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Katharina Karl
Religiöse Erfahrung und Entscheidungsfindung

Studien
zur Theologie und Praxis der Seelsorge
93

Herausgegeben von
Erich Garhammer und Hans Hobelsberger
in Verbindung mit
Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock

Katharina Karl

Religiöse Erfahrung und
Entscheidungsfindung

Eine empirisch-pastoraltheologische Studie
zur Biografie junger Menschen
in Orden und geistlichen Gemeinschaften
im deutschsprachigen Raum

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Gedruckt mit Unterstützung
der Laubach-Stiftung, Mainz,
der Erzdiözese München-Freising
und der Diözese Münster

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2015 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
ISBN 978-3-429-03808-3 (Print)

978-3-429-04798-6 (PDF)

978-3-429-06214-9 (ePub)

Vorwort

Eine Situationsanalyse der pastoralen Landschaft in Deutschland, besonders der Orden, ergibt das Bild eines Umbruchs, der häufig mit den Schlagworten Mangel, Krise und Veränderungen beschrieben wird. Dahinter zeigt sich ein Veränderungsprozess sowohl auf struktureller Ebene als auch auf der Ebene des persönlichen Lebens- und Glaubensvollzugs.

Während es zur Strukturfrage eine Vielzahl an Veröffentlichungen gibt, stellt eine Reflexion der Gestaltung christlicher Lebensformen ein Desiderat in der aktuellen pastoraltheologischen Forschung dar. Um diese Forschungslücke zumindest teilweise zu schließen, befasst sich die hier vorliegende Studie, die das Ergebnis eines Habilitationsprojekts an der LMU München ist, mit einer empirischen Erhebung über die Biografieverläufe junger Ordenschristen im deutschsprachigen Raum und nimmt so eine spezifische Gruppe von Menschen in den Blick, die sich unter den gegenwärtigen Bedingungen für die Bindung an eine Ordensgemeinschaft entscheiden. Im Zentrum des Interesses steht die Beobachtung von religiösen und lebensgeschichtlichen Suchbewegungen. Es werden die religiöse Erfahrungen und Prozesse der Berufungsfindung junger Menschen bis zum Moment einer ersten Bindung an die Gemeinschaft durch Gelübde oder Versprechen untersucht. Der Quellentext ist die Erzählung der Berufungsgeschichte: die soziobiografischen und sozioreligiösen Hintergründe des Individuums, die Lebenshintergründe, Motivationen und geistlichen Erfahrungen, die zur Identitätsarbeit auf dem jeweils als stimmig empfundenen Weg führen.

Religiöse Erfahrung steht für die wissenschaftliche Auswertung als artikulierte, narrativ rekonstruierte Erfahrung zur Verfügung. Demnach ist in einem ersten Schritt zu fragen: Wie wird die persönliche Berufungsgeschichte narrativ konstruiert? Dabei ergeben sich vom Datenmaterial geleitet weitere Teilfragestellungen: nach den Mustern der Entscheidungsprozesse sowie nach den Strukturen religiöser Erfahrungen.

In einem zweiten Schritt ist dann zu reflektieren, wie eine phänomenologische Bestandaufnahme solcher Erfahrungen Rückschlüsse für die pastorale Praxis zulassen kann. Das primäre Ziel der Studie ist also kein konzeptionelles, sondern darin, eine eingehende Analyse vorzunehmen. Das sekundäre Ziel ist, einen Beitrag für die pastorale Praxis der biografiesensiblen Begleitung von Menschen zu leisten.

Die Arbeit basiert auf einer qualitativen Interviewstudie mit 50 jungen Menschen, die den Weg in eine Ordensgemeinschaft eingeschlagen haben, und gliedert sich in drei Hauptteile:

In Teil I werden die Bedingungen der Studie dargelegt – die statistischen Eckdaten des Ordensnachwuchses, der kirchenrechtliche Rahmen und eine phänomenologische Annäherung an den Begriff „Berufung“ sowie ein Überblick zum Forschungsstand.

Teil II umfasst die Auswertung der empirischen Daten. Zunächst werden die Hintergründe der Sozialisation der Teilnehmer der Studie vorgestellt: soziales Herkunftsmilieu und Bildungshintergrund, religiöse Erziehung und Formen kirchlicher Anbindung. Die beiden analytisch zentralen Kapitel der Arbeit befassen sich mit den Mustern biografischer Prozesse der Entscheidungsfindung sowie den Strukturen religiöser Erfahrung, die diesen Prozess prägen. Hierzu zählt die Analyse von Motivation, Vermittlungen, Zeiträumen, Widerständen, Kairos und Entscheidung. Die religiöse Erfahrung wird hinsichtlich ihrer Topologie, der Formen religiösen Sprechens, biografischer Wendepunkte und Intensivphasen untersucht. Die Berufungserfahrungen und Gottesbilder werden dabei gesondert betrachtet.

In Teil III werden schließlich Ergebnisse festgehalten, die weiterführende Fragestellungen eröffnen können. Systematisch-zusammenfassend wird eine Typologie der Prozess- und Glaubensstile vorgenommen, darüber hinaus wird ein fluider Berufungsbegriff entwickelt. Ausblickend werden Gestaltungsimpulse für die Ordenspastoral formuliert.

Zum Abschluss dieser Einführung folgen einige formale Hinweise: Auf explizite Fazits zu Ende der Hauptteile wurde verzichtet, da in Teil III die entscheidenden Erkenntnisse zusammengefasst sind. Bibelzitate sind der Einheitsübersetzung entnommen. Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils sind wie folgt abgekürzt: LG – Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“; GS – Pastoralkonstitution Die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes), und sind zitiert nach Rahner, Karl/Vorgrimler, Herbert, Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils (Grundlagen Theologie), Freiburg 352008.

Zu den Transkriptionen ist anzumerken, dass aufgrund des Datenschutzes eine Anonymisierung der Namen, Gemeinschaften, Orte und Berufsbezeichnungen, insofern sie Rückschlüsse auf die Person und ihre Gemeinschaft zulassen, vorgenommen wurde. Die Legende zur Erläuterungen der Transkription der Interviews findet sich in Abschnitt 2.3.3.4.

Mein besonderer Dank gilt den Gutachtern der Habilitation, Prof. Dr. Andreas Wollbold, Prof. Dr. Stephan Haering und Prof. Dr. Corinna Dahlgrün, die mich konstruktiv und wertschätzend begleitet haben, meiner Familie und allen Freunden, die mir auf allen Ebenen unterstützend zur Seite standen.

Inhaltsverzeichnis

Teil I
Einführung

1Forschungsinteresse

1.1Hintergründe

1.1.1Statistische Eckdaten

1.1.2Kirchenrechtlicher Rahmen

1.1.3Phänomenologie des Berufungsbegriffs

1.2Forschungsüberblick zum Thema Berufung und Ordensleben

2Zur Methode

2.1Biografie in der empirischen Sozialforschung und Theologie

2.1.1Empirische Pastoraltheologie

2.1.2Biografieforschung

2.1.3Narrative Identität

2.1.4Rezeption von Glaubensbiografien in Theologie und Soziologie

2.2Forschungsdesign

2.2.1Entwicklung der Methodik

2.2.1.1Vorentscheidungen

2.2.1.2Die Grounded Theory

2.2.1.3Die Qualitative Inhaltsanalyse

2.2.1.4Das persönliche Gespräch

2.2.1.5Schlüsselparameter des methodischen Vorgehens

2.2.2Chancen und Grenzen der Methode

2.2.2.1Zur Kontingenzproblematik in der Sozialwissenschaft

2.2.2.2Forschen ohne Team

2.2.2.3Das Problem der Objektivität erzählter Erfahrung und erzählter religiöser Erfahrung

2.2.2.4Narrative Kluft oder Aktualisierung des Erlebten

2.3Erhebung und Auswertung der Daten

2.3.1Die Probanden

2.3.1.1Vorüberlegungen

2.3.1.2Sampling

2.3.1.3Zusammensetzung der Stichprobe

2.3.2Der Fragebogen

2.3.2.1Fragen und Funktion des Leitfadens

2.3.2.2Durchführung der Umfrage

2.3.2.3Auswertung

2.3.3Der Interviewleitfaden

2.3.3.1Fragen und Funktion des Leitfadens

2.3.3.2Durchführung der Interviews

2.3.3.3Auswertung

2.3.3.4Zur Transkription

Teil II
Erfahrungen und Entscheidungen – Eine Analyse von
Erzählstrukturen

3Sozialisationsfaktoren

3.1Herkunftsfamilien und -milieus

3.1.1Familienstruktur

3.1.2Soziale Herkunft

3.1.3Bildung

3.2Religiöse Prägungen

3.2.1Konfessionelles Milieu

3.2.2Agenten der religiösen Erziehung

3.3Religiöses Selbstverständnis

3.3.1Einstufung der religiösen Sozialisation

3.3.2Kirchliche Bindung

3.3.2.1Entwicklungsphasen

3.3.2.2Typen kirchlicher Prägung

4Muster der Entscheidungsprozesse

4.1Motivationen

4.1.1Motivationspsychologische Vorüberlegungen

4.1.1.1Nutzenorientierung

4.1.1.2Verhaltensfaktoren

4.1.2Suchbewegungen

4.1.2.1Religiöse Motive

4.1.2.2Existentielle Motive

4.1.2.3Soziale Motive

4.1.2.4Motivationsverknüpfungen

4.1.3Ertrag

4.2Vermittlungen

4.2.1Erste Begegnungen

4.2.1.1Funktionen

4.2.1.2Gründer und Heilige

4.2.2Begegnung als Disclosure

4.2.2.1Entdeckungen

4.2.2.2Erfahrungslinie

4.2.2.3Geistliche Begleitung

4.2.3Problematisierung

4.2.4Desiderat

4.3Zwischenzeit

4.3.1Lange Wege

4.3.1.1Strategien

4.3.1.2Wegverläufe

4.3.1.3Lebensübergänge

4.3.2Widerstände

4.3.2.1Äußere Widerstände

4.3.2.2Innere Widerstände

4.3.3Entwicklungsprozesse

4.4Kairos

4.4.1Handlungscharakter

4.4.1.1Die Innenseite: innere Disposition

4.4.1.2Die Außenseite: konkrete Initiativen

4.4.2Widerfahrnischarakter

4.4.2.1Erzählstruktur

4.4.2.2Erneuter Kairos

4.4.3Verhältnisbestimmung

4.5Entscheidung

4.5.1Hilfestellungen

4.5.2Wahlbewegungen

4.5.2.1Semantik

4.5.2.2Wahlzeiten

4.5.3Entscheidungsrelevante Dimensionen

4.5.3.1Situative Voraussetzungen

4.5.3.2Grundhaltungen

5Strukturen religiöser Erfahrungen

5.1Religiöse Erfahrung – ein Arbeitsbegriff

5.2Topologie der Erfahrung

5.2.1Erfahrungsräume

5.2.1.1Außeralltägliche Räume

5.2.1.2Alltagsorte

5.2.1.3Virtuelle und andere Orte

5.2.2Der innere Raum

5.2.2.1Gottunmittelbarkeit?

5.2.2.2Gehalte

5.2.3Beobachtungen zu den Raumerfahrungen

5.3Formen religiösen Sprechens

5.3.1Motivformen

5.3.1.1Zeichen

5.3.1.2Innere Stimme und innere Bilder

5.3.1.3Dialog

5.3.1.4Biblische Typisierung

5.3.2Besondere Sprachformen

5.3.2.1Distanzierungen

5.3.2.2Sprachlosigkeit

5.3.3Erzählstrategien im narrativen Selbstbild

5.4Wendepunkte und Intensivphasen

5.4.1Nähe und Abgrenzung zum Konversionsbegriff

5.4.2Intensivierungsverläufe

5.4.2.1Intensivphasen

5.4.2.2Wendepunkte

5.4.2.3Besonderheiten

5.4.3Tiefenaspekte

5.4.4Berufungserfahrung

5.4.4.1Prozess vs. Erlebnis

5.4.4.2Erfahrungskategorien

5.4.4.3Berufungsverständnis

5.4.5Notwendige Unterscheidungen

5.5Gottesbilder

5.5.1Beziehungsaspekte

5.5.2Mehrpoligkeit

5.5.2.1Synchrone Mehrpoligkeit

5.5.2.2Diachrone Mehrpoligkeit

5.5.3Entwicklungstendenzen

5.5.4Beobachtungen zum Umgang mit Gottesbildern

Teil III
Fluider Berufungsbegriff

6Erkenntnisse

6.1Typologische Zugänge

6.1.1Prozessstile

6.1.2Glaubenstypen

6.2Fluide Berufungsidentität

6.2.1Thesen zum narrativen Selbstbild

6.2.2Erkenntnisse aus der Kontrollgruppe

6.2.2.1Spannungsfelder

6.2.2.2Vergleich der beiden Probandengruppen

7Gestaltungsimpulse

7.1Raumgestaltung

7.2Identitätsfragen

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Anhang

Teil I

EINFÜHRUNG

1Forschungsinteresse

Das Interesse der vorliegenden Studie gilt aktuellen gruppenbezogenen Formen christlicher Lebensgestaltung unter den Bedingungen der Pluralität. Individuelle Biografieverläufe und Formen der Existenzgestaltung sind hierfür zentral. Eine Form der Nachfolge ist seit Anbeginn des Christentums das Ordensleben, das sich gegenwärtig in einem Umbruch befindet. Beiträge in den Medien mit Titeln wie „Ein leises Servus“1 singen schon einen Abgesang auf diese Lebensform und ihre Institutionen. Sicher ist, dass diese in Zukunft mehr denn je eine Minderheitengruppe in der Gesellschaft wie in der Kirche darstellen werden. Doch gerade diese Tatsache wirft die Frage auf, was junge Menschen heute dazu veranlasst, diesen Weg einzuschlagen, und verleiht ihren Biografien eine Relevanz für die Forschung.

1.1Hintergründe

Um die Situation junger Ordenschristen besser nachvollziehen zu können, wird einleitend ein Panorama eröffnet, das die statistischen Eckdaten und den kirchenrechtlichen Rahmen absteckt sowie eine phänomenologische Annäherung an den Begriff „Berufung“ unternimmt.

1.1.1Statistische Eckdaten

Von 24.472.817 Katholiken in der Bundesrepublik Deutschland sind 24.490 im Jahr 2011 Mitglieder von Ordensinstituten.2 Wirft man einen Blick in die Statistik der Deutschen Ordenskonferenz (DOK) für das Jahr 2010, wird deutlich, dass die in der Studie befragten Ordensmitglieder die kleinste Gruppe innerhalb der Ordensleute darstellt. So beträgt die Gruppe der bis 35-Jahre im Jahr der Erhebung (2010) 1% (222 Personen) und die Gruppe von 36 bis 49 Jahren, der ein kleinerer Teil der Probanden zuzurechnen ist, 5% (1.118 Personen). Im Bereich der kontemplativen Orden ist der Prozentsatz ein wenig höher: 3% bis 35 Jahre und 16% von 36 bis 49.3 Ein Vergleich der Statistik der DOK zwischen 2008 und 2012, also vom Beginn bis zum Abschluss der Studie, macht einen Rückgang der Zahl der Ordensleute insgesamt ersichtlich (Ordensfrauen 2008: 22.995 – 2012: 19.278; Ordensmänner 2008: 5.061 – 2012: 4.697). Die Zahl der Novizinnen ist relativ konstant geblieben (2008: 105, davon 80 in tätigen und 25 in kontemplativen Gemeinschaften – 2012: 104, davon 72 in tätigen und 32 in kontemplativen Gemeinschaften), die Zahl der Novizen ist gesunken (2008: 101, 2012: 84).4

Die Statistik über Ein- und Austritte von Ordenschristen der letzten Jahre erlaubt es nicht, einen Einblick in die Fluktuation zu gewinnen.5 Nicht erfasst werden die Austritte nach Altersstufen oder das Ausscheiden während des Noviziats, ebenso wenig die Ablegung der Profess bzw. Gelübde. Von daher ist es schwierig, exakte Vergleichsdaten zu gewinnen, zumal die in der Studie befragten Personen zwar alle deutschsprachig sind, aber auch Gemeinschaften außerhalb Deutschlands oder neuen geistlichen Gemeinschaften angehören. Es konnten also nur annähernde Rahmendaten für die Erhebung gewonnen werden.6

Ein Beispiel aus dem Jahr 2004 sei an dieser Stelle angeführt. Bei den Männerorden werden nicht die Novizen erfasst, die ihr Noviziat außerhalb Deutschlands gemacht haben. Die Frauenorden wiederum unterscheiden in der Statistik zusätzlich tätige und kontemplative Gemeinschaften und bei den Austritten ewige und zeitliche Profess. Es werden bei den Männerorden 66 Novizen und 48 Austritte angegeben, bei den Frauenorden 130 Novizinnen (80 tätig, 50 kontemplativ) und 108 Austritte, davon 92 ewige Professen (84 tätig, 8 kontemplativ; 26 zeitliche Professen (21 tätig, 5 kontemplativ).7

Zur Problematik des Mangels an statistischem Material haben sich schon Leimgruber und Kluitmann geäußert.8 Es ist anhand der Archivarbeit also nicht möglich, das genaue Verhältnis – und damit die Repräsentativität – der Befragten zur tatsächlichen aktuellen Zahl der jungen Ordensleute und Mitglieder geistlicher Gemeinschaften im deutschsprachigen Raum zu bestimmen, die ihren Merkmalen nach für die Umfrage in Frage gekommen wären. Aus der Hochrechnung der bekannten Daten lässt sich doch sagen, dass mit den 50 Probanden ein relativ großer Kreis als Stichprobe gefunden werden konnte.

1.1.2Kirchenrechtlicher Rahmen

Der kirchenrechtliche Rahmen, der die Situation der Probanden betrifft, besteht aus der Aufnahme in ein Institut gottgeweihten Lebens, die Zulassung zur Profess (in der Regel die zeitliche) und für die Kontrollgruppe zudem die Regelungen für das Verlassen des Noviziats bzw. des Instituts. Diese drei stellen sozusagen die Eckpunkte für die Gruppe der Probanden dar.9

a)Eintritt

Als Probezeit und als Zeit der Vorbereitung (c. 597 §2) auf das geweihte Leben dient das im Eigenrecht geregelte Postulat, das von den einzelnen Gemeinschaften individuell gestaltet wird.10 Auch das darauf folgende Noviziat stellt noch einmal eine Zeit der Prüfung dar, ob der Novize dem Leben nach den evangelischen Räten, aber auch der Eigenheit des jeweiligen Instituts entspricht.11 Das abgeschlossene Noviziat ist rechtlich die Voraussetzung zur gültigen Ablegung der Profess.12

Die Faktoren für die Aufnahme in das entsprechende Institut (c. 642) sind13:

Gesundheit

geeigneter Charakter

Reife

Das Noviziat ist auf mindestens ein, oft zwei Jahre angelegt. Als Zielsetzung formuliert das Kirchenrecht die Klärung der eigenen Berufung, die Anleitung zu einem Leben der Vollkommenheit gemäß den evangelischen Räten, die Einübung in das Gebet und den Umgang mit der Heiligen Schrift sowie die vertiefte Kenntnis über Geschichte, Eigenart und Sendung des Instituts.14 Während dieser Zeit besteht noch keine gegenseitige Bindung.15

b)Profess

Die zeitliche Profess, die für mindestens drei und höchstens für einen Zeitraum von sechs Jahren abgelegt wird, bildet die erste Stufe der Eingliederung in ein Ordensinstitut.16 Bei der Profess handelt es sich um öffentliche (kirchenamtliche) Gelübde, zu deren Gültigkeit folgende Voraussetzungen gegeben sein müssen:

Vollendung des 18. Lebensjahres,

gültig absolviertes Noviziat,

frei erteilte Zustimmung des Oberen (mit Stellungnahme seines Rates),

Freiheit von Zwang und schwerer Furcht,

Entgegennahme durch den rechtmäßigen Oberen oder einen von ihm Beauftragten.17

Mit der Profess verbundene Verpflichtungen stellen die Übernahme der Rechtsordnung der entsprechenden Gemeinschaft sowie der evangelischen Räte dar. Die Profess ist zudem Ausdruck der Weihe des Mitglieds an Gott und die Kirche und der radikalen Verfügbarkeit zum Dienst an Gott und den Menschen (vgl. LG 33).18

c)Austritt

Verlässt ein Kandidat die Gemeinschaft während des Noviziats, wird nicht von Austritt gesprochen (für eine eventuelle Wiederaufnahme gelten allerdings dieselben Kriterien wie bei einem Austritt).19 Während des Verlaufs der zeitlichen Gelübde ist ein Austritt aus schwerwiegendem Grund möglich (c. 688 §2). Eine Nichtverlängerung der Gelübde nach deren Ablauf verlangt dagegen keine offizielle Erklärung. Falls wiederum der Orden die Verlängerung der Profess ablehnt, muss er dies sehr wohl begründen (c. 689 §1).20

1.1.3Phänomenologie des Berufungsbegriffs

Der Begriff der Berufung hat verschiedene Deutungstraditionen,21 wobei es in dieser Arbeit weder darum geht, eine Theorie von Berufung zugrunde zu legen, noch eine solche zu erarbeiten. Der Fokus ist ein biografischer und verfolgt kein theoriegeleitetes Interesse. Vielmehr steht zunächst die Analyse des Selbstverständnisses der Probanden im Vordergrund. Im Sprachgebrauch der Interviews wird ein weites Verständnis des Berufungsbegriffs deutlich, nämlich sowohl für den Ordensweg als auch für die Entwicklung und Ausformung der christlichen Berufung, etwa auch nach einem Austritt.

Ein kurzer phänomenologischer Einblick in alltagssprachliche, biblische und systematische Begriffsbestimmungen soll an dieser Stelle genügen.

Alltagssprachlich lassen sich folgende Nuancen in der Verwendung des Begriffs beobachten:22

als kirchlicher Beruf sowie als seelsorglich-karitatives Wirken

als Lebensaufgabe (nicht religiös) oder als der von Gott verstandene persönliche Lebens- oder Sendungsauftrag (explizit religiös)

in der Rede vom „geistlichen Beruf“ als Priester- und Ordensberufung

Eine Schwierigkeit im letztgenannten spezifischen Gebrauch des Begriffs als „geistliche Berufung“ zum Priester- oder Ordensleben liegt darin, dass – gewollt oder nicht – ein Gefälle anklingt, das suggeriert, dass die Getauften in Berufene und Nichtberufene, Geistliche und Nicht-Geistliche aufzuteilen wären. Dies birgt die Gefahr eines Missverständnisses in sich, nämlich eines impliziten Prädestinationsdenkens, das theologisch problematisch ist.23

Im biblisch-neutestamentlichen Sinn sind Kennzeichen von Berufung und Jüngerschaft das persönliche Angesprochensein von Gott, das Leben in einer Nachfolgegemeinschaft, der prophetische Lebensstil und die Aussendung zur Verkündigung des Evangeliums.24 Dies richtet sich einerseits auf einen konkreten Auftrag, der sich aus den Umständen ergibt und auf die Verwirklichung des Gottesreichs abzielt, und beruht andererseits auf der göttlichen Initiative von Berufung. Die Dimension einer persönlichen Gottbeziehung ist dabei wesentlich. Der Kern des Reiches Gottes liegt in der Aktualisierung dieses Rufes und der Ausgestaltung der Beziehung zu ihm. Deselaers bezeichnet Berufung in diesem Kontext als „andauerndes Geschehen“25, was besagt, dass diese entwurfsoffen bleibt und zugleich ein Kontinuum enthält. Der Mensch ist immer neu herausgefordert, zu antworten.

Das Zweite Vatikanische Konzil unterscheidet zwischen allgemeiner und persönlicher Berufung.26

Die allen gemeinsame christliche Berufung ist in der Taufe begründet (vgl. LG 10, LG 31, LG 42) und findet ihre je besondere Ausformung, die sich in der Entscheidung zu einer Lebensform und einem Beruf (vgl. LG 41) konkretisiert.27

Berufung als das Werden-auf-Gott-Hin enthält den Aspekt der Subjektwerdung als Person, und ist damit individuell einzigartig. Darüber hinaus konkretisiert sich die persönliche Berufung häufig in Formen von Gemeinschaftsbildung. Für den vorliegenden Kontext ist dies insofern relevant, als die jungen Ordenschristen die Option zu einer Bindung treffen und so Gemeinschaftsbildung mit gestalten.28

Wenn im Folgenden häufig vereinfachend von Ordensgemeinschaften gesprochen wird, sind darunter Institute geweihten Lebens, Gesellschaften apostolischen Lebens sowie Säkularinstitute und vereinzelt neue Formen geistlicher Gemeinschaften erfasst.

Nicht zuletzt jedoch ist ein Proprium von Berufung die Dimension des „Voraus Gottes“, d. h. dass sie sich letztendlich menschlicher Machbarkeit entzieht. Dies verweist immer auf das Kontinuum des Rufes, sensibilisiert darüber hinaus aber auch für die dialektische Dimension der Berufung, die Möglichkeit des immer Neuen und Anderen. So bedarf auch die methodische Betrachtung religiöser und kirchlicher Biografien des Bewusstseins für die Unverfügbarkeit, das Geheimnis der göttlichen Wege im menschlichen Leben, und für die Kontingenz menschlicher Verstehensprozesse, sowohl bezüglich der Probanden, die deutend von ihren Lebenswegen berichten, als auch bezüglich der Auswertung ihrer Geschichten.

1.2Forschungsüberblick zum Thema Berufung und Ordensleben

In der Literatur erfolgt die Behandlung des Themas „Berufung“ bislang vorwiegend unter theologisch-systematischer oder psychologisch-praktischer Perspektive. Zur ersten gehört etwa der Beitrag von Gisbert Greshake „Wie ist Gottes Ruf erkennbar“ über das Wesen christlicher Berufung.29 Zur zweiten zählt Hermann Stengers Veröffentlichung „Eignung für die Berufe der Kirche“30.

Eine Monografie zu einer Theologie des Ordenslebens nach dem II. Vatikanum verfasste Anneliese Herzig.31 Herzig untersucht die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils darauf hin, welche Veränderungen in der Theologie des Ordenslebens darin grundgelegt wurden. Zugleich macht sie deutlich, dass es sich trotz der Indikation eines Neuaufbruchs um „Dokumente des Übergangs“ handelt, die einen Zwischenstand markieren.32 Die theologische Entwicklung, die dadurch erst in Gang gesetzt wurde, bildet den Kern der Dissertation. Die Leistung dieser Arbeit ist eine weitgehend umfassende Behandlung von entscheidenden, für die Ordenstheologie relevanten Bezugsfeldern (Spezifikum der Ordensberufung, Verhältnis zu Kirche und Welt) und ihrer begrifflichen Bestimmung in den Ansätzen prominenter Theologen. Herzig entwirft so ein Panorama der aktuellen Strömungen. Die Reichweite der Positionen, deren Entfaltung an dieser Stelle zu weit gehen würde, umspannt das Verständnis von Orden in den Polen von Zeichenhaftigkeit und Dienst, Gemeinschaft und Prophetie.33 Schon der Titel „Ordenschristen“ zeigt eine Positionierung des Ordenslebens als Ausformung des Christseins aus der Taufe und als „Nachfolge des ‚universale concretum‘ Jesus Christus“34.

Seitdem wurde das Thema Berufung über den Bereich der Ordenstheologie hinaus in der Forschung aus verschiedenen Perspektiven behandelt. Der Berufungspastoral im Besonderen hat sich schon in den 90er Jahren Jörg Swiatek zugewandt.35 Seine Arbeit untersucht den Berufsfindungsprozess im Kontext der Pastoral der Diözesanstellen „Berufe der Kirche“ unter konzeptuellem Blickpunkt. Dieser Ansatz bietet einen wichtigen Beitrag zur Analyse und Reflexion bestehender Programme. Das Anliegen Swiateks ist kein induktives, noch unternimmt er ein biografieorientiertes Herangehen an tatsächliche Entscheidungswege, wie es das Ziel der vorliegenden empirischen Studie ist.

Vor allem das Berufungsverständnis zweier Theologen des 20. Jahrhunderts – Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar – liegt den weiteren systematischen Forschungsbeiträgen zugrunde. Rahner versteht Berufung als „Existential“36 menschlicher Existenz, Balthasar betont eher den Aspekt der Unterscheidung von allgemeiner und besonderer Berufung.37 Zu dem hier aufscheinenden Spannungsverhältnis beziehen die folgenden Untersuchungen Position.

Die systematisch-theoretische Monografie von Stefan Heße untersucht in erster Linie exegetische und lehramtliche Texte und erarbeitet auf der Basis der Konzeption Balthasars eine Theologie der Berufung.38

Ulrich Feeser-Lichterfeld dagegen unternimmt auf der Grundlage der Theologie Rahners eine empirische Analyse des Prozesses der Berufswahl von Theologiestudierenden und postuliert die Entfaltung der Berufung aller Getauften als Grunddimension der Pastoral.39 Im Vergleich zum Ziel der vorliegenden Studie, die anhand der Erhebung des biografischen Prozesses und der Erfahrungsmuster die für die Wahl zum Ordensleben entscheidenden Kriterien erheben will, ist mit dem Thema der Berufswahl ein anderer Fokus gewählt.

Michael Höffner untersucht phänomenologisch den Freiheitsbegriff in seiner Relevanz für das Verständnis von Berufung zum Priestertum. Die theologische Problematik besteht zunächst darin, den Freiheitsbegriff in seinem Verhältnis zur Berufungsnotwendigkeit zu rechtfertigen.40 Auf die Einzelheiten dieses theologischen Ansatzes einzugehen, würde hier zu weit führen. Interessant sind aber die Elemente, die Höffner als wesentlich für die „Hebung“ eines Rufes benennt: Fundstellen, Vorbilder und Gebet.41 Sie werden uns in eigener Form als Kategorien der Interviews noch beschäftigen.

Ein kleiner, aber für die Praxis nicht unbedeutender Zeitschriftenbeitrag, der die Frage nach dem Verhältnis von persönlicher Neigung und kirchlicher Bestätigung der Berufung behandelt, stammt von Eva Maria Faber.42

In der religionspsychologischen Forschung hat die Schule von Luigi Rulla sowohl in der Grundlegung einer theoretischen Anthropologie der Berufung als auch in der Feldforschung einen wesentlichen Beitrag vor allem für die Klärung der Motivation, Schwierigkeiten und die Erstellung von Reifekriterien für geistliche Berufungen geleistet.43 Während in der psychologischen Forschung die Frage nach Reife und Eignung im Zentrum des Interesses steht, liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf den religiösen Erfahrungen und den Entscheidungsprozessen der einzelnen Probanden.

Katharina Kluitmann befasst sich empirisch-psychologisch mit der Situation junger Frauen in apostolisch-tätigen Ordensgemeinschaften in Deutschland.44 Die von ihr erhobenen Ergebnisse über psychologische Motivation, Schwierigkeiten und Herausforderungen der Ordensfrauen münden in eine Überlegung über die Berufungspastoral, die allerdings noch eher als Postulat formuliert ist und für eine Aufstellung von zuverlässigen Kriterien weiterer Vertiefung bedarf.45

Unter fremdsprachigen Forschungsbeiträgen sei auf Sandra M. Schneiders verwiesen, die aus US-amerikanischer Perspektive einen wesentlichen Beitrag zur Untersuchung der grundsätzlichen Verortung des Phänomens des geweihten Lebens in der nachkonziliaren Kirche leistet.46

Ute Leimgruber befasst sich aus der Genderperspektive mit dem Thema Frauenorden. Sie stellt anhand exemplarischer Frauengemeinschaften die historische Entwicklung von den Anfängen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar und stellt die Frage nach der Funktion und den Motiven von Frauenorden in der „zweiten Moderne“. Schließlich betrachtet Leimgruber den theologischen Ort der Frauenorden nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Licht aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen. Ausblickend erarbeitet sie pastoraltheologische Leitimpulse, die Frauenklöster als Lernorte der „Zeichen der Zeit“ für die Kirche heute propagieren.47

In den letzten Jahren verfolgten zwei Projektgruppen das Anliegen, die Reflexion über Ordenstheologie weiterzuführen. Besonders das Thema der (post)säkularen Gesellschaft, das vorher noch nicht bedacht wurde, rückt immer mehr ins Zentrum der Fragestellung nach dem Ort der Orden heute.48

Als Zeitdiagnostiker betrachtet Michael Hochschild die Orden unter den Bedingungen der Gegenwart. Er spricht 2005 von der Neuzeit der Orden49 und misst dem Ordensleben gerade in seiner veränderten Form, in seiner Pluriformität als geistlichem Zentrum für religiös Engagierte sowie Neugierige, große Bedeutung bei. Der Ordensmensch ist für ihn der „Himmelsstürmer“50, Orden charakterisieren sich als „Suchbewegungen des Heiligen.“51 Konkret befasst er sich aktuell mit dem benediktinischen Leben, in einer Studie über die Erneuerungsinitiativen in acht Männerklöstern, in der er die Begriffe der Biometrie und der elastischen Tradition prägt.52

Ein pastoralpraktischer Beitrag ist das Bändchen des freikirchlichen Pastors Dirk Fuisting „Berufung zur Ehelosigkeit. Eine seelsorgliche Hilfe für Singles?“53. Er wirft angesichts der steigenden Zahl von Alleinstehenden die Frage auf, ob die seelsorgliche Begleitung nicht eine Hilfe sein könnte, dass Menschen in ihrer Lebenssituation eine Berufung entdecken. Fuistings Argumentation wirkt im Einzelnen teilweise stark schematisierend. Zudem ist zu fragen, ob Singlesein und Ehelosigkeit um des Himmelreich willens so ohne Weiteres gleichzusetzen sind. Für die Mehrheit der Christen dürfte dies pastoral schwer vermittelbar sein.

Zusammenfassend soll noch einmal betont werden, dass das Ziel dieses Habilitationsprojektes eine Bestandsaufnahme aktueller Berufungsbiografien im deutschsprachigen Raum sowie deren Analyse ist. In dieser Form trifft die Studie auf ein Desiderat in der Pastoraltheologie im deutschen Sprachraum, deren Ertrag sowohl den Orden als auch der pastoralen Reflexion und Praxis Impulse geben zu können hofft.

2Zur Methode

In diesem Abschnitt werden methodische Vorüberlegungen zum Verhältnis von Theologie und Empirie angestellt und die soziologischen Methoden, die zum Forschungsdesign beitragen, sowie der Vorgang der Erhebung und Auswertung der Daten vorgestellt.

2.1Biografie in der empirischen Sozialforschung und Theologie

Das Herangehen der vorliegenden Arbeit ist eine phänomenologische Betrachtung des Berufungsweges junger Ordenschristen.54 Für die Exploration von Biografien zur Beschreibung existentieller innerer Vorgänge soll auf den philosophischen Ansatz der Neuen Phänomenologie zurückgegriffen werden.55 „Die Phänomenologie gewinnt ihre Eigenart als Forschungsrichtung durch die Tendenz, die Abstraktionsbasis der Begriffsbildung näher an die unwillkürliche Lebenserfahrung heranzulegen.“56

Im Vergleich zur älteren Phänomenologie Husserls arbeitet die Neue Phänomenologie ebenso deskriptiv, erhebt aber nicht den Anspruch der Apriorität,57 sondern zielt darauf ab, eine Vielfalt und Vieldeutigkeit von Perspektiven aufzuzeigen.58 Ihr Hauptvertreter Schmitz sieht „die unwillkürliche Lebenserfahrung [als] letzte Instanz für alle Rechtfertigung von Behauptungen.“59 Sie prägt Kriterien, die es erlauben, auch innere Vorgänge zu beschreiben und intersubjektiv zugänglich zu machen, z. B. die Kategorien der affektiven Betroffenheit.60 Eines ihrer Anliegen ist es, „mit scharfen, aber geschmeidigen Begriffen, die Betroffenheit der Besinnung zugänglich“61 zu machen. Auch Dimensionen des Räumlichen, die in den Beschreibungen der Probanden eine wichtige Rolle spielen, werden berücksichtigt.62 Somit gibt die Neue Phänomenologie ein für unsere Studie hilfreiches Interpretationsinstrumentarium an die Hand.

Die vorliegende qualitative Interviewstudie arbeitet induktiv, setzt also nicht bei einer Theorie, sondern am Einzelfall bzw. -phänomen an, und bewegt sich somit im Raum der empirischen Biografieforschung. Das Verhältnis von Theologie und empirischer Sozialforschung ist spannungsreich und wurde in der letzten Zeit mit erhöhter Aufmerksamkeit bedacht.63 Theologisch gesehen geht es um zwei Grundanliegen: das radikale Ernstnehmen der Biografie und die kairologische Suchbewegung nach der Gotteswirklichkeit in allem Geschehen.64

2.1.1Empirische Pastoraltheologie

In der Pastoraltheologie findet die empirische Forschung in den letzten Jahrzehnten verstärkt Beachtung.65 Dies liegt zum einen an der „anthropologischen Wende“ in der Theologie und der in der Pastoralkonstitution anvisierten verstärkten Konzentration auf die theologische Wahrnehmung der sichtbaren Wirklichkeit. In deren Folge wurden Konzepte entwickelt, welche die Pastoraltheologie als Handlungswissenschaft definierten.66 Andere Positionen setzen einen Schritt eher an und wollen Pastoraltheologie zunächst als Wahrnehmungswissenschaft verstanden wissen.67 Dabei richten sie eine erhöhte Aufmerksamkeit auf die Alltagswelt.68 Eine phänomenologisch orientierte Pastoraltheologie sucht „die Vieldeutigkeit und Offenheit von Erfahrungshorizonten“69 festzuhalten.

Zudem war in den Sozialwissenschaften eine verstärkte Hinwendung zur Empirie erfolgt, im Zuge derer methodische Grundlagen entstanden sind, mit denen die Theologie in unterschiedlicher Positionierung in Dialog treten kann.70

Johannes Först entwickelt eine theologische Methodologie des empirischen Umgangs mit religionsbezogenen Daten.71 In vier Thesen lassen sich seine grundlagentheoretischen Überlegungen zusammenfassen: Angesichts der Begrenztheit und Vorläufigkeit des Wissens befürwortet Först einen Ansatz, in dem sich Theologie und Empirie mit ihrem je eigenen Deutungshintergrund in einem gemeinsamen Diskurs den Problemen der Gegenwart zuwenden (These 1). Aus der theologischen Tradition bietet sich hierfür die analytische Tradition an, die eine sachgemäße Rezeption der Wirklichkeit als erstes methodisches Ziel postuliert (These 2). Der Sozialwissenschaft zu vermitteln, dass die Theologie, unter Einbehalt ihres spezifischen Blickwinkels, die Strukturen empirischen Forschens anerkennt, ist eine tragende Aufgabe. Hierbei kommt dem Forschungsdiskurs auch im Sinne einer gegenseitigen Kontrolle der Verständlichkeit der Hypothesen eine wichtige Rolle zu (These 3). Darüber hinaus ist der transzendente Denk- und Deuterahmen der Theologie zu berücksichtigen, so dass alle Empirie offen bleibt auf den weiteren, letzten, göttlichen Bezugsrahmen hin und somit auch offen gehalten werden muss für Heil, Rettung und Veränderung (These 4).72 Meines Erachtens ist es gerade die letzte These, die verstärkt der Beachtung und Reflexion bedarf. Denn hier stellt sich die Frage nach der Wahrnehmung dieses Bezugsrahmens.73

Eine Theologie, welche sich unter die Prämisse eines heilsgeschichtlichen Verständnisses stellt, nimmt das Wirken Gottes am und mit dem Menschen an. Der Blick auf den Menschen als Subjekt der empirischen Forschung ist der Blick auf einen Menschen, der sich als ein in Beziehung mit Gott stehender und so als Gerufener versteht. „In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1,15; 1 Tim 1,17) aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33,11; Joh 15,14-15) und verkehrt mit ihnen (vgl. Bar 3,38), um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen“ (DV 2). Die reformatorische Theologie fordert „die Rede vom Handeln Gottes als kritische Instanz“74 immer wieder ein. Daher geht es ihr auch um die „prinzipielle theologische Verhältnisbestimmung, um Religion als menschliches Handeln auf die klassisch theologische Rede vom ‚Handeln Gottes‘ zu beziehen.“75 Wenn es um das Erleben von Berufung geht, muss ein tastendes Suchen nach der Wahrnehmbarkeit Gottes, nach seiner Gegenwart in der menschlichen und erfahrbaren Wirklichkeit gewagt werden.76

2.1.2Biografieforschung

Die Biografieforschung ist ein Forschungsbereich, bei dem zum einen soziale (Lebenslaufforschung) und zum anderen individuelle Komponenten (Biografieforschung) stärker in den Vordergrund der Betrachtung rücken können,77 wobei sich hier eine Vielzahl an methodischen Ansätzen bzw. Forschungsintentionen nebeneinander finden.78 Es soll vorausgeschickt werden, dass für das Forschungsanliegen dieser Arbeit der strukturanalytische Blick auf Übergänge79 wie Krisen80 und besondere Zeiten81 von besonderem Interesse sein wird. Insa Fooken betont über übliche Etappen des Lebenslaufs hinausgehend die einschneidende Bedeutung von Lebensereignissen mit nicht-normativem Charakter.82 Erikson spricht von Identitätsentwicklung durch psychosoziale Krisen, welche für ihn normativen Charakter innehaben, d. h. typisiert werden. Im Gegensatz dazu findet sich hier ein Ansatz, welcher auf individuelle Erfahrungen und Schlüsselerlebnisse schaut, ohne diese normativ zu verstehen.83

Auf evangelischer Seite hat unter Henning Luther in seinem subjektbezogenen Ansatz die Biografieforschung als Geschichte der unverwechselbaren Einmaligkeit des Menschen bezeichnet, dessen autobiografische Selbstreflexion auch theologisch bedeutsam ist.84 Wilhelm Gräb betont die Bedeutung gelebter Religion als kommunikativen Tatbestand85 für die Untersuchung von Lebensgeschichten und befasst sich v. a. mit der religiösen Dimension der Alltagskultur, mit den „in den alltagsästhetischen Zeichen beschlossenen Symbolisierungen unserer normativen Lebensorientierungen.“86

Stephanie Klein erschloss in ihrer Dissertation die methodischen Zugänge zur Biografiearbeit an Glaubensgeschichten.87 Ihr Ansatz erfahrungsbezogener Theologie besagt etwas Entscheidendes für den Kontext dieser Arbeit: „Will die Theologie den gelebten Glauben reflektieren und Hilfen zur Praxisbewältigung für die Gläubigen geben, muß sie die Probleme der Gläubigen möglichst aktuell in ihrer Lebensgeschichte ins Auge fassen.“88

Klein verortet die theologische Biografiearbeit als entscheidenden methodischen Beitrag zur „Hinwendung zum konkreten Leben der Menschen und zum gelebten Glauben“89 theologisch in dem nachkonziliar in besonderer Weise rezipierten Schlagwort der Würde des Menschen. Daraus leitet sich die Bedeutung aller Christen als Glaubenssubjekte und Apostolatsträger, unter besonderer Beachtung der Armen (Befreiungstheologie) und der Frauen (feministische Theologie) ab.90 Der hier dargestellte Ansatz fordert das Wahr- und Ernstnehmen des Einzelnen seitens der Theologie zu Recht ein. Dabei fließt auch das Von-Gott-Her in die Reflexion mit ein: der Gehalt des erzählten und erfahrenen Glaubens als Ausdruck der immer schon sich in allem Menschlichen manifestierenden Heilsgeschichte Gottes mit dem Menschen. So ist das Geheimnis Gottes im Spiegel der konkreten Erfahrung entscheidend für den Blick auf das Phänomen von Berufung.

Als ihre beiden grundlegenden forschungspraktischen Verfahren benennt Klein den erzählanalytischen Ansatz von Fritz Schütze und den Ansatz der objektiven (später strukturalen) Hermeneutik von Ulrich Oevermann.91 Schützes Arbeiten verdanken sich die Beobachtung von Prozessstrukturen als Teil der kognitiven Figuren des autobiografischen Erzählens.92 Er unterscheidet drei Typen von Erzählstrukturen: kognitiv-formale Ordnungsprinzipien (Handlungs- und Ereignisträger, sozialer Rahmen, Ablauf), sprachlich-formale Strukturen (Ausdruck der erlebten Nähe) und erzählformale Strukturen (Logik des Erzählzusammenhangs).93

Oevermann unterscheidet zwei Textebenen: Auf der intentionalen Ebene geht es um die Realität des Textes, während auf der Ebene latenter Sinnstrukturen, einem nicht notwendig im Bewusstsein gelagerten Bereich, soziale Gebilde (Personen, Familien, soziale oder politische Institutionen) tragend sind. Letztere bilden wiederum sogenannte Fallstrukturen aus.94 Textebenen können durch die Erstellung einer Handlungsfolie, durch Sequenzanalyse und Feinanalyse unterschieden und einzelne Strukturtypen können eruiert werden.95

Auf eine weitere Entfaltung dieser beiden Ansätze soll an dieser Stelle verzichtet werden, da diese für die Methodik der vorliegenden Studie zu kleinschrittig vorgehen und daher nicht grundlegend sind. Dies Arbeit bezieht sich wesentlich auf Methoden mit dem Vorzug eines induktiven Vorgehens, deren Akzent stärker auf der Analyse inhaltlicher Kategorien und auf kommunikationstheoretischen Elementen der Gesprächssituation liegt (vgl. 2.2.1.).

2.1.3Narrative Identität

Der Begriff der narrativen Identität geht auf Paul Ricœur zurück, der ihn folgendermaßen beschreibt:

„Our life, when embraced in a single glance, appears to us as the field of constructive activity, borrowed from narrative understanding, by which we attempt to discover and not simply to impose from outside the narrative identity which constitutes us.“96

Ricœur macht deutlich, dass Biografie sich aus dem Vorgang der Erzählung generiert und Identität sich dynamisch aus der subjektiven Lebenserzählung konstituiert.97 Biografien sind wesentlich als soziale Konstrukte verstanden.

Die „formalen Schemata strukturieren die Erzählung tendenziell analog der faktischen Erfahrungsaufschichtung (biografische Gesamtformung). Was aber der erzählenden Person aufgrund ihrer faktischen Erfahrungsaufschichtung ins Bewußtsein kommt, wird durch die intentionale Erzählabsicht überarbeitet, die sich aus der aktuellen Gesprächssituation ergibt.“98 Die Komplexität der Erzählung ist bedingt aus der Erinnerungsleistung und der Situation des Gesprächs, hat also eine retrospektive und eine präsentische Komponente. Dies impliziert eine Unterscheidung verschiedener Ebenen in der Konstitution einer Erzählung.99

Corinna Dahlgrün macht darüber hinaus auf mehrere Faktoren aufmerksam, welche die Rekonstruktionen eines Narrativs beeinflussen:

„Deutlich ist, dass eine ‚objektive‘ Wahrheit der Erkenntnis nicht zugänglich ist, denn Erzählungen sind notwendig parteilich. (…)

Unabhängig von der Frage nach der Wahrheit einer Erzählung legen Menschen durch das – unvermeidliche – Auswählen der erlebten Eindrücke und ihrer Kontextualisierung, ihre Anordnung in einem Erzählzusammenhang, den kontingenten Ereignissen einen Sinn bei, (…)

wobei Erzähltraditionen einer Gesellschaft die Sinnzuweisung unterschiedlich stark prägen.“100

2.1.4Rezeption von Glaubensbiografien in Theologie und Soziologie

Im Umgang mit Glaubensbiografien, deren Ursprung in der Hagiografie oder in der christlichen Autobiografie liegt, die beide eine lange Tradition besitzen, steht häufig der prototypische Charakter sowie die Vorbildfunktion positiv im Vordergrund.101 Das Interesse Hagiografie ist es, Glaubensvorbilder zu zeichnen.102 Weniger das Individuum steht hier im Zentrum als vielmehr das Ideal, welches es repräsentiert. Martin Luther betont dagegen nicht so sehr ein festes Ideal, sondern vielmehr den Aspekt der Entwicklung: „Der Glaube des Menschen hat also darum eine Geschichte und eine Entwicklung, weil er ständig im Angesicht vielfältiger Erfahrungen und Anfechtungen sich zu bewähren hat.“103 Diese Vielfalt von Erfahrungen in den einmaligen Glaubensgeschichten von Menschen ist Gegenstand der Biografieforschung.

In der soziologischen Literatur hingegen findet sich der Bezug auf einen christlichen Lebenslauf wenig positiv konnotiert. Vielmehr sind dort – vielleicht etwas vorschnell generalisierend – Wertemuster postuliert, die kritisch eingefordert werden. So schreibt Rosenthal etwa in ihrer Abhandlung über Ordensleute: „Bei der Suche nach den Bedingungen, die es den Nonnen und Mönchen erschweren, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, stoßen wir – ähnlich wie bei Psychiatriepatientinnen – auf die fehlende individuelle Gestaltung der Lebensplanung. […] mit dem Eintritt verliert sie bzw. er an Individualität.“104 Diese Schwierigkeit ergab sich bei der vorliegenden Erhebung nicht. Im Gegenteil, die große Mehrheit der Probanden wies durchaus die Fähigkeit auf, ihre Lebensgeschichte im Grad einer hohen Dichte zu erzählen. Eine überraschende Beobachtung war, dass sich die beiden Probandinnen aus demselben kontemplativen Kloster als charakterlich höchst verschieden erwiesen und zugleich beide – obwohl ihr Lebensrhythmus äußerlich stark vorgegeben war – eine stark ausgeprägte Individualität zeigten (vgl. 12; 13).

Hans-Peter Müller setzt die Freiwilligkeit als konstitutives Kriterium für einen Lebensstil voraus.105 Er erkennt daher „aus traditionellen oder religiös vorgeschriebenen Stilisierungsweisen […] (Priester, Klosterangehörige, bäuerliche Trachten)“106 spricht, postuliert werden.108Lebensstil.