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Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität
Verantwortlich als Erster Vorsitzender:
Andreas Wollbold

Spirituelle Theologie

Band 4

Katharina Karl (Hg.)

Scheitern und Glauben als Herausforderung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Inhalt

Einführung

Matthias Junge

Scheitern und Scheiternsbewältigung
vor dem Hintergrund empirischer Daten

Jochen Sautermeister

Scheitern hat nicht das letzte Wort …
Radikale Brucherfahrungen
als theologisch-ethische Herausforderung

Igna Kramp

Half women are not for such turns
Vom weißen Martyrium Mary Wards

Corinna Dahlgrün

Die Heilung der Gottliebin Dittus und
die Erweckung in Möttlingen – Geschichte eines Scheiterns?
Über das Verstehen und Bewerten von Erfahrungen

Katharina Karl

Scheitern auf dem Glaubensweg?
Krise und Neuanfang am Beispiel
von Ordensbiografien

Einführung

Der Titel des vorliegenden Sammelbandes verdankt sich der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität (AGTS) im Jahr 2012 in Bamberg. Lebensentwürfe sind immer, in der heutigen Zeit vielleicht besonders, fragmentarisch, und wenig wird bislang darüber nachgedacht, was sich über diese Situationsanalyse hinaus über geglücktes und gelungenes Leben aussagen lässt. „Der Begriff ‚Scheitern’ ist besonders in einer evolutiv erfolgsorientierten Vitalgesellschaft, in der der Kampf aller gegen alle auf Gewinn(er) zielt“ (G. Fuchs) ein ebenso heißes wie verdrängtes Thema. Da es nicht zuletzt eine Frage ist, zu der eine Theologie der Spiritualität Positionen formulieren und beitragen kann, hat sich die AGTS dieses Themas angenommen.

Das Phänomen des Scheiterns und der Umgang damit sollten von verschiedenen Seiten betrachtet werden – mittels der Behandlung theoretisch- grundsätzlicher Fragestellungen, aus geschichtlicher Perspektive anhand von Lebensbildern sowie aktuell im Lichte von empirischen Daten und Konkretisierungen.

Eine systematische Annäherung erfolgt durch die beiden Beiträge von Matthias Junge und Jochen Sautermeister – die aus soziologischer Sicht dem gesellschaftlichen Umgang mit dem Scheitern und aus theologischer Sicht der Frage einer Ethik des Scheiterns nachgehen. Auf die fundamentaltheologischen und lebensbiografischen Beiträge von Gotthard Fuchs musste leider kurzfristig verzichtet werden.

Die Spannung von Kirchenliebe, Kirchenkritik, Scheitern und Fruchtbarwerden in der Kirche und als Kirche werden am Medium der Glaubensbiografien von Mary Ward (Igna Kramp) und Christoph Blumhardt (Corinna Dahlgrün) behandelt.

Katharina Karl befasst sich im Rahmen eines Habilitationsprojekts, einer Studie zur Biografie junger Ordenschristen, empirisch mit dem Thema und stellt die Frage nach Krise und Neuanfang auf dem Ordensweg.

Die AGTS versteht sich als „Think Tank“, der ein so relevantes Thema aus ausgewählten Perspektiven beleuchtet hat. Auf diese Weise kann ein Diskussionsbeitrag geleistet werden und die hier veröffentlichten Aufsätze sollen Anregung zum Weiterdenken bieten.

Katharina Karl

Scheitern und Scheiternsbewältigung vor dem Hintergrund empirischer Daten

Matthias Junge

Einleitung

2004 hielt ich in einem Überblicksbeitrag (vgl. 2004b) zur damals wie heute nicht etablierten1 soziologischen Scheiternsforschung fest, dass Beiträge zur existenziellen Problematik des Scheiterns vor allem von den kirchlichen Transzendenzarbeitern, etwa von Priestern oder Mönchen, zu erwarten seien. Wenngleich diese Gruppe in Konkurrenz zu anderen Sinnarbeitern, vor allem Psychotherapeuten und Lebensberatern, steht, so zeigt die von ihnen ausgerichtete Tagung, dass die Handlungs- und Deutungsaufforderung existenziellen Scheiterns von den Kirchen angenommen wird. Jedoch muss diese Arbeit eingebettet sein in die Wahrnehmung und Kenntnisnahme der sozialen Rahmenbedingungen. Der Beitrag wird aus soziologischer Perspektive Informationen hierzu zur Verfügung stellen.

Dazu wird in drei großen Schritten, abgerundet durch ein Fazit, vorgegangen: Zuerst wird unter Rückgriff auf Zygmunt Baumans Konzeption des „menschlichen Abfalls“ skizziert, welche sozialen Konsequenzen das Scheitern in einer auf Erfolg und erfolgreiches Handeln kulturell programmierten Gesellschaft hat und wie sich die dadurch erzeugte soziale Angst bis in die Mittelschicht hinein auswirkt (1.). Sodann werden Grundelemente einer soziologisch gehaltvollen Theorie der Unverfügbarkeit dargestellt, dabei jedoch schon angemerkt, dass der „richtige“ oder „angemessene“ Ansprechpartner für dieses Anliegen außerhalb der Soziologie, vor allem in der Gruppe der Sinnarbeiter, zu suchen wäre (2.). Die Überlegungen werden mit Fragen bezüglich des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Scheitern und Scheiternden abgerundet (3.) und mit einem kurzen Fazit zur ambivalenten Grundstruktur des Scheiterns abgeschlossen.

1. Menschlicher Abfall – ein Beispiel für das Scheitern

Ich beginne mit einer Schilderung der strukturellen Veränderungen, die beim Übergang von der Moderne zur Postmoderne das Scheitern direkt betreffen. Ich werde Befunde zusammentragen, die Scheitern als ein Scheitern am Erfolgsversprechen der Gesellschaft beschreiben. Hierfür wird Baumans Konzeption des menschlichen Abfalls als Kennzeichnung einer scheiternden sozialen Gruppierung leitend sein.

Die von Bauman beschriebene Verflüchtigung der Verhältnisse führt mit sich, dass eine zunehmende Zahl von Verlierern, von Ausgeschlossenen, von Exkludierten, denen die Möglichkeit zur Teilhabe an den gesellschaftlichen Chancen verwehrt ist, zu konstatieren ist. Sie sind Ausdruck der strukturellen Schattenseite des Übergangs zur Postmoderne. Sie stellen dar, was Bauman zuspitzend als „menschlichen Abfall“ (im Original: „human waste“ 2004) kennzeichnet, um auf diese Gruppe hinzuweisen. Und es ist diese Kehrseite, Angst vor dem sozialen Abstieg, Angst vor dem Scheitern des eigenen Bemühens, Angst „menschlicher Abfall“ zu werden, Angst vor Repression und Mangel an Konsumchancen, die eine strukturell verursachte Schattenseite der Postmoderne kennzeichnet.

Bauman verwendet eine einfache sozialstrukturelle Dichotomisierung, um die Gesellschaft zu beschreiben: Bifurkation. Unterstellt wird damit, dass die Mitglieder einer Gesellschaft in zwei einander ausschließende Kategorien eingeteilt werden können. Diese beiden Gruppen lassen sich sodann entlang beliebiger Merkmale gegenüberstellen: Chancen, Probleme, Perspektiven, Formen des Erfolgs, Formen des Konsums, Formen des Scheiterns und anderes mehr. Ein Beginn mit der theoretischen Struktur der Bifurkation hat den Vorteil, dass diese Form der Unterscheidung sowohl theoretisch wie auch in der alltäglichen Orientierung gebräuchlich ist – und damit auch die für eine Analyse des Scheiterns wichtigen Dichotomien von Handeln versus Scheitern und von Scheitern versus Erfolg vorgezeichnet sind.

Mit der Entwicklung der Konzeption des menschlichen Abfalls überschreitet Bauman die Grenzen seiner ursprünglich bei Ambivalenz ansetzenden Gesellschaftstheorie. War Ambivalenz noch rein wissenssoziologisch als Versagen der Nenn-Trennfunktion der Sprache definiert, so wird nun menschlicher Abfall einerseits als Ergebnis der notwendigen sozialen Trennfunktion beschrieben: “The production of ‘human waste’ ... is an inevitable outcome of modernization, and an inseparable accompaniment of modernity. It is an inescapable side-effect of order-building.” (Bauman 2004: 5) Andererseits wird menschlicher Abfall mit direktem Bezug auf die Entstehung von Ordnung definiert und damit eine über die wissenssoziologische Perspektive hinausgehende Integration von Klassifikation und Handlung hergestellt. Kurz: Das Konzept des menschlichen Abfalls geht über die Möglichkeiten des Konzepts der Ambivalenz hinaus und öffnet fruchtbar Perspektiven für Gesellschaftsanalyse und -kritik.

Das soll im Folgenden an exemplarischen Daten und gesellschaftlichen Diskussionen ausgeführt werden. Ein Beispiel hierfür ist die vor 6 Jahren geführte Debatte und ihre heutige Weiterführung um die sog. „Unterschicht“ oder, wie der damals geläufige Begriff war, das sog. „Prekariat“. Denn diese Debatte drehte sich nicht wirklich um die soziale Not einer etwa 5–6 % der Bevölkerung umfassenden dauerhaft in ihrer sozialen Lage gefangenen Gruppe. Vielmehr war diese Debatte Ausdruck der Angst der Gewinner des Übergangs, jederzeit zu Verlierern werden zu können. Ausgelöst werden diese Ängste durch einen strukturellen Befund: Die objektive Wohlstandsentwicklung hatte sich verlangsamt. Und es war diese Gefährdung des erreichten Wohlstands, die nun auch Teile der Mittelschicht erreichte und Angst vor einem möglichen Statusverlust hervorrief. Anders und zugespitzt formuliert: Statusverlust wurde mit Scheitern gleichgesetzt.

Das ist eine sehr schnelle Identifizierung in eine Gesellschaft, die auf sozialer Mobilität beruht – denn Mobilität meint immer Auf- und (!) Abstiegsmobilität. Gerade befristete, zeitweilige Abstiege sind vorgesehen, in Grenzen auch sozial und versicherungstechnisch abgesichert. Die in ihrer Angst befangene Mittelschicht setzte relative Verluste mit absoluten Verlusten gleich und stellte drohende Verluste eines Abstiegs nicht mehr in Relation zu anderen Verlusten.

Diese Ängste der ursprünglich Gewinner des Übergangs zur Postmoderne darstellenden gesellschaftlichen Mittellage sind vor allem eine Reaktion auf den Rückzug des Staates von seiner moderner Aufgabenstellung der Sorge für seine Bürger. Galt der Staat in der Moderne als Garant von sozialer und ökonomischer Sicherheit, so hat er diese Aufgabenstellung in der Postmoderne neu definiert. Der postmoderne Staat verspricht stattdessen „persönliche Sicherheit“ und wird zu einem „Sicherheitsstaat“, der vor allem vor „Bedrohungen wie Pädophile auf freiem Fuß, Serienmördern, aufdringlichen Bettlern, Straßenräubern, Stalkern, Giftmördern, Terroristen ... zu beschützen verspricht“. (Bauman 2008: 26) Diese Verlagerung der Aufmerksamkeit und Orientierung des Staates ist nur konsequent, weil er nicht mehr über die Mittel verfügt, um seine aus der Moderne stammenden Aufgaben weiter zu erfüllen. Folglich tritt er von diesen Aufgaben zurück und setzt an ihre Stelle die vordergründig wichtigere Befassung mit „persönlicher Sicherheit“.

Mit dieser Entwicklung werden Gruppen von der gesellschaftlichen Entwicklung abgehängt, die zuvor in der Moderne und weiterhin auch in der Postmoderne auf soziale Sicherheit angewiesen sind, denen aber der Ersatz „persönliche Sicherheit“ wenig zu bieten hat – die Unterschicht, von Armut betroffene Gruppen. Hierzu gehören insbesondere Kinder. Laut UNICEF Vergleichsbericht 2012 sind in der BRD 1,2 Millionen Kinder mit einer ernsthaften Mangelsituation konfrontiert. Dazu gehören aber auch eine wachsende Zahl bedürftiger Rentnerinnen (Altersarmut trifft laut DIW 2011 vor allem Frauen) und ähnliche Gruppen.

Um ein Zwischenfazit zu ziehen: „Armut ist in unserer Gesellschaft mittlerweile wieder zu einem substantiellen Risiko geworden, das auch die mittleren Schichten betrifft.“ (Bohle 1997: 148) Es ist vor allem die Gefährdung erreichten Wohlstandes, die die strukturelle Schattenseite der Postmoderne kennzeichnet. Die Wohlstandsgefährdung wird als eine Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer, Inkludierte und Exkludierte, Arbeitsplatzbesitzer und Nicht-Arbeitsplatzbesitzer wahrgenommen. (Bauman 1999) Und sie bestimmt mittlerweile auch die Wahrnehmung der ehemals stabilen gesellschaftlichen Mittellage. Dies ist ein Indikator dafür, dass die ehemals saturierte und sich sozial sicher fühlende gesellschaftliche Lage sich nun auch von der Gefahr bedroht fühlt, zum menschlichen Abfall zu werden und damit zum Objekt der anderen Seite der gesellschaftlichen Bifurkation gemacht zu werden.

Dies verändert die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Gefüges insgesamt – die theoretisch benutzte Bifurkation taucht gesellschaftlich als deutliche Zweiteilung des sozialen Raumes wieder auf: Haben versus Nicht-Haben, Reich versus Arm, Gescheitert versus Erfolgreich usw.

Soziale Spaltung im Bewusstsein der Bevölkerung*

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* Mansel/Heitmeyer 2005: 55 (Daten der GMF-Studie, etwa 3000 repräsentativ Befragte)

Die starke Abstiegsangst der Mittelschicht lässt sich mit Hilfe des Indikators Angst vor Arbeitslosigkeit operationalisieren. Dies ist deshalb ein guter Indikator, weil Arbeit und über Arbeitseinkommen gesicherte Lebenschancen den Kernbereich gesellschaftlicher Regulation und Anforderungen an den Einzelnen abbilden. Es geht bei der Angst vor Arbeitslosigkeit darum, dass angesichts prekären Wohlstands Arbeitslosigkeit eine Hauptursache sozialen Abstiegs geworden ist. Denn das Risiko des mit Erwerbslosigkeit verbundenen Einkommensverlusts ist erheblich. So stieg nach den Ergebnissen der vom Statistischen Bundesamt verwendeten ILO-Arbeitsmarktstatistik zwischen 1991 und 2004 die Erwerbslosenquote im Jahresdurchschnitt von 4,9 % auf 9,2 %, um erst in den letzten Jahren gipfelnd im April/Juli 2012 mit 2,963/2,87 Millionen Arbeitslosen (7 %) laut Statistischem Bundesamt wieder zu fallen, ohne dass ein Wiederanstieg ausgeschlossen werden kann.

Wir wissen aus der Ungleichheitsforschung, dass prekäre Lagen bis hin zu zeitlich befristeten Notlagen der Regelfall sozialer Mobilität in Gegenwartsgesellschaften sind. Soziale Mobilität führt bei vielen kurz- und mittelfristig zu jeweils kürzeren oder längeren Phasen des sozialen Abstiegs, die zumeist durch erneute Phasen des sozialen Aufstiegs aufgefangen und ausgeglichen werden. Diese Erfahrung einer hochmobilen sozialen Statussituation führt jedoch vor allem für die Gruppe derjenigen, deren Wohlstand als nicht endgültig gesichert zu bezeichnen ist, zu massiven sozialen Abstiegsängsten. Die Befürchtung geht um, dass sich die Mittelschicht aufzulösen beginnt, ihre scheinbar gesicherte Statusposition unter dem Druck von Globalisierung und fortschreitender gesellschaftlicher Modernisierung verliert und in einen „Abwärtsstrudel“ hineingezogen wird.

Umfrageergebnisse zeigen, dass die Angst vor dem sozialen Abstieg mittlerweile bis weit in die Mittelschichten hinein verbreitet ist, denn immerhin gibt ein Drittel der Gesamtbevölkerung an, sich zumindest gelegentlich bis häufig über die Gefahr des sozialen Abstiegs Gedanken zu machen.

Entwicklung der Angst vor Arbeitslosigkeit*

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* Mansel/Heitmeyer 2005: 57 (Daten der GMF-Studie, etwa 3000 repräsentativ Befragte)

Allerdings sind diese Ergebnisse im Zeitverlauf nicht stabil geblieben. Zwischen 2005 bis 2012 trat ein Stimmungswechsel ein. Nach einer Allensbacher Umfrage (7074, 10086 Tabelle A5) waren 2005 64 % der Bevölkerung der BRD davon überzeugt, dass die Einkommensunterschiede zu groß seien, aber zwischen 2005 und 2012 nahm die Zustimmung zu der Aussage „Die Gefahr, sozial abzusteigen, zu verarmen, ist groß“ von 77 auf 65 % ab. Hinter diesen Veränderungen verbergen sich kurzfristige Reaktionen auf die Veränderung der wirtschaftlichen Gesamtsituation der BRD wie auch Veränderungen (ein deutlicher Rückgang) der Arbeitslosenquote. Solche Stimmungsbilder sind aber nicht über die Zeit stabil, sondern sie reagieren empfindlich auf die aktuelle Lageeinschätzung.

Alarmierend an diesem Befund ist, dass trotz wirtschaftlicher Prosperität Abstiegsangst weit verbreitet ist. Anders ausgedrückt, dass Abstiegsangst ein movens „gesellschaftlicher Gefügigkeit“ für den Einzelnen darstellt. Die Befürchtung eigenen Scheiterns wird als Motor gesellschaftlicher Dynamik eingesetzt. Mögliches Scheitern motiviert zu angepasstem, passendem Handeln entlang der kulturellen Fiktion der Handlungsfähigkeit. Ob diese Fiktion notwendig ist, das lasse ich an dieser Stelle noch offen.

Aber auch neueste und die längsschnittliche Perspektive mit Hilfe des SOEP seit 1984 einbeziehende von Holger Lengfeld und Jochen Hirschle 2009 veröffentlichte Daten (vgl. 2009) belegen in der Tendenz eine Ausweitung der Abstiegsangst bis in die Mittelschicht hinein. Differenziert man die Mittelschicht in eine untere, mittlere und obere Mittelschicht, so zeigt sich im Zeitverlauf: „Hier nimmt die empfundene Unsicherheit nicht nur absolut, sondern auch relativ zu den unteren Schichten überproportional zu.“ (Lengfeld/Hirschle 2009: 394) Insgesamt ist daher zu konstatieren, dass sich selbst in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität das subjektive Empfinden von Abstiegsangst gesellschaftlich ausgeweitet hat und dabei vor allem auch die mittlere Mittelschicht betroffen ist. Mau (2012: 8) spricht pointiert zusammenfassend davon, dass die Situation von Angehörigen der Mittelschicht immer häufiger von „Prekarisierungsrisiken und Aufstiegsblockaden“ geprägt ist.

Zusammengefasst: Durch die Unterschicht-Debatte grenzte sich die Mittelschicht sozial und kulturell gegen die Unterschicht ab, aber auch gegen die eigene psychische Abstiegsangst. Die Unterschicht gilt der Mittelschicht als eine untere Grenze. Bereits deren Rand zu streifen ist „gefährlich“, weil damit der soziale Ausschluss, die soziale Exklusion, d. h. Ausgrenzung und Ausgrenzungserfahrungen einhergehen. Diese Handlungsweise ist als ein reaktives Syndrom, psychoanalytisch gesprochen, als Abwehr zu verstehen. Abwehr der Einsicht, dass Modernisierung und Individualisierung eine zweigeteilte Gesellschaft mit einem erheblichen Abstiegsrisiko erzeugt hat.

2. Theorie

Wie ist diese Situation soziologisch einzuschätzen und zu bewerten? Die Hervorhebung und Herausarbeitung von Hoffnungsschimmern spare ich mir. Nicht nur, weil Theologen Meister darin sind, Hoffnungen aufzuzeigen, sondern vor allem, weil die Konzentration im Folgenden auf die konzeptionelle Beschreibung und differenzierte Zeichnung des Schattens gelegt werden soll. Diese Differenzierung betont vor allem, dass Scheitern beständig zugleich Licht und Schatten, Vorteile und Nachteile, Chancen und Risiken meint. Paradox formuliert: Scheitern kann auch ein Erfolg sein.

Was ist also Scheitern? Bislang wurde der Begriff ja nur in einem vorsoziologischen, alltäglichem Verständnis ohne jede Definition und Kennzeichnung verwendet.

Scheitern ist ein Grundelement der conditio humana. Wer handelt kann erfolgreich sein, wer dies nicht ist, im schlimmsten Falle also gescheitert ist, hat zuvor gehandelt. Handeln sucht Wünsche und Bedürfnisse, die sich aus den Bedingungen menschlichen Daseins ergeben, zu realisieren. Dabei auftretende Hindernisse gilt es zu beachten, ihre Bewältigung in die Handlungsplanung zu integrieren, um das Ziel erreichen zu können. Scheitern wird durch die Antizipation von Handlungshindernissen zu vermeiden gesucht. Mögliches Scheitern ist ein Bestandteil der Handlungsplanung.

Scheitern ist ein omnipräsentes Phänomen. Es kann den einzelnen Menschen, Gruppen, Institutionen und Gesellschaften betreffen. Der Begriff verweist immer auf sein dazugehörendes Zwillingskonzept: Handeln. Nur wenn gehandelt wurde, kann gescheitert werden: an den Umständen, an Normen, an ungenügender Handlungsplanung, an institutionellen Regelungen, am Wollen anderer Akteure. Scheitern verweist auf Grenzen der Handlungsfähigkeit, auf einen allgegenwärtigen Grenzfall der Konstitution von Sozialität.

Trotz seiner Allgegenwart ist Scheitern kein Konzept oder Forschungsgegenstand der Soziologie, Scheitern war im soziologischen Diskurs „abwesend“ (Dombrowsky 1983) und ist es bis heute geblieben. Scheitern als Grunderfahrung sozialen Seins ist bislang eher umschrieben als durch die soziologische Forschung als Problem aufgegriffen worden. Scheitern ist eine überwiegend ausgeblendete Problemstellung soziologischen Denkens. Ansätze zu seiner konzeptionellen Erfassung liegen bislang nicht vor.

Diese Einschätzung wirft Fragen auf, denen im Folgenden nachgegangen wird: Was ist Scheitern? Welche Erfahrungen sind damit verbunden? Wie kann Scheitern soziologisch konzipiert werden? Wie wird Scheitern bewältigt, sozial bearbeitet? Und, wie verhält sich die Gesellschaft zum Scheitern als einem in ihr angelegten Risiko?