Philipp Spahn

Missbrauchter Gott?

Religion im Spannungsfeld
von Politik und Gesellschaft

Philipp Spahn

Missbrauchter Gott?

Religion im Spannungsfeld von
Politik und Gesellschaft

echter

Inhalt

Vorwort

Hinführung: Identität

I. Gesellschaft

Die Globalisierung des religiösen Marktes • Kirche und Politik: Eine zu innige Liebe? • Die Debatte um Debatten • Für eine neue Kultur des Streitens

II. Politik

Politik braucht Religion … • … und missbraucht sie • Streitfall: Identitätspolitik

III. Kirche

Das Christentum: Eine Botschaft für die Welt • Das Christentum: Doch keine Botschaft für die Welt? • Kirchliche Verkündigung zwischen Gesinnung und Verantwortung • Mündige Laien: Eine Provokation für den Klerus? • Die Kirche: Anwältin des natürlichen Rechts • Politischem Missbrauch des Christentums nicht Tür und Tor öffnen • Die Fundamente des Glaubens gießen • Das päpstliche Lehramt: Ein Geschenk? • Das kirchliche Lehrgebäude: Ein wirksamer Schutz vor Missbrauch • Theologisches Kauderwelsch oder notwendige sprachliche Komplexität?

Ausblick: Unverfügbarer Gott?

Vorwort

In den gesellschaftlichen und politischen Streitigkeiten während und nach der Flüchtlingskrise wirkte es oft, als bestünde zwischen christlichem Abendland und christlicher Nächstenliebe ein unüberbrückbarer Gegensatz – dabei ist beides doch untrennbar miteinander verbunden. Während aber die einen Ersteres retten wollten, versuchten die anderen, Letzteres zu leben.

Natürlich ist nicht nur in der Flüchtlingsfrage das Christentum als normativer Bezugspunkt unterschiedlicher politischer Weltanschauungen präsent. Es gibt kaum eine gesellschaftliche und politische Debatte, die heutzutage ohne einen Rückgriff auf ‚Christliches‘ auskommt. Die einst totgeglaubte Religion ist quicklebendig, und das trotz schwindender Mitgliederzahlen. Inwieweit es aber redlich ist, dass in außerkirchlichen Auseinandersetzungen ‚christlich‘ zu einem Attribut politischer Anschauungen wird, ist eine alte Frage, die sich nicht pauschal beantworten lässt.

Unbestreitbar ist, dass der Inhalt des Wortes ‚Christliches‘ gegenwärtig nicht fest umrissen ist, im Gegenteil. Mitunter werden gegensätzliche politische Positionen vertreten und gleichsam als ‚christlich‘ etikettiert. Deutlich ist das besonders, seitdem Rechtspopulisten die bundesrepublikanische Gesellschaft aufmischen, wie das Beispiel vom christlichen Abendland, das scheinbar in Gegensatz zur christlichen Nächstenliebe geraten ist, zeigt. Den Fragen, ob es christliche Inhalte in politischen Parteien geben darf, was eine christliche Position auszeichnet und wann es sich um einen Etikettenschwindel handelt, haben die Veränderungen in der deutschen Parteienlandschaft jedenfalls neue Brisanz verliehen.

Auch an den Kirchen gehen diese Entwicklungen nicht spurlos vorüber. Zwar haben die Kirchen kein Deutungsmonopol auf das Christentum. Ihre amtlichen Vertreter sehen sich aber doch immer wieder dazu gezwungen, mit Wortmeldungen in diese politischen Debatten einzugreifen, auch wenn die Ansichten darüber, ob das die Aufgabe der Kirchen ist, auseinandergehen. Die ‚Arbeitshilfe zum kirchlichen Umgang mit rechtspopulistischen Tendenzen‘ mit dem Titel ‚Dem Populismus widerstehen‘, die im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erarbeitet und am 25. Juni 2019 vorgestellt wurde, ist ebenfalls im Licht der geschilderten Zusammenhänge zu sehen. Leider konnte die Arbeitshilfe selbst im Folgenden nicht mehr berücksichtigt werden.

In Bausch und Bogen beantworten lassen sich die aufgeworfenen Fragen nicht, und das nicht zuletzt deshalb, weil etwaige Antworten sich mit wandelnden gesellschaftlichen und politischen Kontexten ändern können. Um mehr als einen Konsens der widerstreitenden Ansichten kann es sich dabei ohnehin nicht handeln. Damit sind Antworten auf die gestellten Fragen aber notwendig Teil eines fortwährenden Ringens, zu dem der vorliegende Band einen bescheidenen Beitrag zu leisten versucht. Es handelt sich dabei nicht um eine erschöpfende Abhandlung des Themas, sondern um eine schlaglichtartige Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Umstände in Gesellschaft, Politik und Kirche. Der Band versteht sich als Debattenbeitrag und darf auch nur als solcher gelesen werden. Dass in diesem zwar versucht wurde, beide großen Kirchen zu betrachten, am Ende aber doch ein gewisses Ungleichgewicht zugunsten der katholischen Kirche festgestellt werden muss, soll durch die biografische Prägung des Verfassers versucht werden, zu entschuldigen.

In einem anderen Kontext hatte ich mich im Juli 2018 mit den eben aufgeworfenen und weiteren Fragen beschäftigt (www.feinschwarz.net/missbrauchter-gott, Abruf 15. Juni 2019). Daraufhin trat der Echter Verlag mit dem Wunsch an mich heran, das dort abgehandelte Thema in den Kontext der satirischen Broschüre ‚Christliches in der AfD‘ und des Sammelbands ‚Christliches in den Parteien‘ zu stellen, ohne aber eine Fortsetzung zu schreiben. Diesem Wunsch habe ich gerne versucht, nachzukommen.

Frankfurt am Main, im Juni 2019

Hinführung: Identität

Die von Max Weber prognostizierte „Entzauberung der Welt“ ist ausgeblieben. Aufgeschoben oder aufgehoben, wer weiß das schon. Prognosen sind schwierig, bekanntlich besonders dann, wenn sie die Zukunft betreffen. Zumindest vorerst zieht uns, wie der Soziologe Hans Joas meint, die „Macht des Heiligen“ in ihren Bann. Religiosität ist wieder im Aufwind, und das sicher nicht erst seit gestern, nur eben anders als gestern.

In Europa paart sich religiöser Pluralismus mit scheinbar individuellen Lebensentwürfen, der Maxime einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft schlechthin. Das Ergebnis sind spirituelle Sinndeutungen, bei denen der Einzelne sich selbst zum Maßstab erklärt, keineswegs aber gemeinschaftliche religiöse Lehren und auf keinen Fall gar unumstößliche Dogmen. Längst haben sich dabei esoterische Praktiken, magische Rituale und vieles mehr mit christlichen Elementen vermischt. Wir befinden uns mittendrin in einem spirituellen Karneval und die Kirchen feiern kräftig mit, jedenfalls unter Vorbehalt, folgt auf die bunten Tage doch stets die Tristesse des Aschermittwochs. Individualität ist der Maßstab, nach dem sich diese neue Lehre richtet. Ihr Credo wünscht von allem ein bisschen, vielleicht auch das Beste von allem, zumindest aber jedem das Seine.

Daraus resultiert eine mittlerweile nicht mehr ganz so „neue Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas), die aber nicht nur Konfetti und Kamelle auf ihre Jünger regnen lässt. Das Maß an religiöser und individueller Freiheit befremdet zugleich, provoziert Abwehrhaltungen und Gegenbewegungen. Besonders Zuwanderer aus dezidiert islamischen Staaten können mit einem religiösen Laissezfaire oft nur wenig anfangen.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten warf dieser Gegensatz einen disparaten Schatten. Einerseits scheint Religion die Welt zu verzaubern. Während mit dem Maß an individueller Freiheit unausweichlich auch die eigene Unsicherheit wächst, ist Religion der rettende Anker im Hafen der Weltentwürfe. Denn Religion vermag zu leisten, was Politik nicht kann: Antworten, mitunter auch unfertige, auf die Fragen zu geben, mittels derer der Künstler Paul Gauguin die gesamte Krisis menschlicher Existenz einfing: ‚Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?‘ Diesen auszuweichen auf Lebenszeit, das ist schlicht und einfach unmöglich. Die Welt bleibt verzaubert, weil irdische Existenz ohne transzendente Referenz an der Welt zerbricht.

Andererseits aber verhext Religion, oder vielmehr deren Perversion, die Welt. Eine religiös plurale Gesellschaft in einem weltanschaulich neutralen Staat birgt von sich aus ein gewisses Spannungspotential. Vermengt sich dieses mit fundamentalistischen Strömungen, zeigt sich die schreckliche Fratze des religiösen Irrationalismus, die einen jeden erschaudern lässt. Berlin, London, Nizza, Paris: mitten ins Herz des europäischen Leibes, immer wieder, immer öfter. Und das Schlimme: kein Ende in Sicht. Ein leidiges Thema. Ein trauriger Höhepunkt aus christlicher Sicht sind Märtyrer mitten in Frankreich. Nicht die verdorbene Blutzeugenschaft islamistischer Attentäter, sondern die des wahrscheinlich bald seligen Priesters Jacques Hamel, dem bei einem Anschlag zweier Islamisten im Jahr 2016 die Kehle durchgeschnitten wurde, als er im kleinen, in der Normandie gelegenen Städtchen Saint-Étienne-du-Rouvray die heilige Messe feierte.

Das beeinflusst die politische Diskussion, keine Frage. Schon deshalb ist, anders als hin und wieder behauptet wird, Religion keine Privatsache und kann es, anders als der Glaube des Einzelnen, auch nie sein. Deutschland hatte eine Schonfrist. Vielleicht haben die deutschen Politiker gedacht, der bittere Kelch des Rechtspopulismus würde an der Bundesrepublik vorübergehen, gehofft haben sie es allemal. Weit gefehlt. Wunschdenken. Rassemblement National in Frankreich, Partij voor de Vrijheid in den Niederlanden, Lega Nord in Italien, um von den Nachbarländern Deutschlands im Osten ganz zu schweigen. Alternativen auch für Deutschland?

Doch nicht nur die Parteienlandschaft verändert sich. Mit ihr verschieben sich die Grenzen des Sagbaren, verändert sich auch die Sprache. Das ist die eigentliche Gefahr. Aufschlussreich sind Victor Klemperers Tagebuchnotizen zur Sprache des Dritten Reichs, der Lingua Tertii Imperii. Eine erschreckende Lektion über die Kraft der Sprache und die Macht dessen, der sie beherrscht. Denn sobald sich die Grenzen der Sprache verschieben, verändert sich auch die Realität. Es wird salonfähig, was noch undenkbar scheint, zuerst im Salon, dann auch auf der Straße. Zusehends verroht die Sprache in Teilen der Gesellschaft, leider auch an den politischen Rändern der parlamentarischen Demokratie. Und mit der Sprache verroht der Umgang mit- und untereinander. Das scheint es schier unmöglich zu machen, zu einer gebotenen Sachlichkeit zurückzufinden, ohne die es aber nicht möglich ist, die gegenwärtigen Herausforderungen mit der notwendigen Umsicht anzugehen. In der Folge bleiben die aktuellen Probleme auch die der Zukunft; nur, so viel ist sicher, neue Probleme kommen hinzu.

Wem aber sollte man einen Vorwurf machen? Den Wählern? Ein zweifelhaftes Demokratieverständnis. In der Regel sind Ängste zwar nicht rational, für den Ängstlichen aber sind sie real. Deshalb ist Angst, eines der stärksten Gefühle überhaupt, auch ein starker Antrieb. Und abertausende, wenn nicht sogar Millionen von Menschen in Deutschland haben Angst. Vor Fremden, dem Verlust der eigenen Identität, dem Terrorismus, der Globalisierung und vielem mehr. Längst sind die besorgten Bürger zum geflügelten Wort geworden, leider auch zur standardisierten Phrase verkommen. Denn werden die Ängste der Menschen nur belächelt, unter Verweis auf ihre Irrationalität abgetan oder ignoriert, dann macht sich bei den Ängstlichen das Gefühl der Ohnmacht breit, dann entlädt sich die Angst und es entsteht Populismus, der sich gegen die (vermeintlichen) Eliten richtet. „Populistisch heißt: gegen das Establishment“, wie Alexander Gauland im Oktober 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) feststellte. Er, der es wie kein Zweiter versteht, den populistischen Tiger zu reiten, muss es wissen.

Im besten Fall, so seltsam das derzeit bei einem Blick in die Parlamente der Länder und das des Bundes klingen mag, entladen sich die Ängste der Menschen am Wahltag. Das Versprechen, Ängste ernst zu nehmen, hat die Alternative für Deutschland (AfD) bei der letzten Bundestagswahl beinahe aus dem Stand als drittstärkste Kraft in den Deutschen Bundestag katapultiert, um von den vergangenen Landtagswahlen und der Europawahl erst überhaupt nicht zu sprechen. Jeder Politiker, der dachte, Ängste ignorieren zu können, weil sie mitunter irrational sind, wurde eines Besseren belehrt. Im schlechtesten Fall aber entlädt sich durch Populismus geschürte Angst, gepaart mit Hass und Dummheit, in Chemnitz, in Freital oder in den unzähligen anderen Orten quer durch Deutschland, in denen Flüchtlingsunterkünfte angegriffen oder Hetzjagden auf Asylbewerber gemacht wurden. Und unterdessen schien das größte Problem in der politischen Debatte zu sein, ob eine Hetzjagd auch als solche bezeichnet werden dürfe. Da bleibt einem glatt die Spucke weg.

Fast immer geht es bei diesen Konflikten auch um Religion. Selbsternannte ‚Patriotische Europäer‘ wenden sich ‚gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ (Pegida). ‚Hooligans‘ kämpfen ‚gegen Salafisten‘ (Hogesa). Fast magisch wird die christliche Kultur beschworen, der Kontrast schlechthin, wie ein Mantra hallt der Ruf nach den jüdisch-christlichen Wurzeln des Okzidents nicht nur durch die Straßen, sondern auch durch die Bierzelte und die Talkshows der Republik. Nur, dass die christliche Religion in solchen Fällen beschworen, ansonsten aber an den Rand gedrängt wird und allenfalls noch folkloristische Bedürfnisse bedient, ist mehr als ein Scheinwiderspruch. Irrsinnig wird es gar, werden auf Demonstrationen von Pegida Kreuze in die Lüfte gereckt, getüncht in Schwarz, Rot und Gold. Oder, wie auf dem Titelbild dieses Bandes zu sehen ist, bei dem Pegida-Ableger in Düsseldorf (Dügida) ein Kruzifix, unter dem die Mutter Gottes betet. Über dem Kreuz weht nicht der Heilige Geist, sondern ein Deutschlandfähnchen, das ironischerweise aus dem Kreuzestitel herauswächst. Jesus von Nazareth, König der Deutschen?

Fast könnte man Derartiges denken, werden doch zugleich ausländische Priester, die in großer Zahl in deutschen Gemeinden eingesetzt sind, um die als Priestermangel schöngeredete Glaubenskrise abzufedern, aufgrund ihrer Hautfarbe und Herkunft angefeindet und rassistisch beleidigt. Olivier Ndjimbi-Tshiende, der als Pfarrer von Zorneding zu trauriger Berühmtheit gelangte, steht nur stellvertretend für eine große Schar.

Welcher andere als dieser Schluss sollte sich daraus ziehen lassen: Der Konflikt um Religion ist kein Konflikt um Religion. Der Konflikt um Kultur ist auch nur bedingt ein Konflikt um Kultur. Beide Konflikte sind zuallererst Konflikte um Identität, um Identitätskonstruktion. Nicht zuletzt zeigt sich das auch daran, dass in regelmäßigen Abständen erbittert um die Frage gestritten wird, ob es in Kindergärten oder in Schulmensen Schweinefleisch geben sollte. Heraufbeschworen wird der Untergang des Abendlandes. Nicht, weil die Trinität auf dem Spiel stünde, mit der Muslime bekanntlich ihre Probleme haben. Nein, ein Mittagessen bringt Europas Kultur zu Fall. Sei’s drum.

Aber auch andersherum kann ein Schuh daraus werden. Jens Spahn hat in der Flüchtlingsfrage mehrfach die Kirchen angewiesen, sie sollten sich aus der Politik heraushalten und statt moralinsaurer Predigten lieber den Glauben verkünden. Ins gleiche Horn blies 2016 ausgerechnet Markus Söder, damals war er noch Finanzminister im Freistaat. Sind diese Forderungen mitunter gerechtfertigt, ist der Vorwurf, Kirchenvertreter greifen zu stark in die Tagespolitik ein, begründet?

Diese Fragen stellen sich in einer Gesellschaft, deren staatlicher Rahmen ein sehr enges Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften vorgibt und die beiden großen Kirchen faktisch privilegiert. Eine strikte Trennung von Staat und Kirchen ist, anders als etwa im laizistischen Frankreich, weder politisch angestrebt noch durch das Grundgesetz vorgesehen. Zugleich aber ist der Staat zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet und die religiöse Heterogenität der Gesellschaft nimmt fraglos zu. Damit wird auch das Kooperationsmodell von Staat und Religionsgemeinschaften verstärkt hinterfragt, der Status quo faktisch privilegierter Kirchen ist so prekär wie schon lange nicht mehr.

Alles das wirft mehrere Fragen auf: Gesellschaft, Politik und Religion, wie geht das noch zusammen? Muss Religion doch Privatsache werden? Oder können Religion und Politik voneinander profitieren? Und falls ja, was ist zu beachten, damit es am Ende nicht heißt: missbrauchter Gott?