GÜNTER HUTH

Zerbrochene Seelen

GÜNTER HUTH

Zerbrochene Seelen

Ein Simon Kerner Thriller

echter

Mainfranken Krimi

Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben.

Er ist Rechtspfleger (Fachjurist), verheiratet, drei Kinder.

Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich (ca. 65 Bücher). Außerdem hat er bisher Hunderte Kurzerzählungen veröffentlicht.

In den letzten Jahren hat er sich vermehrt dem Genre Krimi zugewandt und in diesem Zusammenhang bereits einige Kriminalerzählungen veröffentlicht. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi. »Der Schoppenfetzer« war geboren. Diese Reihe hat sich mittlerweile als erfolgreiche Serie in Mainfranken und zwischenzeitlich auch im außerbayerischen »Ausland« etabliert.

2013 ist der erste Band der Simon-Kerner-Reihe mit dem Titel Blutiger Spessart erschienen. Es folgte Das letzte Schwurgericht, anschließend Todwald – Der Spessart tötet leise und zuletzt Die Spur des Wolfes – Im Spessart lauert der Tod.

Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung »Das Syndikat«.

Seit 2013 widmet er sich beruflich ausschließlich dem Schreiben.

Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans

sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder

lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen

Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Prolog

Der Spielplatz lag am Rande der Neubausiedlung, in der unmittelbaren Nähe eines Wäldchens. Eigentlich verdienten die wenigen, ziemlich heruntergekommenen Klettergeräte kaum die Bezeichnung Spielplatz. Es gab in der Siedlung nur eine geringe Anzahl Kinder, die diesen Platz gelegentlich in Begleitung ihrer Eltern aufsuchten. Hin und wieder trafen sich hier zu später Stunde Teenager oder Liebespaare und genossen die Ungestörtheit im Schutz der Bäume.

Mit reichlich verbiesterter Miene schob Mathilda den Kinderwagen mit Fritz, ihrem vierzehn Monate alten Bruder, über den Schotterweg, der zum Spielplatz führte. Trotz ihrer massiven Proteste bestand ihre Mutter darauf, mit diesem nervigen Schreihals eine größere Runde um die Häuser zu drehen. Der Kleine bekam gerade Zähne und hielt die ganze Familie mit seinem Geschrei auf Trab. Mal ganz abgesehen davon, dass Mathilda grundsätzlich auf diesen Nachkömmling gut hätte verzichten können, war sie heute richtig sauer, denn ihre Mutter verdarb ihr mit diesem aufgenötigten Babysitting den ganzen Abend. Zunächst hatte Mathilda etwas gezögert, dann aber alle Skrupel beiseitegeschoben und dem kleinen Schreihals kurz vor dem Weggehen eine Dosis des Beruhigungsmittels verabreicht, das der Kinderarzt wegen der Zahnschmerzen für alle Fälle verschrieben hatte. Tatsächlich beruhigte sich der Junge schnell und das Schaukeln des Kinderwagens beim Schieben tat sein Übriges: Fritz schlief tief und fest.

Sie hoffte darauf, dass Lutz, der Junge, mit dem sie verabredet war, Verständnis dafür hatte, dass sie Fritz mitbringen musste. Wenn der Kleine weiterhin so ruhig war und schlief, würde sie ihn etwas abseits parken. So konnte er sie nicht stören.

Lutz war an der Schule ein begehrter Junge. Er ging in die Klasse über ihr und sollte, wie sie von ihren Freundinnen gehört hatte, ziemlich erfahren sein. Sie war vor Stolz fast geplatzt, als er sie vor zwei Tagen auf dem Schulhof gefragt hatte, ob sie sich heute mit ihm treffen würde. Als sie sich dem Spielplatz näherte, war keine Menschenseele zu sehen. Sie warf einen Blick auf das Dispiay ihres Smartphones. Sie war zehn Minuten zu früh. Am Waldrand stand eine grob behauene Bank aus Holzbohlen. Von dieser Stelle aus verlief ein schmaler Trampelpfad durch die Büsche und Hecken und verlor sich im Wald. Ein beliebter Weg für Spaziergänger mit Hund.

Mathilda stellte den Kinderwagen neben der Bank ab und ließ sich darauf nieder. Ihr Smartphone zeigte an, dass keine neue Nachricht eingegangen war. Fritz bewegte sich im Schlaf und gab einige leise Töne von sich. Besorgt hielt sie den Atem an, aber gleich lag er wieder ganz ruhig.

Plötzlich hörte sie auf dem Schotterweg, der zum Spielplatz führte, das Knirschen von Fahrradreifen. Da kam Lutz auch schon auf einem Mountainbike herangerauscht. Kurz vor Mathilda hieb er die Bremsen rein und schlitterte mit ausbrechendem Hinterrad über den Weg. Das Herz des Mädchens schlug bis zum Hals. Mit einem schnellen Seitenblick vergewisserte sie sich, dass ihr Bruder durch den Krach nicht aufgewacht war.

»Hi!«, rief Lutz und sprang vom Rad. Dabei warf er einen kritischen Blick auf den Kinderwagen. »Was ist denn das?«

»Hi, Lutz«, erwiderte sie und ärgerte sich über ihre Stimme, die plötzlich so piepsig klang. »Ich musste leider meinen kleinen Bruder mitnehmen, sonst wäre ich nicht von zuhause weggekommen … aber der schläft tief und fest.«

»Nicht so schlimm. Ich habe auch Geschwister. Können manchmal ganz schön nervig sein. Kannst du ein bisschen bleiben?«

»Ja, klar. Wenn ich in einer Stunde zurück bin, sagt keiner was.«

»Wollen wir ein bisschen herumlaufen?«, fragte Lutz und klappte den Fahrradständer aus.

»Gerne«, erwiderte Mathilda aufgeregt. »Wir können den Kinderwagen hier stehen lassen. Wir sind ja in der Nähe und hören es, falls er aufwacht und schreit.«

Sie entfernten sich schlendernd von der Bank. Nachdem sie einige Schritte wortlos gegangen waren, legte Lutz plötzlich wie selbstverständlich seinen rechten Arm um ihre Schulter. Ein wohliger Schauer lief durch ihren ganzen Körper und sie schmiegte sich näher an ihn. Sie fühlte, wie seine Hand an ihrer Schulter ein Stückchen tiefer rutschte und sein Daumen sanft ihren Oberarm streichelte.

Obwohl Mathilda sich wie im siebten Himmel fühlte, bohrte sich immer wieder ein störender Gedanke in ihre Gefühlswelt. Sie wollte Lutz sicher nicht verprellen, aber da war etwas, was geklärt werden musste, bevor sie sich ohne Vorbehalte auf ihn einlassen konnte.

»Du, kann ich dich mal was fragen?«, begann sie vorsichtig.

»Klar«, erwiderte er.

»Ich habe dich in der letzten Zeit häufiger mit Svenja aus der Parallelklasse gesehen …«

Lutz blieb stehen und wandte sich ihr zu. »Stimmt, wir haben uns ein paarmal getroffen. Aber das ist vorbei. Sie ist eine ziemliche Zicke. Ganz anders als du«, fügte er hinzu.

Mathilda fiel ein Stein vom Herzen. »Wie bin ich denn?«, wollte sie wissen.

»Ziemlich cool, denke ich. Wie du kürzlich den Lars auf dem Schulhof fertiggemacht hast, weil er dich blöd angemacht hat, wirklich cool.«

»Der Blödmann hat über WhatsApp verbreitet, ich hätte ein Tattoo am Hintern. Womit er alle glauben machen wollte, er hätte schon mal meinen nackten Po gesehen. Dieser Typ ist doch zum Kotzen!« Sie musste sich zusammenreißen, dass sie nicht wütend wurde.

Sie liefen ein Stück weiter und erreichten schließlich die gegenüberliegende Seite des Spielplatzes. Durch die fortschreitende Dämmerung war der Kinderwagen, der von ein paar verstreut stehenden Büschen leicht verdeckt war, nur noch schemenhaft zu erkennen. Plötzlich blieb Lutz stehen und drehte sich zu ihr. Er legte seine Hände hinter ihrem Hals zusammen und zog sie näher zu sich. Ohne weitere Worte beugte er sich vor und gab ihr einen leichten Kuss auf den Mund.

»Ich finde es echt geil hier mit dir«, flüsterte er anschließend leise.

Durch Mathildas Körper lief ein Schauer und in ihrem Bauch führten Schmetterlinge einen wilden Reigen auf. Ein Gefühl, das ihr fast die Sinne raubte. Sie vergaß die Zeit und alles um sich herum, spürte nur noch die Wärme des Jungen, der erneut ihren Mund suchte. Irgendwann lösten sie sich voneinander und schlenderten langsam den Weg zurück.

»Sind wir jetzt fest zusammen?«, wollte Mathilda schließlich leise wissen.

»Klaro«, gab Lutz zurück und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Sie näherten sich wieder dem Kinderwagen. Fritz schien noch immer tief und fest zu schlafen. Während Lutz sein Fahrrad ergriff, warf Mathilda einen flüchtigen Blick in den Kinderwagen. Sie erstarrte! Hastig trat sie einen Schritt näher.

»Lutz! Mein Gott! Fritz ist weg!« Ihr Aufschrei war so entsetzt, dass der Junge sein Rad fallen ließ und schnell neben sie trat. Tatsächlich, der Kinderwagen war leer! Darin befand sich nur noch die überzogene Matratze.

Mit irrem Blick suchte Mathilda die nächste Umgebung des Kinderwagens ab. Vielleicht war Fritz irgendwie herausgefallen. Weit und breit war von dem kleinen Jungen aber nichts zu sehen. In völliger Verzweiflung rannte das Mädchen um den Wagen herum und suchte die nächste Umgebung ab.

»Das gibt es doch nicht!«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. »Gerade war er doch noch da!« Tränen schossen ihr in die Augen. »Wo kann er denn sein?« Sie versuchte, die mittlerweile eingetretene Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen.

»Wir müssen deine Eltern verständigen!« Lutz wusste ihr im Augenblick auch nicht anders zu helfen, er hatte das dumpfe Gefühl, dass hier etwas sehr Schlimmes geschehen war. Mathilda wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, dann griff sie zum Handy. Plötzlich kam ihr eine Idee und schlagartig erschien ein zorniger Gesichtsausdruck auf ihrer Miene. Lutz sah sie verwundert an. Sie machte ihm ein abwartendes Zeichen mit der Hand und wählte. Einen Moment später ging offenbar ihre Mutter ans Telefon.

»Hallo Mama, das finde ich überhaupt nicht lustig!« Offenbar kam eine erstaunte Gegenreaktion, denn sie fuhr fort: »Ich war nur ein paar Meter von Fritz entfernt und er hat tief und fest geschlafen. Du kannst ihn doch nicht so einfach mitnehmen, nur um mich zu erschrecken!«

Die jetzige Gegenrede dauerte etwas länger und war so laut, dass Lutz einige Worte verstehen konnte. Mathildas Mutter sprach sehr erregt und machte deutlich klar, dass sie gar nicht wusste, wovon ihre Tochter sprach.

»Mama«, erwiderte das Mädchen wieder völlig betroffen, »Fritz ist nicht mehr da. Der Kinderwagen ist leer.« Schluchzend fuhr sie fort: »Ich kann doch nichts dafür. Ich weiß nicht, was ich machen soll!«

Die Antwort war kurz und knapp, dann war das Gespräch unterbrochen. Lutz nahm das weinende Mädchen in den Arm. Er war mit dieser Situation völlig überfordert.

»Was wird jetzt?«, fragte er schließlich leise.

»Mama und Papa sind schon auf dem Weg hierher«, gab sie mit zitternder Stimme zurück. »Bleibst du bitte bei mir?«

Lutz war klar, dass es gleich gewaltigen Ärger geben würde. Aber er war kein Feigling. Selbstverständlich würde er Mathilda zur Seite stehen.

Das Auto von Agnes und Willi Hallhuber raste mit Hochgeschwindigkeit die Straße entlang, die zum Kinderspielplatz führte. Als die beiden Scheinwerfer Mathilda aus dem Dunkel schälten, bremste der Wagen ab. Mit laufendem Motor blieb das Auto stehen und die beiden Eheleute stürtzten heraus. Mit einer Mischung aus Zorn und Sorge eilten sie auf Mathilda und Lutz zu.

»Mama, Papa, ich kann wirklich nichts dazu!«, rief ihnen ihre Tochter beschwörend entgegen. »Lutz, mein Freund hier, kann das bestätigen.«

Der Junge nickte zustimmend.

Die Eheleute starrten in den leeren Kinderwagen.

»Mathilda, wie konntest du so unzuverlässig sein und den Kleinen alleine lassen!«, schrie ihre Mutter völlig entnervt. »… und du hast auch nichts Besseres zu tun, als sie von ihren Pflichten abzulenken!«, fauchte sie in Lutz’ Richtung.

Lutz schnappte nach Luft und wollte eine Erklärung abgeben, aber da trat Herr Hallhuber nach vorne, nahm seine Frau in den Arm und bat, sichtlich um Beherrschung bemüht: »Junge, bitte in Kurzform, was ist passiert?«

Sich gegenseitig ergänzend, schilderten Mathilda und Lutz den Ablauf des Abends, wobei sie allerdings in stillem Einverständnis einige intime Details ausließen. Als die beiden verstummten, machte Mathildas Vater eine resignierende Handbewegung. Ohne den Bericht in irgendeiner Form zu kommentieren, erklärte er mit rauer Stimme: »Dann werden wir wohl die Polizei verständigen müssen. Wie es aussieht, wurde unser Fritzchen entführt.« Er griff zum Mobiltelefon.

Während er wählte, kam ein lautes schmerzhaftes Aufheulen von Frau Hallhuber. Zunächst sah es so aus, als würde sie zusammenbrechen, doch dann stürzte sich die Frau schreiend und mit erhobenen Fäusten auf ihre Tochter und trommelte verzweifelt auf sie ein. Mathilda hob schützend ihre Arme über den Kopf, dann flüchtete sie sich in Lutz’ Arme. Der Junge hatte alle Mühe, das Mädchen vor der Attacke ihrer Mutter zu schützen.

Eine Viertelstunde später näherte sich ein Streifenwagen mit Blaulicht und Sirene. Die beiden Streifenbeamten kamen mit Taschenlampen in den Händen auf die Wartenden zu. Kurz darauf ging ein Funkspruch an die Einsatzzentrale, mit dem die Streifenbeamten die Spezialisten von der Kriminalpolizei anforderten.

Die Entführung von Baby Fritz ging wie ein Lauffeuer durch alle Medien der Bundesrepublik. Die verzweifelten Eltern starteten Aufrufe im Fernsehen und appellierten an die Entführer, sie mögen ihnen doch ihre Forderungen nennen, sie wären bereit alles zu tun, um ihr Kind gesund zurückzubekommen.

Tagelang wurde das Waldstück, wo die Entführung stattgefunden hatte, mit Hunden und Suchketten der Bereitschaftspolizei durchkämmt. Die Telefonleitung der Hallhubers überwachte man mit einer Fangschaltung, falls sich die Entführer meldeten. Parallel wurden das Umfeld von Lutz und auch das Familienleben der Hallhubers durchleuchtet, da man ja nie ausschließen konnte, dass die Eltern in die Sache verstrickt waren. Die eingerichtete Sonderkommission »Baby Fritz« sondierte alle eingehenden Hinweise aus der Bevölkerung, die aber zu keinem Ergebnis führten.

Nach zwei Wochen ließ die Hoffnung, das Kind gesund wiederzufinden, merklich nach. Von den Entführern meldete sich niemand. Mit jedem Tag, der erfolglos verging, wurde den Polizisten immer klarer, dass die Aussicht, das Kind lebend wiederzufinden, immer mehr gegen null tendierte. Alle anderen Ermittlungsansätze verliefen ebenfalls im Sand. Die Sonderkommission wurde zwar noch aufrechterhalten, personell aber stark heruntergefahren. Das Verschwinden von Fritz wurde in die Reihe der Entführungsfälle eingeordnet, die ein Rätsel blieben. Auch die Presse wandte sich aktuelleren Themen zu.

1

Es war fast fünf Uhr morgens. Jetzt im Frühling würde es noch gut zwei Stunden dauern, bis die Sonne aufging. Der Mann parkte den dunkelgrauen Mercedes auf der Stellfläche vor seiner Garage, da er um diese Uhrzeit keinen unnötigen Lärm veranstalten wollte. Die Tür drückte er mit einer energischen Bewegung des Knies zu. Fast lautlos rastete das Schloss des Oberklassenfahrzeugs ein. Die Begrenzungsleuchten des Wagens blinkten mehrmals hektisch auf, als er mit der Fernbedienung abschloss.

Den dunkelfarbenen Renault Kangoo auf einem Stellplatz zwischen zwei frisch gepflanzten Kastanienbäumen am Rande der neu gebauten Straße, ein Stück von seinem Haus entfernt, bemerkte er nicht. Diese Straße durchlief das Würzburger Neubaugebiet Am Hubland, ehemals Gelände der US-Armee, und sollte nach den Vorstellungen der Städteplaner zukünftig beiderseits von Einfamilien- und Reihenhäusern gesäumt werden. Im Augenblick gab es noch zahlreiche verwilderte Baulücken, die, aber schon mit farbigen Vermessungspflöcken versehen, die geplanten Parzellierungen erkennen ließen.

Der Mann, eine Sporttasche schlenkernd, näherte sich lockeren Schrittes dem Einfamilienhaus, das zu beiden Seiten durch jeweils drei leerstehende Bauplätze von den nächstliegenden fertiggestellten und bewohnten Häusern getrennt war. Er verzog verärgert das Gesicht, als eine der Steinplatten des Weges unter seinen Füßen leicht wackelte. Gleich morgen früh würde er die Firma anrufen und den Mangel reklamieren.

Das Haus lag in völliger Dunkelheit, da eine tiefhängende Wolkendecke das Mondlicht verfinsterte und eine flächendeckende Straßenbeleuchtung hier erst im Entstehen war. Seine Frau Eleonore und seine beiden Kinder, Silva, ein Mädchen von zehn Jahren, und der zwölfjährige Max, schliefen sicher tief und fest im oberen Stockwerk, wo sich die Schlafräume befanden. Sie wähnten den Ehemann und Vater im Klinikum bei der Arbeit als Oberarzt. Um seine Familie nicht zu stören, würde er sich jetzt in seinem Arbeitszimmer im unteren Stockwerk auf einer Couch zur Ruhe legen. Dies war wegen seiner unregelmäßigen Dienste eine durchaus gängige Praxis, mit der sich seine Frau schon lange abgefunden hatte.

Gerade als er den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, überkam ihn unvermutet das bedrohliche Gefühl körperlicher Nähe. Ehe er reagieren konnte, fühlte er an seinem Hals eine kalte Berührung, dann fuhr ein heftiger Stromschlag durch seinen Körper, der alle seine Muskeln verkrampfen ließ und ihm die Sinne raubte. Wie ein gefällter Baum kippte er um. Ehe er den Boden berührte, wurde er von zwei starken Armen aufgefangen. Der hochgewachsene Mann, der sich ihm völlig unbemerkt genähert hatte, ließ sein Opfer langsam auf die Betonplatten sinken. Er holte eine aufgezogene Spritze aus der Brusttasche seines schwarzen Jogginganzugs, dann schob er den Hemdärmel seines Opfers in die Höhe und stach die Nadel routiniert in die Muskulatur. Zügig injizierte er das schnell wirkende Betäubungsmittel. Anschließend schob er die Nadel wieder in ihre schützende Hülle und steckte die Spritze ein. Noch immer über den liegenden Mann gebeugt, prüften seine Augen zum wiederholten Male die Umgebung. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Vorsichtig hob er den erschlafften Körper des Mannes in die Höhe. Obwohl er ausgesprochen kräftig war und sein Opfer kaum Übergewicht hatte, kündete ein leises Ächzen von der körperlichen Anstrengung, als er sich den Mann mit Schwung über die Schulter wuchtete. Mit der freien Hand schnappte er sich seine Sporttasche und eilte mit kurzen, schnellen Schritten zum Kastenwagen. Dort verfrachtete er sein betäubtes Opfer auf die Ladefläche, die mit einer Plastikplane ausgekleidet war. Mit wenigen Handgriffen warf er einige Decken über den Körper, dann schloss er leise die Türe. Nach seiner Berechnung genügte die verabreichte Dosis für eine ausreichend lange Betäubung. Während er sich hinter das Steuer schob, bewegte er seine Schultern und den Kopf in kleinen kreisenden Bewegungen, um die vom Tragen angestrengte Muskulatur zu lockern. Einen Moment später lenkte er den Renault aus der Parklücke. Erst gute hundert Meter von dem Haus entfernt schaltete er das Fahrlicht ein.

Das Erwachen war wie das Auftauchen aus einem tiefen, schweren Traum. Beim Versuch, die Augen zu öffnen, stach ihm gleißendes Licht wie Dolchspitzen in die Augen. Blitzschnell schloss er sie wieder, bis er es einen Moment später erneut versuchte. Die Helligkeit kam von mehreren Leuchtstoffröhren, die über ihm an der Decke befestigt waren. Er lag flach auf einem glatten, kalten Untergrund. Als Nächstes registrierte er seine vollständige Nacktheit. Beim Versuch, sich aufzurichten, bemerkte er mehrere breite Kunststoffriemen, die über seinem Oberkörper verliefen und ihn an Ort und Stelle fixierten. Die ebenfalls festgeschnallten Arme lagen seitlich ausgestreckt auf einer Liege. Er hob seinen Kopf, soweit es ging. Sein Blick huschte irritiert durch einen völlig weiß gefliesten Raum. Mit Entsetzen registrierte er seine gespreizten Beine, die an die Beinhalterungen eines gynäkologischen Stuhls geschnallt waren. Jetzt erst nahm er auch die Kühle seiner Umgebung war. Ein eiskalter Schauer fuhr durch seinen Körper und vertrieb den letzten Rest des Betäubungsmittels aus seinem Kopf. Stattdessen wurde er von Furcht ergriffen. Noch nie in seinem Leben hatte er sich derart ausgeliefert gefühlt. In seiner Welt war er es, der über das Schicksal anderer Menschen entschied. Seine Augen erfassten jedes Detail dieses Raumes, der ihn in seiner sterilen Ausstrahlung in frappierender Weise an einen der Operationssäle erinnerte, in denen er tagtäglich arbeitete. Erstaunlicherweise beruhigte ihn dies aber nicht, eher im Gegenteil. Bevor er sich so weit gefasst hatte, dass er seine gegenwärtige Lage halbwegs rational analysieren konnte, öffnete sich zu seinen Füßen an der Schmalseite des Raumes eine Tür. Ein hochgewachsener Mann trat ein, der vollständig mit einem weißen Schutzoverall bekleidet war, der die Konturen seines Körpers verwischte. Sein Kopf verschwand unter einer gleichfarbigen Haube, die nur zwei Öffnungen für die Augen besaß. Seine Hände steckten in Gummihandschuhen, seine Schuhe in Überziehern, die er ebenfalls aus dem OP-Saal kannte. Langsam kam der Mann näher und musterte wortlos seinen Gefangenen mit dem abschätzenden Blick eines Henkers, der den Delinquenten daraufhin begutachtete, was er ihm zumuten konnte.

Der Mann auf dem Stuhl hielt es nicht länger aus. Mit einer rauen Stimme, die er selbst kaum wiedererkannte, stieß er hervor: »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Was soll das alles?« Er zerrte heftig an den Bändern.

Wortlos umkreiste der Vermummte den Stuhl. Verkrampft folgte ihm der Gefangene mit den Augen.

»Sie sind Privatdozent Dr. Philipp Lohneis?«, kam die kräftige Stimme des Mannes etwas gedämpft unter der Maske hervor.

Der Gefangene war von dieser sachlichen, emotionslosen Frage so überrascht, dass er nur zustimmend nicken konnte.

»Wenn Sie meine Fragen bitte laut beantworten. Unser Gespräch wird aufgezeichnet und ich möchte nicht, dass es irgendwann zu Irritationen kommt. – Also, noch einmal: Sie sind Privatdozent Dr. Philipp Lohneis? Oberarzt der kinderchirurgischen Abteilung der Uni-Klinik Würzburg?«

»Das ist richtig«, gab Lohneis nunmehr vernehmlich zurück. »Aber warum wollen Sie das wissen? Und weswegen liege ich hier nackt festgeschnallt auf diesem Stuhl?« Zur Unterstreichung seiner Worte riss er wieder heftig an den Fesseln. Zorn begann seine Furcht zu überdecken.

»Sie sind hier wegen Anni Neugebauer. Neun Jahre alt, blond, mit blauen Augen. Sie kennen Anni Neugebauer!«

»Eine Patientin mit diesem Namen ist mir unbekannt!«, kam es unerwartet heftig von Lohneis.

»Anni Neugebauer war nie Ihre Patientin.« Er äußerte dies mit der gleichen Ruhe und Gelassenheit wie seine Sätze davor. »Sagen Sie mir, wo Sie mit ihr zusammengekommen sind.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen! Binden Sie mich endlich los!« Wieder riss er an seinen Fesseln.

Der Maskierte reagierte nicht darauf, vielmehr drehte er sich herum und verließ den Raum. Der Gefangene erstarrte und blickte ihm wie paralysiert hinterher. Eine schreckliche Furcht lähmte plötzlich seinen Verstand. Nach einer Weile kam der Mann zurück. Er trug einen länglichen Gegenstand in seiner Hand, den der Mediziner nicht gleich identifizieren konnte. Plötzlich drang ein schwer beschreibbarer Geruch an seine Nase, der ihm aber irgendwie bekannt vorkam. Schlagartig kam ihm die Erkenntnis! Es war der Geruch, der im OP entstand, wenn ein Kauter, ein elektrisch erhitzbares Operationsinstrument zum Einsatz kam, mit dem man beispielsweise Blutungen stillen konnte.

Mit schreckensweit geöffneten Augen fühlte er auf seiner Haut die starke Hitze, die von dem Gegenstand ausging, als sein Peiniger sich zwischen seine gespreizten Beine stellte.

»Sagen Sie mir, wo Sie das Kind getroffen haben, dann werde ich Sie vorher betäuben.«

Als Lohneis das Brandeisen erkannte, begann er unartikuliert zu schreien. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, würgte er hervor. »Sie sind ja völlig wahnsinnig!«

»Wie Sie wollen«, erwiderte der Mann mit großer Ruhe, dann zielte er mit dem glühenden Eisen, das er mit beiden Händen an einem Holzgriff hielt, auf den Bauch dicht unterhalb des Bauchnabels. Lohneis kämpfte wie ein Rasender gegen seine Fesseln, die ihn unbarmherzig fixierten. Mit einer entschlossenen Bewegung drückte der Mann das heiße Metall fest auf den Unterbauch des Gefangenen. Es zischte und beißender, stinkender Qualm stieg auf. Nach drei Sekunden nahm er das Eisen wieder weg. Das nicht mehr enden wollende, unmenschliche Gebrüll des gemarterten Mannes schallte schaurig von den gefliesten Wänden wider. Nach einem letzten Aufbäumen sackte Lohneis in sich zusammen. Eine gnädige Ohnmacht nahm ihm für den Augenblick den Schmerz.

Der Vermummte legte das Brandeisen in ein Handwaschbecken mit Wasser. Zischend und dampfend kühlte es ab. Dann trat er an sein Opfer heran und musterte ohne Gefühlsregung das Ergebnis seiner Tat. Die Brandwunden hoben sich wulstartig von der Haut ab. Deutlich war das aufgeplatzte, blanke Fleisch sichtbar. Sie würden später gut sichtbare Narben abgeben, wodurch die Botschaft für immer gut lesbar sein würde. Er trat neben den Gefesselten und schlug ihm auf die Wangen. Es war noch nicht zu Ende. Auch den zweiten Akt sollte der Mann bei vollem Bewusstsein mitbekommen. Wenig später flatterten Lohneis’ Augenlider und er kam zu sich. Sofort schoss der überwältigende Schmerz durch seinen Körper und ein gequältes Stöhnen kam aus seinem Mund.

Sein Peiniger wartete noch einen kurzen Moment, bis er sicher sein konnte, dass sein Gefangener seine weiteren Handlungen voll zur Kenntnis nahm, dann ging er zu dem Tisch mit den aufgereihten Instrumenten. Gezielt wählte er ein bestimmtes aus, dann trat er erneut zwischen die Beine seines Opfers und machte sich ans Werk. Wieder wurden die kalten Wände Zeugen der Grausamkeit des Täters.

Kurz vor Ende der Nachtschicht wurde die diensthabende Krankenschwester durch heftiges Klingeln am Eingang der Notfallambulanz des Missionsärztlichen Klinikums in Würzburg aufgeschreckt. Sie eilte zur Gegensprechanlage und meldete sich, erhielt aber keine Antwort. Etwas verärgert, weil sie wieder einmal auf die geistlose Aktion eines Betrunkenen tippte, eilte sie zum Eingang und öffnete per Knopfdruck die Doppeltür. Kaum waren die Türflügel aufgeschwungen, erkannte sie draußen einen am Boden liegenden nackten Mann. Sie eilte zu ihm und war sich nach einem kurzen Blick sofort darüber im Klaren, dass sich der Ärmste in einem lebensgefährlichen Zustand befand. Hektisch alarmierte sie eine Kollegin und den diensthabenden Arzt.

Das Überwinden der Schwerkraft seiner Augenlider kostete ihn enorme Kraft. Er hatte das Gefühl, dass Tonnengewichte an ihnen hängen würden. Obwohl im Raum nur ein schwaches Dämmerlicht herrschte, erschien es ihm, als würde durch die dünnen Schlitze seiner fast geschlossenen Lider gleißendes Scheinwerferlicht dringen. Nur träge setzte sein Verstand wieder ein und ließ ihn einige Gegenstände in seiner Umgebung schemenhaft erfassen.

Nachdem sich seine Augen halbwegs an das Licht gewöhnt hatten, öffnete er sie ganz. Seinen Empfindungen und seinem Wahrnehmungsvermögen nach befand er sich in einem Zustand wie nach dem Erwachen aus einem tiefen Schlaf. Im Zeitlupentempo bewegte er seinen Kopf und versuchte den gesamten Raum zu erfassen. Er erkannte, dass er von medizinischen Geräten umgeben war. Sein Blickfeld ermöglichte ihm die Wahrnehmung einer Glaswand, hinter der ebenfalls Licht, helleres Licht, brannte. Jetzt hörte er auch Geräusche. Es war das fast schon melodisch zu nennende Zusammenspiel verschiedener Tonquellen. Von einem Augenblick auf den anderen wusste er, dass es sich um Maschinengeräusche von Computern handelte, die seine vitalen Funktionen überwachten.

Nur mühsam lichtete sich der Nebel um seinen Verstand, ohne jedoch vollständig zu weichen. Einen Augenblick später überraschte ihn die Erkenntnis. Plötzlich erkannte er, diese Umgebung war fester Bestandteil seines Lebens. Sein Beruf war es, zu wissen, wie diese Geräte funktionierten und einzusetzen waren. Aber irgendetwas schien an der gegenwärtigen Situation total falsch! Es war für ihn nicht normal, diese Dinge passiv zu erleben, gewissermaßen als Konsument, denn er war Arzt!

Als er seine Hand heben wollte, um sich über das Gesicht zu fahren, stellte er fest, dass dies nicht möglich war. Der dadurch ausgelöste Impuls riss die letzten Nebelfetzen zur Seite. Wie eine riesige Tsunamiwoge fegte die grausame Erkenntnis über ihn hinweg und hinterließ blankes Entsetzen. Der Schock war so stark, dass er sekundenlang glaubte, sein Herz würde explodieren. Er zerrte heftig an den Fixierungen, wodurch einige der Apparate Alarm auslösten. Gleichzeitig schickte sein malträtierter Körper Schmerzen in sein Gehirn, was ihn zu einem verzweifelten Schrei veranlasste.

Ein fremdes Gesicht trat in sein Blickfeld, dessen Mund Worte formte, die ihn jedoch nicht erreichten. Sekunden später bemächtigte sich wieder der Nebel seines Verstandes und mit ihm kam gnädige Ohnmacht, die jede Art von Selbsterkenntnis auslöschte.

Der Leiter der Intensivstation nahm die Hand von dem Knopf, mit dem er gerade am Tropf die Dosis des Medikaments, mit dem er den schwer traumatisierten Patienten sedierte, deutlich heraufgesetzt hatte. Mit Sorge blickte er auf den Mann herab, dem man Verletzungen von einer Grausamkeit zugefügt hatte, wie er sie in seiner gesamten beruflichen Laufbahn als Chefarzt noch nie gesehen hatte. Sicher würde der Patient bei entsprechender Behandlung gute Chancen haben, körperlich zu genesen. Eine ganz andere Frage war die Psyche. Deshalb und wegen der massiven Schmerzen, die bei diesen Verletzungen auftraten, hatte die Ärztekonferenz des Klinikums beschlossen, den Patienten einige Zeit in ein künstliches Koma zu versetzen. Eigentlich hätte er, wie gerade geschehen, noch gar nicht erwachen dürfen. Wahrscheinlich war die Dosis des Betäubungsmittels zu schwach gewählt worden. Der Arzt wartete einen Moment, bis er sicher sein konnte, dass der Patient diesmal tief und fest schlief, dann verließ er das Zimmer. Auf ihn wartete ein Gespräch mit einem Beamten der Mordkommission. Die Verwaltung des Klinikums hatte wegen der Art der Verletzungen und der Umstände, die das Eintreffen des Patienten in der Notaufnahme begleiteten, sofort die Polizei verständigt. Er würde den Beamten enttäuschen müssen, denn an eine Vernehmung des Verletzten war in der nächsten Zeit nicht zu denken. Die Polizei musste versuchen, die Identität des unbekannten Mannes ohne dessen Mithilfe zu ermitteln.

Nach weiteren zehn Tagen veranlassten die Ärzte ein erneutes kontrolliertes Aufwachen. Mühsam, als müsse er eine Tonne bewegen, hob er seinen Kopf ein wenig an und musterte seine nächste Umgebung. Schnell erkannte er, dass er sich in einem Bett auf einer Intensivstation befand. Erneut kam die schreckliche Erinnerung. Diesmal war seine Reaktion weniger heftig. Der Arzt erklärte ihm, dass sich sein Zustand stabilisiert und seine Wunden zu heilen begonnen hätten. Fragen zu seiner Identität beantwortete er nicht. Auf sein Drängen hin klärte ihn der Chefarzt schließlich über seinen Gesamtzustand auf. Der Schock war so schlimm, dass man ihn nochmals für einige Tage sedieren musste.

Als man ihn wieder aufwachen ließ, eröffnete ihm der Arzt, dass er die Polizei darüber informieren musste, dass er nun vernehmungsfähig war. Obwohl alle Mitarbeiter darüber rätselten, welche schrecklichen Hintergründe seine Verletzungen hatten, sprach ihn keiner darauf an. Eine Woche später wurde er in ein Einzelzimmer auf die Normalstation verlegt.

Die Nachtschwester versorgte den Mann ohne Namen mit einer gewissen Scheu. Was nicht zuletzt daran lag, dass er kaum sprach. Auch gegenüber dem Kriminalbeamten, der ihn schließlich aufsuchte, äußerte er sich nicht. Schweigend lag er Tag für Tag in seinem Bett und starrte zum Fenster hinaus. Er verweigerte jegliche Nahrungsaufnahme und trank nur wenig. Schließlich versorgte man ihn über einen Zugang mit einer Nährlösung.

Um ein Uhr machte die Nachtschwester eine ihrer Runden. Sie sah auch nach dem unbekannten Patienten, fragte ihn, ob er Wünsche habe, ob er ein zusätzliches Schmerzmittel wolle oder eine medikamentöse Einschlafhilfe benötige. Auf alle ihre Fragen erntete sie nur Schweigen. Schließlich resignierte sie, machte ihn, wie jede Nacht, darauf aufmerksam, dass sie jederzeit in Rufbereitschaft sei und verließ das Krankenzimmer. Bis zur nächsten Runde würde nun einige Zeit vergehen. Sie eilte in das Schwesternzimmer und tätigte verschiedene Eintragungen in die Patientenakten. Dieser spezielle Patient mit seinen eine eindeutige Sprache sprechenden Verletzungen nötigte dem gesamten Pflegepersonal viel ab, was sie und ihre Kollegen nur dank großer Professionalität meistern konnten.

Der Patient ließ einige Zeit verstreichen, dann warf er die Bettdecke zur Seite und schob langsam seine Beine über den Bettrand, bis er zum Sitzen kam. Mit zwei Handgriffen schaltete er das Gerät ab, das ihn noch immer überwachte. Der Monitor verdunkelte sich. Mit kundigen Bewegungen befreite er seinen linken Handrücken von der Infusionsnadel. Sofort verstärkten sich die Schmerzen, die im Liegen durch die Medikamente nur gedämpft zu spüren waren. Besonders die Brandwunde am Bauch ließ ihn aufstöhnen.

Der Schmerz erinnerte ihn an die Tortur, der ihn der Unbekannte unterzogen hatte. Zu Recht, wie er sich in den vielen Stunden des Leidens letztlich eingestanden hatte. Ihm war klar, der Mann hatte mit seinen Handlungen seine gesamte bürgerliche Existenz zerstört. Seine Familie würde ihn hassen, wenn die Wahrheit ans Licht kam. Er musste verhindern, was noch zu verhindern war. Mit zusammengebissenen Zähnen rutschte er mit dem Gesäß so weit vor, bis er mit seinen nackten Sohlen den Boden berührte. Sich an der Matratze abstützend, richtete er sich langsam auf. Da seine Bauchgegend verbunden war, trug er kein Krankenhaushemd. Man hatte ihm eine jener Netzeinwegunterhosen angezogen, die es ermöglichten, darunter einen Verband zu tragen.

Er blieb eine Minute stehen, bis sich sein Kreislauf an die aufrechte Haltung angepasst hatte. Schon seit drei Tagen hatte er Nacht für Nacht das Aufstehen trainiert und war mit zusammengebissenen Zähnen einige Schritte im Zimmer herumgelaufen. Länger durfte er nicht mehr warten. Heute Nacht fühlte er sich stark genug, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Mit kleinen Schritten näherte er sich der Tür, die neben dem großen Fenster auf einen das Gebäude umlaufenden Balkon hinausführte. Entschlossen öffnete er den Riegel und zog die Tür auf. Der Rahmen gab ihm Halt. Kühle Nachtluft schlug ihm entgegen. Zaghaft berührten seine nackten Sohlen die Fliesen des Balkons. Er wusste, dass er sich im obersten Stockwerk dieses Gebäudes befand. Unter ihm in der Dunkelheit verbarg sich eine kleine Grünanlage, an die sich ein Parkplatz anschloss. Ursprünglich hatte er daran gedacht, sein Vorhaben durch eine massive Überdosierung des Betäubungsmittels durchzuführen, das man ihm gegen die Schmerzen verabreichte. Dieser Plan wurde jedoch durch die Apparate durchkreuzt, da sie sofort Alarm geschlagen hätten, wenn er von der einprogrammierten Dosis abgewichen wäre.

Mit drei zögernden Schritten war er am Geländer. Krampfhaft hielt er sich fest, um den aufkommenden Schwindel zu beherrschen, der ihm kurzfristig den Blick vernebelte. Als er den Anfall überwunden hatte, blickte er nach links und rechts. Der Balkon war menschenleer. Aus wenigen entfernteren Zimmern drang schwacher Lichtschein. Vermutlich Patienten, die keinen Schlaf fanden.

Er starrte in den Abgrund. Einige Lampen erleuchteten den Parkplatz, der Grüngürtel unter ihm lag in Dunkelheit. Er zögerte kurz, sein Entschluss geriet für eine Gedankenlänge ins Wanken. Tränen liefen ihm über die unrasierten Wangen. Er fühlte sie nicht. Der Teufel in ihm hatte ihn zu diesen schlimmen Taten verführt. Es waren nur wenige Kinder, die er seiner Neigung geopfert hatte. Vor seinem geistigen Auge erschienen die furchtsam aufgerissenen Augen der kleinen Mädchen, denen er nicht hatte widerstehen können. Für jedes einzelne hatte er diese Strafe verdient. Er stand jetzt im wahrsten Sinne des Wortes direkt am Abgrund. Ihm war klar, dass das Leben ihm keine Gelegenheit mehr bot, Wiedergutmachung zu leisten. Nun galt es, für seine Handlungen geradezustehen. Sein letzter Gedanke galt seiner Familie, die er durch seine nun offenkundig werdenden Verfehlungen dazu verurteilt hatte, mit dieser erdrückenden Schmach weiterleben zu müssen. Er gab sich einen Ruck und zog sich über das Balkongeländer. Ohne einen Laut stürzte er mit dem Kopf voraus in die Finsternis. Von dem Aufprall bekam er nichts mehr mit.