Albert Damblon

verbeult verschlafen – durchgehalten

Wie ich als Pfarrer Kirche erlebe

Albert Damblon

verbeult
verschlafen –
   durchgehalten

Wie ich als Pfarrer Kirche erlebe

echter

Allein die Erfahrung macht die Theologie
(Martin Luther, Tischreden)

Inhalt

Anstoß

Der verbeulte Gefährte

Päpstliches Bekenntnis

Kapellengeschichte I – Tränen

Kapellengeschichte II – Es geht!

20 Millionen erlassen

Kein Geschäft

Die brennende Kerze

Der Beistand

Martin und Mauer

Friede auf Erden …

Urlaubsgeschichte I – Altes und Neues

Der bewegte Mann

Ungleichzeitigkeit

Urlaubsgeschichte II – Die Grauhaarigen und die Gefärbten

Die Loser

Heilige des Wartens

Urlaubsgeschichte III – Kopflos

Der selbstbewusste Mensch

Urlaubsgeschichte IV – Menschentheater

Ich glaube gern …

Der Schluck Wasser

Rezept gegen Trockenheit

Der Silvestersegen

Das alltägliche Gottesreich

Schlaf gut oder wachet auf …

Der gesunde Kirchenschlaf

Die heilsame Pause

Schlaf gut mit Bruder Martinus …

Im ökumenischen Gestrüpp

Ich stehe auf …

Der Unterschied

Freistoß – ökumenisch

Eine ökumenische Litanei

Wozu brauchen wir Kirchen?

Die Geschichte vom barmherzigen Wirt I

Die Geschichte vom barmherzigen Wirt II

Alte, kluge Sätze …

Quellenverzeichnis

Anstoß

Ich werde 70 Jahre alt. Es ist ein runder Geburtstag, den ich anders als die Feste in den Jahren vorher feiern werde. Denn der Wunsch zurückzublicken ist viel stärker als zuvor. Die Zahl 70 lässt nicht mehr viel Zukunft. Sie birgt aber einen Schatz an Vergangenheit. Das Erinnern prägt die Gefühle, das Erhoffen hat sich ein wenig zurückgezogen. Vielleicht sollte ich wie viele andere meine Erinnerungen erzählen. Aber was ich erzählen würde, wäre nur für mich interessant. Wen würde die Geschichte eines gewöhnlichen Pfarrers beeindrucken? Ein bisschen Extravaganz müsste die Erzählung würzen. Mit Extravagantem kann ich nicht dienen, denn ich habe normal gelebt und gearbeitet, ohne Sensationen und Skandale. Über die Strafzettel des Ordnungsamtes lohnt sich kaum zu erzählen. Mein Leben kennt keine herausragenden Ereignisse. Ich habe keinen Gipfel bestiegen, genauso wenig habe ich einen Weltrekord aufgestellt. In meinem Beruf gründete ich kein Hilfswerk, und kirchliche Karriere habe ich nicht gemacht. Auf meinem Kopf passt kein Prälatenhut. Widerstand musste ich nicht leisten, und Weltreisen habe ich vermieden. Mein Buch wird auch dieses Mal kein Bestseller. Ich bin nie in den Rhein gesprungen, um einem Menschen das Leben zu retten. Bis vor Kurzem waren meine Freunde und ich gesund, und von meinem Gehalt konnte ich leben. Selbst vor tragischen Todesfällen wurde ich im Familienkreis bewahrt.

Über 40 Jahre arbeitete ich als Gemeindepfarrer. Ich stand morgens auf und ging abends zu Bett. Jedes Mal erlebte ich einen üblichen Tag. Ärger, Freude, Trauer. Über die Tage eines Normalen könnte ich berichten, doch wen interessieren Alltäglichkeiten? Trotzdem erzähle ich, weil es für mich wichtig ist. Hinter dem Einerlei stehen wunderbare Menschen, die ich kennengelernt habe. In vielen Gesprächen durfte ich in meiner Kirche trösten, ermutigen, bestärken, und ich habe Gottesdienste gefeiert, die die Freude am Evangelium spüren ließen. Sie eröffneten Wege zu gelingendem Leben. Nur so konnte ich den Niedergang volkskirchlicher Mentalität aushalten, ohne in eine Depression zu verfallen.

Anderseits staune ich, dass ich als Pfarrer trotz allem durchgehalten habe. Ich bin heute noch gern das, was ich einmal begonnen habe. Vielleicht hat sich die Beamtenseele meines Vaters durchgesetzt. Sie vermittelte mir auszuhalten. Wenn ich ehrlich zurückblicke, erkenne ich, dass meine Beständigkeit kein persönliches Verdienst ist. Es ist so gelaufen. Dabei hätte es auch anders kommen können. Manche Mitbrüder gerieten in Krisen, die sie bis ins Mark erschüttert haben. Sie wussten weder ein noch aus. Rettung bot nur, die Kirche zu verlassen. Ich selbst bin an mancher Klippe haarscharf vorbeigeschrammt und bin krumme Wege gegangen. Doch bekanntlich schreibt Gott auf krummen Zeilen gerade. Unabhängig von der gesellschaftlichen Entwicklung hinterfrage ich einiges in der Kirche. Die innerkirchlichen Phänomene hat das II. Vatikanische Konzil besprochen, aber kaum bearbeitet. Theologen haben sich die Finger wundgeschrieben, um endlich zu einer Lösung zu kommen. Nichts hat sich bewegt. Das Zölibat, die Homosexualität, die Missbräuche, das Frauenpriestertum, eine synodale Ordnung, die unüberschaubare Gemeindegröße, die Ökumene, die Rechte von Laien – die Liste offener Fragen lässt sich fortführen. Es ist ein Lichtblick, wenn Papst Franziskus für die wiederverheiratet Geschiedenen barmherzig die Tür einen Spalt öffnet.

Insgesamt geht es nicht um Fragen, die mehr oder weniger leichtfertig zu beantworten sind. Dahinter stehen Schicksale, die Menschen zerstört haben. Das Zölibat ließ Priester zerbrechen. Ihre Frauen wurden mit ins Unglück gezerrt, und ihre Kinder leiden unter Umständen bis heute. Homosexuellen und wiederverheiratet Geschiedenen erging es in der Kirche ähnlich. Welcher Bischof zählt ihre Tränen, die sie geweint haben? Wer trocknet sie? Wer versucht in Zukunft zu verhindern, dass sie überhaupt weinen müssen? Vor meinen Augen spielten sich Katastrophen der Unbarmherzigkeit ab. Finanzielle Zuwendungen seitens der Generalvikariate halfen wenig, das Leid zu lindern. Hinter vorgehaltener Hand erzählen wir uns unter den Mitbrüdern diese Leidensgeschichten, und wir halten still. Letztlich ist alles gesagt oder geschrieben, was zu tun wäre, um die Schmerzen zu vermindern. Es tut sich wenig, im Gegenteil, gewisse Kreise versuchen die Kirche wieder abzuschotten und in die tridentinische Festung zurückzuführen.

Als alter Mitarbeiter weiß ich, was in unserer Kirche los ist, ohne dass ich je bei einer Dienstbesprechung des Bischofs mit seinem Generalvikar dabei war. Meine Kirche bietet manchmal ein trostloses Bild. Die Tatsache, dass kaum heute einer meinen Beruf ergreift, schlägt in meiner Seele Wunden. Trotz allem habe ich durchgehalten, und nach über 40 Jahren überlege ich: weshalb? Was hat mir in der Kirche die Kraft gegeben, in ihr und mit ihr auszuhalten?

Gerade zu meinem Geburtstag frage ich mich, warum ich noch in der Kirche mitmache. Für einige war Rückzug oder sogar Austritt eine Lösung. Nach langer Dienstzeit könnte ich mich aus dem kirchlichen Betrieb elegant zurückziehen. Für das tägliche Brot ist gesorgt, ich habe es mir erarbeitet. Aber so würde ich meine Kirche von außen erleben. Während ich darüber nachdenke, merke ich, dass es für mich keine Lösung ist. Es ist meine Kirche, und was mein ist, gehört zu meinem Leben. Daran hänge ich, und ich will es so lange wie möglich behalten. Die Kirche ist die Ursache von Leid und Unsinn. Gleichzeitig verkündet sie Heil und Sinn. Zu dieser Kirche gehöre ich, und sie hat mein Leben geformt. Sie hat mir geholfen, vieles zu bewältigen. Ja, ich würde sie vermissen. Es gilt, kritisch die Augen aufzuhalten, warnend die Stimme zu erheben und dem nachzuspüren, was Jesus mit Kirche gewollt hat. Ich habe versucht zu finden, was meine Beziehung zur Kirche gestärkt hat. Dabei fand ich meine persönlichen Kirchengeschichten. Winzige Ereignisse erzählen von meiner Kirche. Kleinigkeiten sind meine alltäglichen Bekenntnisse. Trotzdem antworten sie am besten auf die Frage, weshalb ich in der Kirche bin. Die Antwort ist nicht umfassend und nicht zwingend, manche Leserin und mancher Leser wird eine Gegengeschichte finden. Dogmatisch gibt es sowieso bessere Antworten. Man braucht nur die Dogmatische Konstitution des II. Vatikanischen Konzils zu lesen. Mir helfen die Geschichten, meinen 70. Geburtstag in meiner Kirche zu feiern.

Ich friere wenn ich an meine Kirche

und ihre Aufseher denke

Traurig blicke ich denen nach

die gehen oder schon gegangen sind

Doch ich bleibe weil ich Freunde habe

die mit mir die Träume nicht vergessen

die uns verändert haben

in der Kirche

(Wilhelm Bruners)