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THEMA

Was ist eigentlich eine „christliche Familie“?

Von Josef Römelt

Wider das Familienhurra in der Kirche

Von Andreas Püttmann

Danke für Freundschaft, für Freundschaft in der Familie und für die (christliche) Familie!

Die Replik von Josef Römelt auf Andreas Püttmann

Der Spagat der Theologen

Die Replik von Andreas Püttmann auf Josef Römelt

Zwischen Vorbehalt und Wertschätzung

Ehe und Familie im Neuen Testament
Von Gerd Häfner

PROJEKT

Gott ist in der Kita

Von Albert Biesinger

INTERVIEW

Schaut in die Wohnzimmer der Familien, nicht in ihre Schlafzimmer!

Ein Gespräch mit Ute Eberl

PRAXIS

Ein ernsthafter Prozess

Von Eva-Maria Faber

Elternschaft heute

Von Konrad Hilpert

Paare in Patchworkfamilien

Von Klaus Schmalzl

Kostenfaktor Kind

Von Elisabeth Zschiedrich

Die heilige, die große, die alltägliche Familie

Familiale Strukturen im Konzept
„Godly Play“
Von Martin Steinhäuser

Militärseelsorge

Von Peter Wendl

Das Konzept der „Joint Family“

Das Familienverständnis im indisch-hinduistischen Kulturkreis
Von Preetha Varayilan

FORUM

Biblische Gottesbilder und die Krise des Theismus

Von Martin Hochholzer

POPKULTURBEUTEL

Salbungsvoll

Von Matthias Sellmann

NACHLESE

Glossen

Impressum

Buchbesprechungen

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Bernhard Spielberg Mitglied der Schriftleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

es ist diese unvergleichliche Mischung aus anregenden Begegnungen und solchen, über die man sich aufregen kann, die Familientreffen zu etwas Besonderem machen. Während die Großtante beim zweiten Stück Schwarzwälder Kirsch den jüngsten chirurgischen Eingriff ungeschönt Revue passieren lässt, und der aktuelle Partner der Cousine vom neuen Rasenmähroboter schwärmt, tauschen sich am anderen Ende des Tisches vier – durch Androhung mehrstündigen Medienentzugs zur Teilnahme motivierte – Jugendliche über Kniffe beim Angriff auf extraterrestrische Killermaschinen aus. Wie gut, dass man mit all denen verwandt ist! Sonst würde man sich wahrscheinlich nie kennenlernen.

Die Bischofssynode, die in diesen Wochen tagt, ist eine Familiensynode im doppelten Sinn: sie dreht sich nicht nur inhaltlich um Familie, Partnerschaft und Sex, sie ist auch selbst ein großes Familientreffen. Wenn Bischöfe aus der ganzen Welt in Rom zusammenkommen, dann zeigt sich – bei aller Uniformität der Kleidung – das ganze Farbenspektrum der katholischen Kirche. Und weil diese Familie diesmal nicht zu einem harmlosen Jubiläum zusammenkommt, sondern sich vorgenommen hat, über den Umgang mit einigen Stücken des ererbten „Tafelsilbers“ zu debattieren, verspricht das Treffen ein ebenso großes Inspirations- wie Konfliktpotenzial. Dass letzteres vom Familienoberhaupt nicht nur toleriert, sondern sogar eingefordert wird, ist schon vor dem Abschluss ein vorzeigbares Ergebnis. Das stellt Eva-Maria Faber in ihrer Analyse des Prozesses heraus.

Auch mit den anderen Beiträgen mischen wir uns in die Debatte ein, die in der Kirche – nicht nur in Rom – um die Familie geführt wird. Andreas Püttmann hält ein Plädoyer wider das kirchliche „Familienhurra“. Josef Römelt hält dagegen. Gerd Häfner verrückt im Blick auf das Neue Testament scheinbare Sicherheiten. Im Interview gewährt Ute Eberl, die im vergangenen Herbst als deutsche Auditrix an der außerordentlichen Synode teilgenommen hat, einen Insider-Blick auf das kirchliche Familientreffen. Und dass gerade bei diesem Thema die wesentlichen Fortschritte vor Ort getan werden, können Sie an den beeindruckenden Beiträgen aus der Praxis erkennen.

Wo auch immer es sein wird: für Ihr nächstes Familientreffen wünsche ich Ihnen mehr An- als Aufregung – und das Gleiche für die Lektüre dieses Heftes.

Ihr

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JProf. Dr. Bernhard Spielberg, Mitglied der Schriftleitung

Was ist eigentlich eine „christliche Familie“ – und wird sie als Leitbild gesellschaftlich und kirchlich unter- oder überschätzt?

Wenn man das Wort „christliche Familie“ hört, denkt man unwillkürlich an ein Idealbild als Normalfall: Vater und Mutter, die miteinander verheiratet sind, mit einem gemeinsamen, ja mehreren Kindern, die sich in ihrer Rolle ganz harmonisch aufeinander abstimmen, Verantwortung für einander übernehmen und ohne Reibung und Konflikte ein glückliches Leben führen. Und irgendwie bleibt immer die traurige Frage: können zum Beispiel Alleinerziehende, ledige Väter und Mütter, Paare ohne Trauschein oder Menschen nach einer Scheidung dann überhaupt noch christliche Familie sein? Oder noch vorsichtiger gefragt: können sie zumindest etwas von dem verwirklichen, was mit diesem Ideal angesprochen ist? Ganz zu schweigen von denen, die heute als „Regenbogenfamilie“ beschrieben werden: gleichgeschlechtliche Paare mit (ihren) Kindern? Josef Römelt

Aber auch Christen leben heute mit all den Spannungen, welche das moderne Leben mit sich bringt. Wenn „christliche Familie“ heißt, es geht um Familien, in denen Christen leben, dann gibt es sie auch heute in einer ganz großen Vielfalt.

Auch Christen suchen zum Beispiel im Zerbrechen der Partnerschaft und des familiären Zusammenhalts nach hilfreichen Formen partnerschaftlicher Liebe und familialer Lebenskultur als Quelle der menschlich sinnvollen Bewältigung der Scheidungskonflikte. Das heißt: neue Modelle des gelungenen Zusammenlebens zwischen (Stief-)Eltern und Kindern, durch Scheidung entstehender Restfamilien und „Patchworkfamilien“ entstehen. Gerade aus einem bleibenden moralischen Anspruch heraus, der sich auch dann dem fordernden Wort Jesu und des Evangeliums verpflichtet fühlt, wenn eine Partnerschaft nicht gelingt und eine Familie zerbricht. Hier geht es gerade um Bewährung und Bewährung der Christlichkeit in der Krise, nicht ihre Aufgabe und ihren Verlust aufgrund der Spannungen, die ein Auseinandergehen von Partnern bedeutet und mit sich bringt!

Und auch Christen erfahren – um ein weiteres Beispiel zu nennen – die Übernahme und Gestaltung einer gleichgeschlechtlichen Lebensform der freien Bestimmung der Betroffenen anvertraut. In erlittenen und gestalteten, durch Prägungen übernommenen und durch eigene Optionen gewählten Umständen und Konturen, in welche das persönliche Leben gerät und die es zugleich gewinnt, bekennen und entscheiden sie sich dazu, homosexuell zu sein. Wie bei den vielen anderen Seiten der eigenen Biografie – Berufswahl, Wahl des Wohnortes oder Ähnliches – bringen sie darin ihr Recht zum Ausdruck, ihr Leben entsprechend der individuellen Identität entfalten zu dürfen. Weil die Lebensgestaltung so tief mit der unmittelbaren Lebenswahrheit verbunden ist wie in der Wahl der Zahl der Kinder, in der Berufung zu Ehe und Familie oder etwa zum Ordensleben.

Ja, auch Christen kennen die Sehnsucht nach einer befreienden Balance zwischen den Bedürfnissen aller Familienmitglieder. Sie müssen sich um eine vielfältige Phantasie bemühen, wie in den Rhythmen der modernen Lebenswelt die miteinander konkurrierenden Werte der Familie – die partnerschaftliche Begegnung, die gelungene Erziehung, der berufliche Erfolg, die gestaltete Freizeit – in eine Balance gebracht werden können. Die Anforderungen jedes Lebensbereiches (Beruf, Ausbildung, partnerschaftliche Beziehung, Lebensraum für die Kinder, Fürsorgepflicht) müssen in ein ausgeglichenes Verhältnis gebracht werden. Das ist nicht immer leicht! Und gelingt nicht immer einfach nur harmonisch!

Die Vielfalt im Erleben von Sexualität, Partnerschaft und Familie ist in diesen Entwicklungen Ausdruck einer tiefen Lebendigkeit der freiheitlichen Kultur. Sie hat auch für viele Christen eine Erleichterung gegenüber bedrängenden Vorgaben mit sich gebracht, wie sie in der Vergangenheit gerade das kirchliche Milieu häufig geprägt haben. Eine Befreiung von Gewissensnöten, die eine zu enge kirchliche Moral erzeugt hat und eine Erziehung, welche die Freude an der Vitalität von Sexualität, Liebe und Partnerschaft auch bedroht hat. Und doch scheint die gegenwärtige Offenheit im Umgang mit der Liebe den Menschen nicht nur zu entlasten. Die „Liberalisierung“, die es „mehrfach in diesem Jahrhundert“ gegeben hat, hat zwar „den Abbau von oberflächlichen, bewusstseinsnahen Ängsten“ im Umgang mit menschlicher Sexualität und Liebe „gebracht“, aber sie scheint „auch neue Ängste“ erzeugt zu haben, „die Vertiefung schon vorhandener Ängste und absolut übertriebene Forderungen“. Und es stellt sich die Frage, ob der Mensch heute in Bezug auf die Erfahrungen geschlechtlicher Intimität, partnerschaftlicher Liebe und familiärer Entfaltung nicht mit neuen „Leistungszwängen, Beunruhigungen und Riskierungen“ lebt (Sigusch, 102f.).

Muss man diese Risiken des modernen Umgangs mit Liebe und Familie, wenn man sie näher verstehen möchte, vielleicht vor allem in zwei Richtungen suchen? Führt die versuchte Offenheit intimer Beziehungen wohl auch zu Phänomenen psychischer Ausnutzung und Erschöpfung? Der fehlende Mut zur Bindung zur Vertiefung der Einsamkeit der Menschen – mitten in aller Offenheit der Intimität – bis hin zur Isolation? Vor allem aber scheint die Umdeutung der verschiedengeschlechtlichen Ehe heute auch zum Ausdruck einer Verschlossenheit der sexuellen Kultur zu führen. Kann sie die Offenheit der Liebe für Kinder nicht mehr als einen besonders tiefen Teil der Intimität verstehen?

Wer sich z.B. zu einer gleichgeschlechtlichen Lebensgestaltung entschließt, drückt darin zugleich auch den Verzicht darauf aus, Kinder mit einem Partner (auf natürliche Weise) zu zeugen und ins Leben zu begleiten. Gleichgeschlechtliche Liebe trägt die Distanz zu natürlicher Entfaltung von Weitergabe des Lebens an Kinder und zur Vitalität familiären Lebens in sich. Dieses Faktum lässt sich nicht verdrängen und mit noch so großer Rhetorik von Gleichstellung der Familienformen, Emanzipation und (technisch-gestützter [künstliche Befruchtungshilfen]) Optionsvielfalt innerhalb moderner Gesellschaft verdecken.

Jedenfalls ringt die gegenwärtige Gesellschaft um den Sinn der Bindung in der Liebe, um die Erfahrung der Beheimatung, die damit zusammenhängt. Und sie kämpft um einen Raum für die Familie, die sie mit ihren eigenen Zwängen weit an den Rand ihres lebendigen Lebens gedrängt hat. Faktum ist: In allen modernen Industrienationen hat mit dem wachsenden Wohlstand und der komplexen Entwicklung der Gesellschaft die Geburtenrate kontinuierlich abgenommen (Werz 2008). Und das gilt trotz aller sozialpolitischen Programme zur Entlastung von Eltern durch Kinderbetreuung, Karenz- und Elternzeit. Viele Paare leben lieber ohne Kinder, um den schwierigen Konflikten des Lebens mit Familie zu entgehen.

CHRISTLICHE FAMILIE: HUMANÖKOLOGIE DER BELASTUNGSFÄHIGEN UND KINDORIENTIERTEN PARTNERSCHAFT

Die Kirche erinnert daran, dass die Sexualität und das intime Glück nicht überfordert werden dürfen, damit nicht statt helfender Kraft zerstörerische Leere zurückbleibt. Der Glaube macht Sexualität und Liebe als Gabe Gottes verständlich. So werden sie in ihrer Schönheit, aber auch in ihrer Begrenztheit zugänglich. Und die Freude an der (intimen) Liebe kann das Leben des Menschen bereichern, ohne dass er sich im Rausch verlieren muss – eine Gelassenheit, die so wichtig ist, gerade weil so große Erwartungen für das menschliche Glück an Partnerschaft und Familie geknüpft werden.

Die Idee der christlichen Familie macht auch heute noch bewusst, dass die Liebe den Mut zu einem verlässlichen Engagement braucht. Ohne Treue verliert sich der persönliche Impuls so merkwürdig rasch in trauriger Einsamkeit und bitterer Isolation. Die Liebe lebt immer auch vom Glauben der beiden Partner an ihre Stabilität, besonders in den Konflikten. So macht sich der Glaube zum Anwalt der Hoffnung, dass das gemeinsame Leben trägt – eine Ressource, die in den raschen Rhythmen des gegenwärtigen Lebens unabdingbar notwendig ist. Sie erhebt Einspruch gegen die Skepsis, die immer schon mit dem Scheitern rechnet.

Und der Glaube bewahrt mit seinem ureigensten Wissen um das Leben als Geschenk Gottes auch das innerste Gespür dafür, dass es einen durch nichts zu ersetzenden Sinn hat, Kinder zu haben. Diese Fruchtbarkeit der Liebe in den Kindern, welche die Zukunft in ihren kleinen Händen halten, kann durch kein noch so radikales berufliches oder gesellschaftliches Engagement eingeholt werden. Die dankbare Erfahrung der Leben schenkenden Gabe Gottes hält den Zugang zu diesem Eigenwert der Familie offen. Er droht in den Zwängen des differenzierten Lebens immer stärker von den gesellschaftlichen Interessen verdrängt zu werden.

So entsteht eine vieldimensionale religiöse und menschliche Semantik des Vertrauens und der Sinnerfahrung. Sie bildet die Mitte des Verständnisses christlicher Familie. Der theologische Fachbegriff, der diese Zusammenhänge ausdrückt, spricht von der Sakramentalität ehelicher Liebe. Nach dem Verständnis des christlichen Glaubens gehören zu einer solchen Erfahrung: die eindeutige, vorbehaltlose Intention der Partner, sich in der Liebe aneinander zu binden, ihre gemeinsame fruchtbare Kreativität bis hin zur möglichen Gründung einer Familie, die versuchte Offenheit für die Begegnung mit Gott und der gemeinsame Lebensweg der Partner innerhalb der Gemeinschaft der Kirche. Die theologische Aussage von der Ehe als Sakrament gründet auf der Erfahrung der möglichen Radikalität solcher Liebe. Und diese kann nach dieser Deutung dadurch zum Ort einer einzigartigen Erfahrung belastungsfähiger, durch die ganze Lebensgeschichte tragender Liebe, ja der Nähe Gottes werden – nicht nur für die Partner, sondern auch für ihre Familie, für die Kirche selbst und die Gesellschaft.

Wirkliche Liebe kann man nicht kaufen. Sie ist nicht Gegenstand von Interesse geleiteter Verhandlung und Abmachung. Sie unterliegt nicht der Macht des Staates und den Einflüssen der Gesellschaft. Aber auch nicht nur den Wünschen und Vorstellungen der Partner, der Eltern, Kinder und familiären Einflüssen. Sondern sie hat ihre Wurzeln in der Tiefe des menschlichen Herzens, in der sich zwei Menschen frei, selbstbestimmt und ohne Bedingungen für einander entscheiden. Und sie ist ein Geschenk Gottes, die Gabe einer Institution, besser eines Hauses, in dem sich die Partner einander Geborgenheit schenken und sie zugleich von Gott verliehen bekommen. Ihre Entscheidung geht in dieser Beheimatung so tief, dass sie sich nach dem gemeinsamen Kind sehnen. Sie denkt nicht an das Scheitern, weil sie die Hoffnung des Glaubens in sich trägt und von der Gemeinschaft der Glaubenden Kraft und Solidarität empfängt. Und so ist sie von der Sinnerfahrung in der Beziehung zu Gott getragen. Sie wird selbst zum Ort, an dem spürbar wird, was Liebe überhaupt meint: Geborgenheit und Offenheit, wie sie menschliches Vertrauen zueinander und zu Gott möglich, ja das Vertrauen Gottes in den Menschen sichtbar machen.

Kulturgeschichtlich gesehen hat diese Deutung jedenfalls eine ganz wesentliche Aufgabe für die Gestaltung der partnerschaftlichen Liebe, der Familie und ihre menschliche Würde gehabt: Einheit, Konsensgebundenheit (Freiheit), Unauflöslichkeit, Zeugungsoffenheit und Rechtssicherheit haben historisch gesehen die Entwicklung zu einem personalen Verständnis der Paarbeziehung und familiärer Beziehungen überhaupt erst ermöglicht. Das wird heute schnell vergessen. Denn dieses Verständnis erscheint uns – trotz aller Suche nach gewissen Alternativen oder besser Anpassungen an das moderne Leben – als selbstverständlich.

JENSEITS MORALISCHER BEWERTUNG

Sicherlich: Die Gefahr einer solchen Sicht der Gestaltung von Partnerschaft, ehelicher Liebe und christlicher Familien – gerade im binnentheologischen und innerkirchlichen Diskurs – ist, dass sie als moralische Bewertung missverstanden wird. Dann wird sie zum Verständnis einer eng umschriebenen Form von Intimität und familiärer Gemeinschaft als einzig wertvoller Lebensform der Liebe.

Aber es geht gerade nicht um solche Verurteilung, Herabsetzung, Diffamierung und Demütigung. Die im Bild von der christlichen Familie ausgedrückten Grundlagen unserer Beziehungskultur müssen das Geheimnis von partnerschaftlicher Liebe und vom Leben mit Kindern (Familie) von sich selbst her in ihrer tragenden und verbindenden Bedeutung zur Geltung bringen – über alle Konflikte und Reibereien zwischen den unterschiedlichen partnerschaftlichen und familiären Lebensformen hinweg. Weil es da überhaupt nicht um Diskriminierungen geht, nicht um ein Ausspielen zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft, nicht um einen Kampf zwischen gemeinsamen Kindern, Patchworkfamilien, Adoptivbeziehungen usw.

Die Ehe zwischen Frau und Mann und die Familie mit ihren gemeinsamen Kindern wird auch in Zukunft der Kern familialer Lebensformen bleiben. Man muss kein Prophet sein, um das zu sagen. Zugleich ist aber eine Deklassierung anderer Lebensweisen ganz unnötig, ja unmenschlich und ungerecht. Es geht vielmehr um gelassene Ehrlichkeit, die Verschiedenheiten gelten lässt ohne alles gleichmachen zu müssen, um Offenheit in kluger und sachgerechter Abwägung der (auch natürlichen) Rechte von Kindern, Frauen und Männern und in Achtung vor dem Gebot Gottes.

Vielleicht lässt sich ein solches Verständnis christlicher Familien als Bewegung der ganzen Kirche beschreiben. Es wäre ein Verständnis, das den Gläubigen in einer zweiten Ehe Mut machen kann, sich einer neuen Zukunft in ihrem Leben zuzuwenden und sich nicht etwa auf die gescheiterten Beziehungen mit den damit verbundenen Schuldgefühlen, Beziehungsängsten und Erschütterungen von Selbstbewusstsein und Vertrauen zu fixieren. Ein Verständnis, das sie vielmehr in das gemeindliche Leben integriert bis hin zu den sakramentalen Vollzügen der Beichte und Eucharistie. Es wäre ein Verständnis, welches die unterschwellige Verachtung der gleichgeschlechtlichen Liebe, die auch in der offenen Gesellschaft als Versuchung nicht einfach verschwunden ist, überwinden hilft. Weil eine Verurteilung völlig unangemessen ist. Weil auch in ihr etwas jenseits dogmatischer, kirchenrechtlicher und liturgischer Hochform von der sakramentalen Würde menschlicher Liebe und Fruchtbarkeit Wirklichkeit wird.

Umgekehrt ist dieses Verständnis darauf angewiesen, dass sich Menschen in der Krise ihrer familiären Beziehungen, ja auch beim Zerbrechen ihrer Ehe unter das Wort Jesu stellen und ihr Gewissen auf die Verpflichtungen einer verantwortlichen Bewältigung dieser Erfahrungen hin befragen lassen. Es beinhaltet auch, dass die Betreffenden ihre gleichgeschlechtliche Partnerschaft gestalten, ohne Angst zu haben, dadurch diskriminiert zu werden, dass die Ehe zwischen verschiedengeschlechtlichen Partnern in der Kirche einen eigenen (sakramentalen) Sinn hat. Menschen, die ihre gleichgeschlechtliche Liebe zu leben vermögen, ohne dass sie das tiefe Geheimnis des gemeinsamen Kindes verschiedengeschlechtlicher Eltern in Atemlosigkeit bringt. So geht es um eine gemeinsame Glaubenspraxis, welche die Verschiedenartigkeit der Beziehungsformen achtet, indem sie die besondere Stellung der verschiedengeschlechtlichen Ehe, lebensgeschichtlicher Treue und des Mutes zur Familie sowie ihre Bedeutung für die Gesellschaft bewusst hält. Damit tatsächlich ein integrierter Lebenssinn für alle Beziehungsformen erfahrbar wird!

Josef Römelt

geb. 1957, Redemptorist, Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie und Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt; Gastprofessor an der Accademia Alfonsiana und Gregoriana (Rom).

LITERATUR

Sigusch, V., Anti-Moralia. Sexualpolitische Kommentare, Frankfurt a. M. 1990.

Werz, N. (Hg.), Demografischer Wandel (Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft 25), Baden-Baden 2008.

Wider das Familienhurra in der Kirche

Im katholischen und evangelikalen Milieu rechtskonservativer Prägung grassiert ein unreflektierter bis ideologischer Familismus. Er treibt bisweilen groteske Blüten und dient mehr der Selbstbestätigung als der Nachfolge Jesu Christi. Denn das Christentum ist weder Familienreligion noch Fruchtbarkeitskult. Andreas Püttmann

Beginnen wir mit einigen Schlaglichtern aus dem katholischen Leben:

image 2007 nahm eine mir bekannte Theologin – Anfang 50, ledig, kinderlos – erstmals am Kongress „Freude am Glauben“ des „Forums deutscher Katholiken“ teil, wo ich referierte. Als konservative Katholikin passte sie eigentlich gut dorthin. Dachte ich. Aber als Eva Herman unter frenetischem Beifall ihre Hymne auf Ehe, Mutterschaft und Familie vortrug, wichen Freude und Identifikation meiner Freundin zusehends einer Beklommenheit. Sie fühlte sich unter diesen Familientrunkenen fremd. „Dahin geh’ ich nie wieder; sowas brauch’ ich nicht“, sagte sie später und meinte nicht nur die Rede der konfessionslosen TV-Prominenten, die zur Bannerträgerin der christlichen Sache hochstilisiert worden war.

image Im November 2009 bescheinigte Martin Lohmann vom „Arbeitskreis Engagierter Katholiken“ in der CDU der jungen Bundesfamilienministerin Kristina Köhler (später: Schröder) gleich zu ihrem Amtsantritt, „sich selbst weder politisch noch persönlich mit Ehe und Familie befasst“ zu haben – nur weil sie erst verlobt und nicht schon verheiratete Mutter war. Unsinn natürlich, denn jeder Mensch befasst sich von Kind auf mit Ehe und Familie – der eigenen und anderen. Selbst kreuzbrave, ehewillige Spätzünder sind eben nicht davor sicher, wegen „Familien-Defiziten“ von Katholikensprechern dumm angerempelt zu werden.

image Am 26.2.2012 beklagte der katholische Journalist Jürgen Liminski in der rechten Wochenzeitung „Junge Freiheit“, Kinderlose hätten „in der Regel ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als selbst gut verdienende Väter oder Mütter, ohne wie diese etwas für die Zukunft der Gesellschaft getan zu haben“. Tut ein Priester nichts für die Zukunft der Gesellschaft? Oder eine passionierte ledige Lehrerin? Oder ein unverheirateter Ministerpräsident, der zwei Bundesländer bis weit über das Ruhestandsalter hinaus regierte?

image Als 2012 die Spionage im päpstlichen Haushalt ruchbar wurde, wunderte man sich laut KNA-Korrespondent Johannes Schidelko im Vatikan, dass „ein ehrbarer Familienvater mit drei Kindern in geregelten Verhältnissen zu einem solchen Verrat fähig sein“ könne (kath.net 26.5.12). Der Familienstand als Ausweis der Seriosität, als schlagendes Indiz, es mit einem moralischen Gesamtkunstwerk zu tun zu haben? Wirkten an den großen Verbrechen der Menschheitsgeschichte nicht überwiegend Männer in „geregelten Familienverhältnissen“ mit, die ihre Ehefrauen und Kinder fürsorglich liebten?

Es ist offenkundig im christlichen Lebensalltag, was auch die Soziologie eruierte: eine hohe Affinität von Christ und „Familientyp“ (Klaus-Peter Jörns). Besonders Katholiken wird eine Tendenz zum „Familismus“ attestiert. Ihr Gefühl der Verbundenheit mit den Vorfahren ist überdurchschnittlich ausgeprägt, Verwandtenbesuche sind häufiger. Die gewünschte und die reale Kinderzahl kirchennaher Christen liegen höher als bei den Konfessionslosen. Religiöse Jugendliche machen sich das Lebensziel „Kinder haben“ um 20 Prozent häufiger zu eigen als Nichtreligiöse. Regelmäßige Gottesdienstbesucher erklären häufiger als Kirchenferne, nichts gegen „Leute mit vielen Kindern“ als Nachbarn zu haben. Auch weisen religiöse Menschen eine unterdurchschnittliche Scheidungsrate auf und ein überdurchschnittlich harmonisches Familienleben, jedenfalls wenn man die Selbstauskünfte zum Maßstab nimmt: „Gemeinsame Mahlzeiten sind uns wichtig“; „Wir sprechen viel miteinander“; „Wenn es Streit gegeben hat, gelingt es uns meist recht schnell wieder, uns zu versöhnen“; „In unserer Familie gibt es Wärme und Geborgenheit“. Soweit, so erfreulich.

TAKTLOSIGKEIT KATHOLISCHER FAMILISTEN