Katharina Ganz

„… da ich aber als Frauenzimmer in der katholischen Kirche keine Stimme habe und folglich so viel als todt bin …“

Herausgegeben von

Erich Garhammer und Hans Hobelsberger

in Verbindung mit

Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock

Katharina Ganz

„…da ich aber als Frauenzimmer in der katholischen Kirche keine Stimme habe und folglich so viel als todt bin …“

Kreativität aus Vulnerabilität am
Beispiel der Ordensgründerin
Antonia Werr (1813 – 1868)

echter

Vorwort

Lage und Zukunft katholischer Ordensgemeinschaften im deutschsprachigen Raum rücken in den letzten Jahren verstärkt ins Zentrum ordensinterner Reflexionen, aber auch pastoraltheologischer Forschung.1 Das ist nicht verwunderlich, verdichten sich die Transformationsphänomene und Übergangsprobleme der katholischen Kirche doch exemplarisch in den Orden.

Bindungsschwund und Mitgliederrückgang bis zur Existenzgefährdung sind unübersehbar: In Österreich etwa nahm die Zahl der Ordensfrauen von 13797 (1970) auf 3643 (2015) rasant ab, 2015 waren nur noch 4% der Ordensfrauen unter 40 Jahre alt. Andererseits sind aber auch religiöser Anspruch, existentielle Selbstverpflichtung und, seit neuestem, Innovationsbereitschaft in Ordensgemeinschaften oft stärker ausgeprägt als in der Breite der Kirche.

Es scheint da nahe zu liegen, die prägenden Gründerfiguren von Ordensgemeinschaften in den Blick zu nehmen, um nach dem Ursprungscharisma der eigenen Gemeinschaft und seiner eventuellen Relevanz für heute zu fragen. Doch liegt darin auch die Versuchung, die großen Gründungserzählungen unhistorisch zu reinszenieren.

Die vorliegende Studie von Sr. Katharina Ganz widersteht dieser Versuchung souverän, insofern sie konsequent von einer Forschungsfrage bestimmt wird, die den Bereich des eigenen Ordens, ja der Orden überhaupt übersteigt und eine zentrale Gegenwarts- und Zukunftsproblematik der katholischen Kirche betrifft. Es geht um die Vulnerabilität und Kreativität einer Frau innerhalb der patriarchalen Strukturen der katholischen Kirche, um daraus Perspektiven zu entwickeln für die Existenz von Frauen in der katholischen Kirche heute, einer, woran Sr. Katharina Ganz nie einen Zweifel lässt, nach wie vor patriarchal geprägten Kirche.

Diese Studie sucht am historischen Ort der Oberzeller Ordensgründerin Antonia Werr nach spirituellen Ressourcen und Impulsen für heutige Pastoral, in einer Zeit, da der Widerspruch hierarchischer Geschlechterstereotypen zu zentralen Inhalten der christlichen Botschaft wie zur zunehmend geschlechtergerechten Gegenwartsgesellschaft nicht mehr länger zu übersehen ist und von vielen Männern und Frauen in der Kirche existentiell empfunden wird. Der Autorin gelingt es dabei, die – relativen – Freiheitsspielräume zu würdigen, die Antonia Werr sich erarbeitete, und nach den Bedingungen zu fragen, die damals neue Modelle weiblicher Lebensgestaltung innerhalb der katholischen Kirche ermöglichten und möglicherweise auch heute ermöglichen.

Wie nicht resignieren als Frau in einer patriarchalen Kirche? Die von Antonia Werr inspirierte Antwort lautet: Wer an der Wunde des Patriarchats nicht verbluten will, braucht Kreativität, um mit den Paradoxien umzugehen, in denen er leben muss, und um die Möglichkeiten zu entdecken und Handlungspotentiale auszuschöpfen, die dennoch bestehen. Es geht darum, in Ohnmachtspositionen Autorität zu gewinnen. Dies, so eine bedeutungsvolle Einsicht der Verfasserin, gelingt gerade dann, wenn man nicht für sich, sondern für andere Ohnmächtige kämpft. Werrs politische Stärke und Durchsetzungsfähigkeit lagen, so Ganz, in der Intersektionalität ihres Vorgehens: Antonia Werr setzte sich durch, indem sie nicht für sich selber stritt, sondern die Verwundungserfahrungen anderer Frauen zum Thema und Gegenstand konkreter Initiativen machte.

Kreativität aus Vulnerabilität bedeutete für Werr daher, trotz oder gerade wegen der eigenen Verwundungen verletzbar zu bleiben und sich von den Armen verletzen zu lassen. Dies ermöglichte ihr politisch und strategisch stark zu agieren, die Verehrung des Jesuskindes, namensgebend für ihre Gründung, nicht als „Verschleierungskategorie“, sondern als „Eröffnungskategorie“ (Ganz) einzusetzen und allen Frauen ihre basale Gebürtlichkeit als Möglichkeit des Neuanfangs vor Augen zu stellen. Voraussetzung dafür war die vorbehaltlose Anerkennung der verletzenden Wirklichkeit des Patriarchats, die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuldgeschichte – Ganz verweist auf die Aufarbeitung der „schwarzen Pädagogik“, die es auch in der Werrschen Gemeinschaft weit bis ins 20. Jahrhundert gab – und die Bereitschaft, in konfliktreichen Prozessen unerschrocken Verantwortung zu übernehmen.

Die vorliegende Studie ist das gelungene Beispiel pastoraltheologischer Forschung am historischen Objekt und damit einer noch immer weitgehend ausstehenden historischen Pastoraltheologie mit Gegenwartsanspruch. Die methodisch komplexe doppelte Kontextualisierung der Schriften und des Lebens von Antonia Werr in deren Lebenszeit, dem frühen 19. Jahrhundert, wie in der Gegenwart des beginnenden 21. Jahrhunderts gelingt in dieser Studie beispielhaft. Ebenso gelingt es der Autorin, wiewohl selbst Angehörige der Oberzeller Kongregation und gegenwärtig sogar deren Generaloberin, die wissenschaftlich gebotene kritische Distanz zur Gründerin ihrer Gemeinschaft zu wahren und etwa deren zeittypischen Kulturpessimismus wie auch die problematischen Seiten ihres bisweilen recht autoritären pädagogischen Konzepts aus heutiger Perspektive ebenso klar zu benennen wie historisch einzuordnen.

Die Arbeit versteht es, eine der beeindruckenden Kongregationsgründerinnen des 19. Jahrhunderts jenseits der Versuchung zu katholisch-institutionalistischer Apologetik beziehungsweise ahistorischer feministischer Kritik differenziert auf eine heute relevante Fragestellung hin zu analysieren und daraus weiterführende Erkenntnisse zu entwickeln. Auch gelingt es Sr. Katharina Ganz eindrucksvoll, die Werrsche Kindheit-Jesu-Spiritualität in ihren kenotisch-in-karnatorischen Wurzeln freizulegen.

Die Frage nach der Möglichkeit selbstbewusster weiblicher Existenz in einer patriarchalen Kirche hat sich seit Werrs Zeiten nicht erledigt, sie ist vielmehr schärfer und drängender geworden. Die Ergebnisse dieser umfassenden Studie haben für Pastoral und Pastoraltheologie weiterführenden Charakter: Kreativität aus Verwundbarkeit entsteht, wo die eigene Situation nüchtern erkannt, der Kampf für Veränderung ebenso klug wie entschieden, in konkreten Bündnissen, vor allem aber für andere geführt wird, die unter gleicher oder ähnlicher Verwundung leiden.

Der kenotische Charakter einer Spiritualität der Gotteskindschaft ist dabei ebenso grundlegend für eine zukünftige Pastoral wie die Notwendigkeit, auf ihrer Basis wirksam Autorität aufzubauen in einer Kirche und Gesellschaft. Die auf dem völlig neu strukturierten Feld der Geschlechterverhältnisse dringend notwendige erneuerte symbolische Ordnung der katholischen Kirche, so zeigt sich, findet ihre Anregungen mitunter an ganz unerwarteten Orten – so bei der fränkischen Ordensgründerin Antonia Werr.

Rainer Bucher

Graz, September 20168

Vgl. exemplarisch die Habilitationsschrift von Ute Leimgruber, Avantgarde in der Krise.

Inhalt

Vorwort

Zugänge und Hinführung

1.1 Einleitung

1.1.1 Interessen und Methode

1.1.2 Forschungsstand

1.1.3 Quellen

1.1.3.1 Korrespondenz mit Maximilian von Pelkhoven

1.1.3.2 Vernichtete Selbstzeugnisse: Die gelben Blätter

1.1.3.3 Geistliche Schriften und Regeln

1.1.4 Zentrale Begriffe

1.1.5 Aufbau

1.2 Historische Kontexte: Aufbrüche, Umbrüche, Ausbrüche im 19. Jahrhundert

1.2.1 Erneuerung der Kirche durch traditionsbewusste Frauen

1.2.2 Voller Ambivalenzen: Der so genannte Frauenkongregationsfrühling

1.2.3 Französische Initiativen als Quelle der Inspiration

1.2.3.1 Pädagogik der Liebe: Die Schwestern vom Guten Hirten

1.2.3.2 Marie-Thérèse Carolina de Lamourous (1754–1836)

1.2.4 Fazit: (Ordens-)Frauen als Vorreiterinnen der Emanzipation

Antonia Werr (1813–1868): Biografie und Leben

2.1 Angesichts des Todes zum Leben gekommen

2.1.1 Vaterlos aufgewachsen mit enger Bindung an die Mutter

2.1.2 Tabuisierung eines familiären Makels?

2.1.3 Nach der Schule zur „Lehre“ im Ausland

2.1.4 Riskanter Einsatz der gesamten Existenz

2.1.5 Körperlich fragil – geistig vital

2.1.6 Fürsorglich strenge „Mutter“ und Frau von „männlicher Energie“

2.1.7 Fazit: Austarieren von Ambivalenzen in der eigenen Geschlechterrolle

2.2 Unterstützer und Förderer von Kreativität

2.2.1 Vorliberaler Denker: Johann Baptist Rorich

2.2.2 Einfühlsamer Wegbegleiter: Freiherr Maximilian von Pelkhoven

2.2.2.1 Biografie

2.2.2.2 Staatsmann und Vertrauter

2.2.2.3 Helfer und Fundraiser

2.2.2.4 Rezeptionsgeschichte: Vater, Mitbegründer, Wohltäter, Freund

2.2.2.5 Fazit: Verbündeter jenseits der Geschlechter- und Standeshierarchien

2.2.3 Loyaler Mitstreiter: Der Franziskaner-Minorit Pater Franz Ehrenburg

2.2.3.1 Biografie

2.2.3.2 Zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet

2.2.3.3 Mentorin für den unerfahrenen Seelsorger

2.2.3.4 Zankapfel Oberzell: Polarisierungen im Franziskaner-Konvent

2.2.3.5 Fazit: Geistliches „Cover“ und Garant für Kontinuität

2.3 Heilsam-schmerzhafte Bindung an Gott und Kirche

2.3.1 „Mutter Kirche“ als Heimat und Halt

2.3.2 Kirchenpolitisches Ränkespiel: Buhlen um die Gunst der „Väter“

2.3.2.1 Konkurrenz mit dem Elisabethenverein

2.3.2.2 Vorurteile gegenüber den Töchtern des Allerheiligsten Erlösers

2.3.3 Einblicke in die „geheimen Wunden“ anderer Institute

2.3.5 Loyalität zur Kirche als Zerreißprobe

2.3.5.1 Zwang zur Unterwerfung und Kirchentreue

2.3.5.2 Eine Frau ohne Stimme und Rechte verschafft sich Gehör

2.3.5.3 Prozesshafte Suche „nach einem wahren Glauben“

2.3.6 Fazit: Vom Anstaltsgehorsam zum Glaubensgehorsam

2.4 „Muth ein so großes Unternehmen zu wagen“: Die Gründung

2.4.1 Strafe oder Barmherzigkeit für so genannte gefallene Frauen?

2.4.2 Analyse der Zeitbedürfnisse

2.4.3 Klein wie Bethlehem: Der Anfang in Oberzell

2.4.4 Arm, aber kräftig, tüchtig und fromm: Die ersten Gefährtinnen

2.4.5 An der Seite der Stigmatisierten: Die Klientinnen

2.4.6 Zwischen Freiwilligkeit und Zwang: Die Regeln

2.4.7 Seelen retten: Der Gründungszweck und die Methoden

2.4.7.1 „Aus diesen Trümmern wieder […] ein Ganzes […] machen“

2.4.7.2 „Wunden, die wir […] schneiden, brennen und sondiren müssen“

2.4.7.3 „Vor dieser Mutterschaft würden sich Tausende bedanken“

2.4.8 Wahrheit und Wahrhaftigkeit: Leitbild und Grundprinzip

2.4.9 Fazit: Trümmerfrau und Hebamme der Menschwerdung

2.5 Ringen um Autonomie und Absicherung

2.5.1 Finanziell-materielle Unabhängigkeit

2.5.2 Diplomatie im Umgang mit der Obrigkeit

2.5.3 Kampf um pastorale Kompetenz in der Beichtvorbereitung

2.5.4 Unabhängig und an die Kirche angelehnt

2.5.4.1 Anschluss an den St. Johannisverein

2.5.4.2 Anschluss an den Regulierten Dritten Orden des hl. Franziskus

2.5.5 Der schwere Weg zur endgültigen Anerkennung

2.6 Fazit: Im Spannungsfeld von Macht, Ohnmacht und Autorität

Biblische, philosophische, psychologische und pastoraltheologische Analysen einer Spiritualität der Vulnerabilität

3.1 Das Konzept der Gotteskindschaft

3.1.1 Die hl. Familie als Vorbild für sozial-pastorales Engagement

3.1.2 Das Kenosismotiv: Gott steigt herab ins menschliche Fleisch

3.1.3 Der Bethlehemitische Weg: Die hl. Familie migriert

3.1.4 Das Jesuskind vor Augen: Weihnachtskrippe und Krippenkind

3.1.5 Demut, Armut, Liebe: Kenotische Haltungen des Statusverzichts

3.2 Inkarnation: Gott zeigt sich klein, verwundbar und nackt

3.2.1 Die Hautwerdung des Logos

3.2.2 Blutend und doch unverletzt? Anmerkungen zur Jungfrauengeburt

3.2.3 Weihnachten als Wagnis der Verwundbarkeit

3.2.4 Atypisches Role model: Das Jesuskind in Mt und Lk

3.2.4.1 Ein subversiver Gegenentwurf zur Augustuspropaganda: Lk 1–2

3.2.4.2 Magier, Stern und Träume als Wegweiser zum Kind: Mt 1–2

3.2.5 Fazit: Aus freiwilliger Erniedrigung zu den Erniedrigten

3.3 Zwischen Gefängnis und Rettungsanstalt

3.3.1 Michel Foucault: Heterotopien

3.3.2 Topografischer Wechsel: Von der Mitte an den Rand

3.3.3 Asyl als sicherer Ort

3.3.4 Claustrum: Abgeschlossen und doch bei den Menschen

3.3.5 Hospitium: Herberge der Menschwerdung

3.3.6 Krippe: Ort des (Neu-)Anfangs

3.3.7 Fazit: Vom kirchlichen Eigen-Ort zum Anders-Ort der Frauen

3.4 Gebürtlichkeit bei Hannah Arendt: Anfangen und verzeihen

3.4.1 Aus der Natalität Neues in Bewegung setzen

3.4.2 Vom Ursprung her zum Handeln ermächtigen

3.5 Vulnerabilität und Widerstandsfähigkeit

3.5.1 Traumata: Fragmentierungen der Seele

3.5.2 Förderung von Resilienz durch aktive Coping-Strategien

3.5.3 Arbeit mit dem so genannten Inneren Kind

3.5.4 Ego-States-Therapie: Vergegenwärtigung Innerer-Kind-Zustände

3.5.6 Hilfe durch Innere Teams und andere Wesen

3.5.7 Fazit: Lichtgestalten zum Schutz des Verwundeten

3.6 Pastoralgemeinschaft verwundeter und verwundbarer Menschen

3.6.1 Kenopraxis: Von sich selbst absehen können

3.6.2 Macht-in-Verwundbarkeit: Freiwillig von Gott abhängig sein

3.6.3 Fazit: Patriarchat – Verwundbarkeit – Parteilichkeit

Kapitel: Impulse für eine geschlechtergerechte Pastoral in einer patriarchalen Kirche

4.1 Wunden benennen und offen halten

4.2 Mut zur Gebrochenheit und zum Fragment

4.5 Macht und Autorität – Herrschaft oder Dienst?

4.6 Andere Orte gestalten oder aufsuchen

4.7 Als Mensch Kind sein und Kind Gottes werden

Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

Webseiten

Verwendete Abkürzungen und Zeitschriften