Inhalt

Heft 4 | Oktober–Dezember 2017

Jahrgang 90 | Nr. 485

Notiz

Die fremde Reformation

Andrea Richter

Nachfolge

„Ich spreche nie von Gott“.
Annäherung an Maurice Zundel

Alois Odermatt

Nachfolge | Kirche

Wer hört, der rufe: Komm!
Die O-Antiphonen als Israel-Gebet der Kirche

Egbert Ballhorn

Zwischen Krise und Neuaufbruch.
Das Bußsakrament und eine Spiritualität der Umkehr

Stefan Kopp

Evangelische Kommunitäten.
Monastische Spiritualität im Protestantismus

Peter Zimmerling

Nachfolge | Junge Theologie

Wort und Wirklichkeit. Wie Verkündigung auch heute gelingt

Isabelle Senn

Reflexion

Erinnerung und Horizont. Die Leistung des Juan Alfonso Polanco

José García de Castro

Offenbarung in Tat und Wort

Regina Radlbeck-Ossmann

Was ist die Bibel, und wie legt man sie aus? Gegenwärtige Wege der Inspirationstheologie

Helmut Gabel

Liturgie und Gebet.
Bericht über die diesjährige Trierer Sommerakademie des DLI

Manuel Uder

Lektüre

Luthers „Letzte Ölung“

Alex Stock

C.S. Lewis’s „Mere Christianity“

Annegret Lingenberg

„Das Heilige“ wird 100 Jahre alt

Stefan Walser OFMCap

Wie ein Dieb (Teil I)

Michel de Certeau SJ

Buchbesprechungen; Jahresinhaltsverzeichnis

Andrea Richter | Berlin

geb. 1959, Evangelische Pfarrerin,

Beauftragte für Spiritualität der EKBO,

Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

a.richter@akd-ekbo.de

Die fremde Reformation

Als der Augustinermönch im Jahr 1511 nach Rom reist, wohnt er dort im Kloster der Augustinereremiten. Quasi im Nachbarzimmer erhält in diesen Tagen die Sixtinische Kapelle eine neue Wandausmalung. Augustinereremiten organisieren und überwachen die Bemalung durch Michelangelo Buonarotti, den berühmten Bildhauer und begnadeten Maler. Es ist spektakulär: Anstatt einer malerischen Verherrlichung der mächtigen Kirche steht die Geschichte von der Erschaffung des Menschen im Zentrum. Gott und Adam nur durch einen Fingerspalt voneinander getrennt. Ein einzelner, nackter Mensch im direkten Kontakt zu Gott. Luther hat das Schöpfungsbild Michelangelos wohl nicht wahrgenommen. Überhaupt kümmert er sich nicht darum, wie sehr sich die Welt um ihn verändert: 1492 hatte Christoph Columbus Amerika entdeckt. In den Kellern des florentinischen Krankenhauses Santa Maria Nuova erforscht Leonardo da Vinci, verborgen vor den Augen von Kirche und Öffentlichkeit, die Anatomie des menschlichen Körpers. Der junge Mönch Luther interessiert sich wenig für die Wahrheitssuche des Künstlers, auch nicht für die Eroberung neuer Kontinente oder das Wunder des menschlichen Körpers. Luthers „Forschungsgebiet“ ist das Innere des Menschen, die Seele und die Frage, wie der Mensch vor Gott bestehen könne angesichts seiner Unfähigkeit zum Guten und der Unmöglichkeit, sein veräußerlichtes Leben vor Gott zu rechtfertigen. Hier forscht und fragt er mit ganzer Leidenschaft – und voller Angst: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Allein die Wortwahl lässt die Verzweiflung erahnen, die ihn immer wieder umtreibt. Gottlob hat er einen weisen und erfahrenen Beichtvater und Geistlichen Begleiter: Johann von Staupitz, Professor und erster Dekan der theologischen Fakultät an der neuen Universität in Wittenberg. Staupitz habe „die doctrinam angefangen“, meint Luther später einmal. Durch ihn lernen Luther und die anderen Studierenden des Wittenberger Zirkels die Gedankenwelt der deutschen Mystiker kennen. Mit dem Werk Augustinus hatte sich Luther schon in seinen Erfurter Studienjahren intensiv beschäftigt und sich auch mit dem Zisterziensermönch Bernhard von Clairvaux befasst. Nun, in Wittenberg, erlangt mit der Lektüre Johannes Taulers auch die Gedankenwelt Meister Eckharts Einfluss auf die Gottsuchenden. Eines der zentralen Motive der deutschen Mystik ist die „Geburt Gottes im Menschen“. In einer Predigt zum Christfest schreibt Johannes Tauler: „In der Heiligen Schrift lesen wir: ‚Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt‘; das will sagen: er ist unser, und unser Eigen zumal, mehr denn alles, was eigen heißt, er wird zu aller Zeit, ohne Unterlass in uns geboren.“1 Tauler vertieft diesen Gedanken noch und schreibt weiter: „Dass wir nun alle dieser edlen Geburt eine Stätte in uns bereiten, so dass wir wahre geistliche Mütter werden, dazu verhelfe uns Gott. Amen.“2 Mit ganz ähnlichen Worten ermahnt Martin Luther in einer Weihnachtspredigt seine Zuhörer und Hörerinnen: „Glaube du, dass Christus empfangen ist vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, aber siehe zu, dass du aus der Geschichte dir eine Gabe machest, dass Christus dir empfangen und geboren (…) sei. Da übe deinen Glauben, dass er täglich fester werde und Lust und Freude dran bekomme (…) Christus ist die Quelle, in ihm ist alle Weisheit und Wahrheit.“3 Allein in diesen wenigen Worten erahnt man die Unabhängigkeit des glaubenden Subjekts gegenüber Institutionen und Lehrmeinungen. Auch, wenn Luther das Schöpfungsbild Michelangelos nicht gesehen hat, bringt er doch eine ganz ähnliche, innigliche Beziehung und Verbundenheit von Mensch und Gott zum Ausdruck. Was der Maler in Farben kleidet, formt Luther in Worte seiner eigenen, inneren Wirklichkeit: das Bild eines nackten Gottes, der uns Menschen näher ist als die eigene Halsschlagader. Martin Luther, der Weihnachtschrist! Das Kind im Schoß Mariens ist für ihn zugleich der, „den aller Welt Kreis nie beschloss“ und welcher „alle Ding erhält allein.“4

Über die kirchenpolitischen Wirren der Reformationszeit geriet das Wissen um den Einfluss der Gedankenwelt deutscher Mystiker auf den Reformator vielfach in Vergessenheit. Anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 haben sich die Bemühungen um die spirituellen Grundlagen der Reformation intensiviert. So hat beispielsweise der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin in seinem neuen Buch Die fremde Reformation nachgewiesen, wie intensiv sich Luther mit den Gedanken der Deutschen Mystik beschäftigt hat und wie sehr diese ihn nachhaltig inspiriert haben.5 Vielen Menschen öffnet sich dadurch ein neuer Blick in die spirituelle Relevanz der geistlichen Tradition. Auch für die Ökumene birgt die Wiederentdeckung der mystischen Wurzeln der Reformation die Chance, sich in einer Ökumene der Spiritualität das gemeinsamen spirituellen Erbe von 1300 Jahren durch Reflexion, Aneignung und Einübung vertraut zu machen und es zu beleben.

Johannes Tauler, Predigten, Bd. 1. Einsiedeln 42007, 14 f.

Ebd., 19 f.

Martin Luther, Predigt zum Christfest, WA 46, 226.

Ders., Gelobet seist du Jesu Christ, in: Evangelisches Gesangbuch, Lied Nr. 23, Strophe 3.

V. Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln. München 2016.