließ sich im Fortschrittsgedanken bündeln.

(a) Spätmodern ist dieser Fortschritt regelrecht entfesselt: Naturbeherrschung, Ausdifferenzierung, Rationalisierung, Pluralisierung, Individualisierung und Säkularisierung haben ein bisher ungeahntes Maß erreicht.

(b) Zugleich wird die Ambivalenz dieser Entwicklungen sichtbar, und der Fortschrittsgedanke verliert an Glaubwürdigkeit und Akzeptanz. „Der Fortschritt ist unaufhaltsam“ – dass diese Floskel nur noch als ironische Reaktion auf Veränderungen präsent ist, deren Sinn nicht wirklich einzusehen ist, fängt am alltagssprachlichen Beispiel die Ernüchterung über das Projekt der Moderne ein. Der Verdacht macht sich breit, dass die zunehmend bewusst werdenden Nebenfolgen die Errungenschaften des Fortschritts möglicherweise überrunden. Außerdem fällt es vielen zunehmend schwer, angesichts der entfesselten Fortschrittsdynamik Sinn und Orientierung zu finden.

(c) Dennoch bleiben der Reiz des Neuen und die Hoffnung auf Verbesserungen unverwüstlich. Eine pauschale Fortschrittsfeindlichkeit wäre fraglos auch borniert und gefährlich. Errungenschaften beispielsweise in den Bereichen Medizin, Informationstechnologie oder Mobilität haben einen Maßstab gesetzt, von dem auch spätmodern die meisten kaum wünschen werden, dass er unterschritten wird.38

3. Theologie, die an der Zeit ist

Diese Erwägungen, die in vielem eher holzschnittartig bleiben mussten, konnten das grundsätzliche Zueinander von Moderne und Gegenwart in Kontinuität und Wandel charakterisieren, wie er im Begriff der Spätmoderne angelegt ist. Theologie, die an der Zeit ist, darf die angesprochenen Spannungen der Spätmoderne nicht unterbieten. Sie unterbietet sie dann, wenn sie „nur“ modern denkt, oder wenn sie sie gar vormodern oder postmodern auflösen will. Trotz ihrer oft gegensätzlich erscheinenden Positionen stimmen prä- und postmoderne Vereinfachungen darin überein, dass sie die Spannungen der Spätmoderne nicht aushalten wollen oder können. Außerdem nehmen beide gerne Zuflucht zu einer besserwisserischen Attitüde: Man müsse nur dies oder jenes zur Kenntnis nehmen oder praktizieren, schon wäre alles besser. Doch eine Praktische Theologie, die sich den Spannungen der Spätmoderne stellt, wird solche vereinfachenden Lösungsansätze als weder wünschenswert noch praktikabel entlarven.

Naturwissenschaft, Technik, ökonomisches Gewinnstreben, gesellschaftliche Ausdifferenzierung, Rationalisierung, Pluralisierung, Individualisierung und Säkularisierung sind als Grundgegebenheiten der Moderne anzunehmen. Ihre zum Teil verheerenden (Neben-)Folgen sind aber zu kritisieren und zu bekämpfen, ihr Fortschrittsimpetus kritisch zu hinterfragen und ihr Heilsanspruch zu bestreiten. Spätmoderne Zeitgenossenschaft wird an Entwicklungen anknüpfen, die quer zu den angesprochenen Prozessen der Modernisierung liegen, zugleich aber an wichtigen Prämissen und Errungenschaften der Moderne festhalten:

• Spätmoderne Theologie und Kirche können die Suche nach einem Sinn des Lebens begleiten und unterstützen, der die partikularen Bereiche des gesellschaftlichen Alltags überspannt, ohne aber die enormen Erfolge gesellschaftlicher Ausdifferenzierung zu negieren.

• Sie können die Sehnsucht nach Spiritualität aufgreifen, ohne aber in Irrationalität zu verfallen.

• Sie können die Ahnung der Begrenztheit einer rein autonomen und individuellen Daseinsdeutung und -bewältigung bestätigen, ohne aber den Anspruch der Selbstbestimmung zu hintergehen.

• Sie können Christen helfen, „aus der säkularisierungstheoretisch begründeten Selbsteinschüchterung herauszukommen“,39 werden aber auch zu einer Verkündigung, die der kritischen Rationalität der Hörerinnen und Hörer Rechnung trägt, und zu einem pastoralen Handeln, das Freiheit respektiert und ermöglicht, ermutigen.

Wenn dem Projekt der Moderne einerseits nicht einfach eine Absage erteilt wird, es sich aber so radikalisiert hat und so problematisch geworden ist, dass man auch nicht einfach daran festhalten kann, werden Kirche, Pastoral und (Praktische) Theologie (wie auch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft) mit einer Ohnmacht konfrontiert, mit der nicht einfach umzugehen ist. Wer sich solche Ohnmacht eingesteht, wird damit aber nicht automatisch handlungsunfähig oder völlig ratlos. Vielmehr wird er im Wissen um das Spannungsgefüge der Spätmoderne eindeutigen und einlinigen Erklärungen und einfachen, flächendeckenden Lösungen misstrauen. In diesem Sinne kann Praktische Theologie Reflexion und Orientierung erleichtern, indem sie erhellende Zusammenhänge aufweist und auf gelungene Beispiele zeitgemäßer Pastoral hinweist.40 Eine Praktische Theologie, die an der Zeit ist, kann so dem Volk Gottes auf dem Weg eine gute Begleiterin sein: Sie beansprucht in unübersichtlichen Zeiten nicht völlige Klarsicht, vernebelt aber auch nicht noch zusätzlich; sie bietet Deutungskategorien und Wegerfahrungen an, die Orientierung ermöglichen und zum nächsten Schritt ermutigen.

Differenzen der Spätmoderne

Praktische Theologie vor der Herausforderung der Gegenwart

Christian Bauer

„You better start swimming,
or you’ll sink like a stone […]“41

Eine exemplarische Szene: Während einer theologischen Diskussion über die Postmoderne meldet sich ein sympathischer Praktischer Theologe der älteren Generation zu Wort. Er beklagt, dass heute alles ins Schwimmen geraten sei. Man müsse daher nach festem Grund suchen – woraufhin ein Systematiker folgendermaßen reagiert: „Wo alles ins Schwimmen gerät, ist es das Falscheste, mit den Füßen nach festem Grund zu suchen. Dann ertrinkt man nämlich. Man sollte lieber versuchen, schwimmen zu lernen.“

Schwimmen lernen in den Wassern der Spätmoderne, das ist gar nicht so einfach ohne sicheren Halt unter den Füßen – aber so schwierig, wie es zunächst scheint, ist es auch nicht. Denn nachdem die Moderne ihren „Schiffbruch mit Zuschauer“42 erlitten hatte, schwimmt im spätmodernen Meer der Gegenwart noch mancherlei brauchbares Treibgut herum. Man kann sich daran festhalten. Und vielleicht auch kleine Boote daraus zimmern. Folgende Warnung Friedrich Nietzsches, eines philosophischen Ahnherren der Spätmoderne, sollte man dabei allerdings stets im Ohr behalten:

„Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh‘ dich vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei und Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. […] Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre, – und es giebt kein ‚Land‘ mehr!“43

Die Begegnung von Theologie und Spätmoderne ist ein entsprechendes Abenteuer44, für das wie für alle riskanten Unternehmungen gilt: Es kann auch scheitern. Die Theologie kann an dieser Herausforderung entweder wachsen oder aber untergehen – entziehen darf sie sich ihr jedenfalls nicht: „Denn gegen die Realität hilft kein Wünschen: Sie stellt vielmehr Aufgaben. […] Die ‚Postmoderne‘ [bzw. die Spätmoderne, Ch. B.] ist – ebensowenig wie die Moderne – etwas, das man widerlegen kann: Man kann in ihr bestehen oder scheitern.“45 Eine in diesem Sinn gegenwartsfähige Pastoraltheologie braucht ein „abenteuerliches Herz“46, wenn sie sich auf dem Diskursniveau ihrer Zeit furchtlos und schwimmbereit der jeweils schärfsten Herausforderung stellt. Sie hat dabei wenig zu verlieren und viel zu gewinnen. Denn in einer „Gesellschaft ohne Baldachin“47 steht der Himmel wieder offen – daher gilt: Keine Angst vor fremden Denkern! Heute ist auch in der Theologie nicht mehr (wie noch in der Moderne) die Zukunft das Projekt48, sondern vielmehr das Projekt die Zukunft. Die Spätmoderne steht damit in assoziativer Nähe zum Begriff des Spätwerks: gereift, verdichtet, abgeklärt, experimentierfreudig. Jeder spätmodern ausgerichteten Pastoraltheologie stünde es nicht schlecht an, genau diese Eigenschaften zu besitzen.

1. Postmoderne oder Spätmoderne?

Begriffe sind austauschbar, es kommt auf ihre Füllung an. Daher gilt es, einen theoretisch belastbaren Begriff von der eigenen Gegenwart zu entwickeln. Ohne dunkles Raunen, ohne modische Diskursaccessoires und jenseits kulturwissenschaftlicher Antragsprosa. Mangels besserer Alternativen wird im Folgenden ein arbeitstechnischer Hilfsbegriff zur näherungsweisen Bestimmung unserer Zeit vorgeschlagen: die Spätmoderne. Sie ist nichts anderes als die Gegenwart im Versuch ihrer begrifflichen Erfassung. Gegenüber dem landläufigen Begriff der Postmoderne hat dieser Begriff den entscheidenden Vorzug, dass er weniger vermeidbare Missverständnisse provoziert. Stichwort: konturlose Beliebigkeit. Es ist klar, dass dieser Begriff mit Jean-François Lyotard auch im Sinne des Folgenden ausgelegt werden kann. Es kommt dabei insgesamt weniger auf die Begriffe selbst an als auf ihren konkreten Gebrauch. Entsprechendes gilt für alternative Begriffe wie Reflexive, Radikale oder Zweite Moderne. Vielleicht sollte man ganz auf entsprechende Etikettierungen verzichten und einfach von ‚der Gegenwart‘ sprechen. In jedem Fall aber legt der Begriff der Spätmoderne weniger als jener der Postmoderne ein zeitliches Nacheinander nahe, welches das notwendig offene Projekt der Moderne als etwas längst Abgeschlossenes bzw. Überholtes erscheinen lässt – und im theologischen Bereich bruchlose Rückgriffe auf die Vormoderne zulässt (siehe zum Beispiel das angelsächsische Projekt Radical orthodoxy, aber auch die in gewissem Sinne ‚postmoderne‘ Schriftauslegung in den Jesus-Büchern von Papst Benedikt).

Die Spätmoderne hingegen steht in gebrochener Kontinuität zu einer Moderne, die sich ‚nach Auschwitz‘ ihrer eigenen Ambivalenzen bewusst wurde49 und die sich aus dem Impuls der Aufklärung heraus nun in selbstreflexiver Radikalisierung überschreitet – mit der Konsequenz, dass ein entsprechend „differenztheologisches Programm“50 nun auch in der Pastoraltheologie zu entwickeln ist. Dessen theogrammatisches Strukturformat51 besteht weder im „Entweder-oder“52 der Moderne (also: entweder Tradition oder Fortschritt, entweder Monarchie oder Demokratie, entweder Arbeit oder Kapital) noch im „Sowohl-als-auch“53 der Postmoderne (im Sinne eines anything goes, das dieser von Vertretern des „Entweder- oder“ von beiden Seiten moderner Dichotomien her zum Vorwurf gemacht wird), sondern vielmehr in der doppelten Verneinung eines „Weder-noch“54, das den akademischen Gottesdiskurs im Sinne eschatologischer Unabschließbarkeit prinzipiell offenhält. „Vive la différence“55 – mit diesem Wahlspruch verteidigt die Spätmoderne – zumindest im Bereich der nouvelles philosophes bzw. der French Theory – das Singuläre, Differente und Plurale gegen den potenziell totalitären Zugriff des Universalen, Identischen und Singularen: „Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenz, retten wir die Differenzen, retten wir die Ehre des Namens.“56

Der entscheidende Unterschied zwischen Postmoderne und Spätmoderne besteht im Kontrast von Pluralität und Differenz. Unsere Gegenwart ist keine postmoderne Blumenwiese kunterbunter Vielfalt, auf der sich die Pastoraltheologie auf eine semantische Blütenlese des Empirischen beschränken könnte, sondern vielmehr ein spätmoderner Kampfplatz stahlharter Vielheiten im Sinne Max Webers, auf dem sie sich nicht nur diskursiv, sondern auch existenziell bewähren muss: „[Die] verschiedenen Wertordnungen der Welt [stehen] in unlöslichem Kampf untereinander […]. Die alten […] Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern […] und beginnen […] wieder ihren ewigen Kampf.“57 Diese Worte vom neuen Ringen der alten Götter sind durch die Stahlgewitter des Ersten Weltkriegs hindurchgegangen. Dieses ‚Pascha‘ der Moderne eröffnete jenen großen „Weltbürgerkrieg“58, den Eric Hobsbawm das kurze 20. Jahrhundert nennt: von den Schüssen in Sarajevo bis zum Zusammenbruch des Sowjetreichs.59 Mit dem 9.11.1989 sind die alten Götter des 20. Jahrhunderts abgetreten. Längst haben neue den Kampfplatz betreten, die Nebel des Übergangs beginnen sich zu lichten. Neue große Erzählungen bestimmen eine zunehmend postsäkulare Weltpolitik. Spätestens seit mit dem 11.9.2001 das 21. Jahrhundert begann, zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die langen zehn Jahre zwischen 11/9 und 9/11 nicht das vermeintliche „Ende der Geschichte“60 brachten, sondern den Beginn einer Latenzphase zwischen dem Finale des 20. Jahrhunderts und der Ouvertüre des 21. Jahrhunderts markiert, die man die Epoche der Postmoderne nennen könnte: „Der Fall der Mauer und der Fall der Türme. […] Zwei Einstürze, aus denen sich mein […] Zeitgefühl erhebt. 11-9-9-11: Ein Palindrom der Bewusstwerdung meiner Generation […], das man vorwärts wie rückwärts lesen kann.“61

2. Universaler Widerstreit

Szenenwechsel. New York, am 8. Februar 2010. Investmentmanager weltweit agierender Hedgefonds treffen sich in Manhattan zu einem Abendessen.62 Man verabredet eine gemeinsame Wette gegen das hochverschuldete EURO-Land Griechenland, die schließlich die Einrichtung eines EU-Rettungsfonds erforderlich macht. Einige zum Teil noch sehr junge Manager, die sich in New York zu einem exklusiven Dinner treffen, spekulieren gegen ein Land und bringen damit einen ganzen Kontinent an den Rand des Scheiterns – wie kann das geschehen? Und wie kann es sein, dass genau jene Banker, die sich in der Finanzkrise noch mit staatlichem Geld retten ließen, inzwischen einfach so weiterspekulieren, als sei nichts geschehen?

Wohin angesichts dieser obszönen Kaltschnäuzigkeit mit der Wut? Wem soll man sie entgegenschleudern? Das Problem ist die Streuung möglicher Zielobjekte in der Spätmoderne: Spitzenmanager verweisen auf wirtschaftliche Zusammenhänge, deren Komplexität auch ein halbwegs intelligenter Zeitungsleser längst nicht mehr durchblickt. Wie kann Politik unter diesen Bedingungen überhaupt noch steuernd eingreifen? Es gibt keine schlichtende Metainstanz, an die man gegen diesen Zustand appellieren könnte. Was in den daraus resultierenden Paradoxien63 einzig bleibt, ist die Dilemmakompetenz eines kontrafaktisch durchgehaltenen Lebensmutes nach Art von Camus Sisyphos. Hier kommt der wohl leistungsfähigste Gesamtbegriff der Spätmoderne ins Spiel: der Widerstreit. Er wurde von Lyotard in seinem Buch Le différend entwickelt – und zwar in Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch der Shoa, der sogar noch die Beweise des Verbrechens selbst vernichtete:

„Widerstreit (différend) möchte ich den Fall nennen, in dem der Kläger seiner Beweismittel beraubt ist und dadurch zum Opfer wird. […] Zwischen zwei Parteien entspinnt sich ein Widerstreit, wenn sich die ‚Beilegung‘ des Konflikts, der sie miteinander konfrontiert, im Idiom der einen vollzieht, während das Unrecht, das die andere Seite erleidet, in diesem Idiom nicht figuriert.“64

Den zahllosen unterlegenen Opfern dieser Asymmetrie bleibt nur der Schlusssatz von Paul Celans Gedicht Aschenglorie:

„Niemand

zeugt für den

Zeugen.“65

Auschwitz ist der exemplarische Ort eines Widerstreits, der keine schlichtende Metainstanz mehr kennt, sondern nur noch Kombattanten: „Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.“66 Michel Foucaults Umkehrung des Clausewitz-Diktums belegt, dass es keine „kristallinen Sphäre reinen Denkens“67 außerhalb der agonalen Grundstruktur des Seins gibt. Hier spielt eine staatsrechtliche Auseinandersetzung aus der Weimarer Republik eine wichtige Rolle. Carl Schmitt, der spätere ‚Kronjurist Hitlers’, machte gegen den Staatsrechtler Hans Kelsen eine politisch verunreinigte „Soziologie der Begriffe“68 stark:

„Alle soziologischen Elemente werden aus dem juristischen Begriff ferngelassen, damit in unverfälschter Reinheit ein System von Zurechnungen auf […] eine letzte einheitliche Grundnorm gewonnen wird. […] Die Einheit der Rechtsordnung […], das heißt der Staat, bleibt im Rahmen des Juristischen von allem Soziologischen ‚rein’. […] Einheit und Reinheit sind aber leicht gewonnen, wenn man […] alles, was sich der Systematik widersetzt, als unrein ausscheidet. Wer sich auf nichts einlässt […], hat es leicht, zu kritisieren.“69

Generell gilt vor diesem Horizont: Der universale Widerstreit der Spätmoderne hat kein Außen. Sich für die Universalität der Menschenrechte einzusetzen, ist in diesem Widerstreit ohne Schlichtungsinstanz nur ein Geltungsanspruch unter vielen – wenn auch eine unbedingt anzustrebender. Inmitten des globalen Widerstreits gilt es zumindest, die „leere Mitte“70 einer offenen Gesellschaft freizuhalten: „Eine Gesellschaft, die sich nicht einschüchtern lässt, die Opfer aushält und ihr offenes Leben weiterlebt, ist vom Terror nicht zu besiegen.“71 Angesichts des 11. September 2001 lautet die Frage an den Westen: „Haben wir auf dem gleichen vitalen Niveau der Hingabe etwas anderes entgegenzusetzen?“72 Das entsprechende Zeugnis einer offenen Gesellschaft für die Würde des Menschen ist man zumindest den Opfern der Shoa, der zentralen Katastrophe der Moderne, schuldig. Noch einmal Celan:

„Tief

in der Zeitenschrunde

beim

Wabeneis

wartet, ein Atemkristall,

dein unumstößliches

Zeugnis.“73

Rainer Bucher hatte zu Beginn der theologischen Debatte um die Postmoderne vorgeschlagen, diesen Begriff im Sinne einer „gegenwartsanalytischen Kategorie“74 vor allem soziologisch zu verwenden. Die Spätmoderne wäre dann vor allem ein Produkt funktionaler Differenzierungsprozesse der Moderne, die zu einer Individualisierung der Lebensstile und zu einer Pluralisierung der Weltbilder führten. Das ist durchaus richtig, wird aber der skizzierten Herausforderung wohl nicht ganz gerecht. Es stellt sich die Frage: „Welche Philosophie braucht die Pastoraltheologie?“75 Betrachtet man die großen philosophischen Schulen der Gegenwart in ihrem Bezug zu entsprechenden Zeichen der Zeit, so lässt sich das Denken spätmoderner Franzosen als eine „von prägnanten Zeichen signierte“76 Philosophie identifizieren, die Frankfurter Schule mit ihren Sozialutopien herrschaftsfreier Kommunikation als eine „von diffusen Zeichen signierte“77 und die Analytische Philosophie mit ihren historisch kaum affizierten sprachlogischen Schlussverfahren als eine „asignierte“78 Philosophie. Das letztere Denkformat ist nur durch massive Abblendungen möglich: