PAULIN UNK

Der Sehnsucht Raum geben

Die Kunst

der franziskanischen Wegbegleitung

Franziskanische Akzente

Für ein gottverbundenes und engagiertes Leben

Herausgegeben von Mirjam Schambeck sf und

Helmut Schlegel ofm

Band 14

Die Suche der Menschen nach Sinn und Glück ernst nehmen und Impulse geben für ein geistliches, schöpfungsfreundliches und sozial engagiertes Leben – das ist das Anliegen der Reihe „Franziskanische Akzente“.

In ihr zeigen Autorinnen und Autoren, wie Leben heute gelingen kann. Auf der Basis des Evangeliums und mit Blick auf die Fragen der Gegenwart legen sie Wert auf die typisch franziskanischen Akzente:

Achtung der Menschenwürde,

Bewahrung der Schöpfung,

Reform der Kirche und

gerechte Strukturen in der Gesellschaft.

In lebensnaher und zeitgerechter Sprache geben sie auf Fragen von heute ehrliche Antworten und sprechen darin Gläubige wie Andersdenkende, Skeptiker wie Fragende an.

PAULIN LINK

Der Sehnsucht
Raum geben

DIE KUNST
DER FRANZISKANISCHEN WEGBEGLEITUNG

echter

Inhalt

Vorwort

1. Begleitung kennt viele Formen

Gemeinschaft als Begleitung

Begleitung im Gebet

Begleitung durch Zeichen

Begleitende Orte

2. Wegbegleitung in der Bibel

Gott begleitet Mose und dieser wird Begleiter für ein ganzes Volk

Die Begleitung des Tobias

Die Geschichte Ruts

Jesus als Wegbegleiter

Jesus zeigt sich als Wegbegleiter in seiner Sprache und in seinem Tun

Jesus setzt mit Zeichen und Symbolen seine Begleitungfort (vgl. Joh 13,1–20)

Begleitung in Zusage und Gebet (Joh 17)

Jesus lässt sich begleiten

Begleitung als Auftrag

Erfahrungen nach der Auferstehung

Begleitung durch Briefe an Einzelne und Gemeinden

Gemeinschaft als Begleitung

3. Franziskanisch begleiten

Die Regel als Grundlage der Wegbegleitung im franziskanischen Sinn

Regel für die Einsiedelei

Franziskanische Quellen als Fundgrube, Inspiration, Ermutigung

Briefe, die stärken, weiterhelfen, korrigieren

Brief an einen Minister

Brief an Bruder Leo

Brief an Bruder Antonius

Begleitung durch Predigt

Das Umfeld begleitet unser Leben und lässt es wachsen und reifen

Die Kreuzesikone von San Damiano als Begleitung

Das Gebet des vor Gott Armen als Basis für die Begleitung von Menschen

Segen als Zusage für den weiteren Weg

Kriterien der Begleitung aus den Ermahnungen

Vertrauen

Spiritualität, nicht Methode

Geistlich leben – die eigenen Quellen

Scheitern

Wider die Harmonie

Grenzen und Gefahren

Loslassen können

Erbarmen

Begleitung bei Klara

Begleitung in Briefen

4. Für die Praxis

Seelsorgekonzept der St. Elisabeth-Stiftung6

Kleines franziskanisches Begleitungs-ABC

Fragen zur persönlichen Reflexion

Begleitung als geistlicher Prozess

5. Eine Begleitungskultur wagen, Ausblick ermöglichen

Wegbegleitung als Kunst

Begleitung als Reise

Zum guten Schluss

Anmerkungen

Zum Weiterlesen

Abkürzungsverzeichnis

Vorwort

„Such dir einen Begleiter und mache dich auf die Reise“ (Tob 5,3), sagte der alte Tobit zu seinem Sohn Tobias. Mit diesem Zitat aus dem Alten Testament bekam ich eine Anfrage um Begleitung. Und ich las weiter: „Es sind keine ‚großen Brocken‘, die mich blockieren oder herausfordern. Es ist der ‚ganz normale Wahnsinn‘ des Alltags:

– Wie viele (m. E. richtig gute) Ideen warten (z. T. schon seit Jahren) auf Realisierung – weil das Tagesgeschäft vorgeht?

– Mache ich die richtigen Dinge? Die Dinge richtig zu machen, liegt mir als ‚Perfektionist‘ eher …

– Wie kann ich (noch mehr) Wirkung in Bereichen entfalten, wo der liebe Gott mir besondere Gaben geschenkt hat?

– Was will ich in den (voraussichtlich) noch etwa 11–15 Berufsjahren grundsätzlich erreichen?

– Was muss ich dafür vielleicht bleiben lassen?

Dazu brauche ich eine Begleitung, die mich nicht nur coacht oder mir Supervision gibt, sondern meinen Weg mit mir auch mit dem ‚Wehen des Heiligen Geistes‘ abgleichen kann und mag. Jemanden, der oder die mich auch herausfordern kann – und mag. Sich auch nicht scheut, mich evtl. auf unangenehme Dinge hinzuweisen. Idealerweise eine reflektierte Person, die mich kennt und dennoch keine Befangenheit bei so einer Begleitung empfindet.“

Wegbegleitung als Sehnsucht, jemanden zu haben, der im wahrsten Sinn des Wortes mitgeht, an meiner Seite – oder auch zwischendurch – in regelmäßigen Abständen meinen Weg kreuzt und als Spiegel mitreflektiert oder anfragt, ermutigt und korrigiert. Dabei denken wir meistens an die Begleitung einzelner Personen durch die Begleiterin oder den Begleiter.

Zu bedenken ist, dass unsere Menschwerdung und Reifung mitbestimmt wird durch das Umfeld, durch Situationen und Gegebenheiten. Ganz ohne besondere Erwähnung werden wir von Anfang unseres Lebens an begleitet in der Familie, in der wir aufwachsen. Eltern, Geschwister spielen eine nicht unbedeutende Rolle. Die Schulzeit mit den Gleichaltrigen und den Erzieherinnen und Erziehern, mit den Lehrerinnen und Lehrern begleiten und prägen.

Dankbar denke ich zurück an meine eigenen Wegbegleiter-Menschen, die mich prägten, förderten, mir halfen, Schritte zu setzen, Entscheidungen zu fällen, dem Leben zu trauen. Eine Persönlichkeit greife ich heraus, weil ich immer wieder erkenne, was ich da so ganz einfach, selbstverständlich erleben durfte und dabei für mein Leben Wesentliches lernte: Ich wuchs in einem kleinen Dorf auf. In der Volksschule waren wir in zwei Gruppen (Klassenzimmer) aufgeteilt: die Unterklasse, Schuljahre 1 bis 4, und die Oberklasse, Schuljahre 5 bis 8. Unser Schulleiter beherrschte die Kunst der Wegbegleitung auf verschiedenen Ebenen. Einige Beispiele mögen dies belegen: 40 Kinder in der Oberklasse. Jeden Morgen hatten die Schüler und Schülerinnen einer Klasse zu Beginn des Unterrichts den Tag zu eröffnen. Dies geschah in einem Ritual. Gemeinsamer Auftritt vor den anderen Schülern: ein Lied, ein Gedicht, dann Ansage des Tages mit Erinnern an geschichtliche, politische und kirchliche Ereignisse, Geburts- oder Todestage von Persönlichkeiten wie Dichtern, Künstlern. Danach gab’s den Wetterbericht. Dazu mussten die Beobachtungen und Messungen (Temperatur, Wind, Niederschläge …) vom Nachmittag und Morgen eingeholt werden. Auch Beobachtungen der Natur : Ankunft der Schwalben, erste Schlüsselblume, wurden so wahrgenommen und eingetragen.

Wegbegleitung im Sinne von Aufmerksamkeit wecken, Erinnerungen verlebendigen, Auftritt vor anderen üben, die Gruppenzusammengehörigkeit spüren und Verantwortung übernehmen für einen Teilauftrag. Jeder war gefragt.

Alle konnten mit – eine weitere Erfahrung. In unserer Klasse gab es begabte und schwache Schülerinnen und Schüler. Es war selbstverständlich, dass beim Diktat schwache Schüler zu begabten Schülern gesetzt wurden und „abschreiben“ konnten. So machten sie statt 60 Fehlern nur noch 25!

Unterschiedliche Gaben wurden gefördert und „belohnt“. Wer z. B. in der Tageszeitung einen Artikel entdeckte, der einen Bezug zum derzeitigen Unterrichtsstoff hatte, oder eine neu erblühte Pflanze mitbrachte, bekam einen „Pluspunkt“. So wurde unsere Aufmerksamkeit geweckt und geschult.

Wir lernten Disziplin und Präsenz: alle in einem Raum! Während den einen ein wichtiger Unterrichtsstoff beigebracht wurde, hatten die anderen Stillarbeit. Selbst von uns Schülerinnen und Schülern wurde pädagogisches Geschick gebraucht, wenn zum Beispiel bei Krankheit der Lehrerin in den Unterklassen jemand aus den oberen Schuljahren die Aufsicht übernehmen musste.

Unser Lehrer war gleichzeitig Organist in der kleinen Dorfkirche. So kam es, dass wir als Schülerinnen und Schüler bei jeder Hochzeit oder Beerdigung mit in der Kirche waren. Gottesdienst, Schule und Freizeit, Freude und Leid gehörten zum Leben.

Wichtig war auch der Blick über den Tellerrand hinaus. Kultur und Geschichte wurden erlebt. So kann ich noch heute meinen Neffen die nicht sichtbaren Grundmauern des römischen Gutshofes oder eines Limesturmes zeigen, indem wir die Färbung des Grases an den entsprechenden Stellen beachten. Wir machten herrliche Schulausflüge, erlebten Musik und Theater, Landschaft und Kunst und mussten das Gesehene in einem Bericht festhalten mit dem je eigenen Layout, ohne die digitalen Hilfsmittel von heute.

Wegbegleitung als Kunst in einer kleinen Volksschule auf dem Dorf in den 50er/60er Jahren:

– Der/die Einzelne wird gesehen, Gemeinschaft erlebt und eingeübt.

– Gaben und Fähigkeiten werden gefördert und in gemeinsamen Aufgaben zusammengefügt, so dass Grenzen auch angenommen werden können.

Und alles geschieht einfach, gehört zum Alltag, zur Wirklichkeit des Lebens. Wegbegleitung zum Leben, zu einem ganzheitlichen Leben, nicht einseitig und nicht parteiisch, sondern demütig, vertrauend.

Es hat mich neugierig gemacht auf das Leben und gestärkt für das Wagnis.

Begleitung über eine gewisse Zeit, begrenzt, aber eindeutig: Eine Spur wurde gelegt, Erfahrungen gesammelt, eine Weite aufgezeigt, wo Gottes Schöpfung und seine Geschichte mit uns Wirklichkeit sind.